Das Sakrament der Verletzlichkeit

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

January 21, 2016

Mit:
Cynthia Bourgeault
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AUSGABE:
Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
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Über die Intimität mit einem lebendigen Kosmos

Der Weg spiritueller Entwicklung ist immer auch eine Vertiefung unserer Verbundenheit, unserer Intimität mit dem Leben. Wohin uns dieser Weg führen kann und wie er unser Verhältnis zu zwischenmenschlicher Intimität, Sexualität und einer allumfassenden Liebeskraft transformiert, beschreibt die moderne Mystikerin Cynthia Bourgeault in unserem Interview.

evolve: Was ist Intimität ?

Cynthia Bourgeault: In meiner eigenen Spiritualität haben sich in den letzten Jahren die größten Veränderungen in einem radikalen Wandel meines Verständnisses von Intimität gezeigt. Ich dachte immer, dass Intimität etwas ist, das erlebbar wird, wenn zwei Menschen, die miteinander verbunden sind, einander ihr Herz öffnen – mit anderen Worten, die Energie, die zwischen den beiden Polen hin- und herspringt. Ich sah es als eine Beziehungsenergie, die davon abhängig ist, dass man in Beziehung mit einem anderen Menschen ist. Deshalb ging in den früheren Jahren meines Lebens die Suche nach Intimität mit der Suche nach dem perfekten Partner einher.

Die traditionelle christliche Theologie geht davon aus, dass unsere natürliche Sehnsucht nach Intimität ihre Quelle und ihre letztendliche Erfüllung nur in Gott findet. Aber ich konnte nicht verstehen, wie das wirklich gelebt werden könnte, und suchte Intimität bei einem anderen Menschen. Mein spiritueller Lehrer Bruder Raphael Robin eröffnete mir, was Intimität wirklich bedeutet. Heute verstehe ich Intimität als das innewohnende Beziehungsfeld oder das energetische Feld des Herzens. Für mich ist Intimität eine angeborene Fähigkeit des menschlichen Herzens und nicht von einem Partner oder einer Partnerin abhängig. Durch Meditation und feinere Wahrnehmung können wir diese natürliche Fähigkeit entdecken, die uns innewohnt. Dann können wir mitfühlend nach außen gehen und alles in diese bewusste Verbundenheit einbeziehen. Wir können mit einer Katze, einem Baum oder einem Grashalm innig sein. Überall, wo sich unser Herz bewusst öffnet, ist Intimität das Ergebnis.

e: Viele von uns suchen Intimität in einer sexuellen Beziehung, in der Ehe oder in Paarbeziehungen; wie hängt diese Form von Intimität mit der umfassenderen Intimität zusammen, die Sie gerade beschrieben haben?

CB: Ich denke, der Zusammenhang ist sehr eng, weil wir viel zu viel von unserem geliebten Partner verlangen, wenn wir diese umfassendere Intimität nicht stabil erfahren. Denn die Liebe, das Sehnen, die Intimität, die das Herz fühlt, hat eine Dimension, die uns mit dem Unendlichen verbindet. Wenn wir unsere Sehnsucht auf jemand anderen richten, dann versuchen wir, etwas Unendliches in einem endlichen Wesen zu finden. Und das führt in einer Beziehung immer zu Verletzungen. Zumindest entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit und im schlimmsten Fall eine Art Vampirismus. Je mehr wir uns nach Intimität sehnen, umso mehr fordern wir von unserem Partner, dieses Unendliche zu sein – bis wir ihn ersticken. Ich würde nicht sagen, dass wir keine Beziehung beginnen sollten, bevor wir diese Intimität als eine natürliche Fähigkeit unseres eigenen Seins gefunden haben. Aber ich bin mir sicher, dass eine Beziehung angenehmer, liebevoller und problemloser sein wird, je mehr wir unsere spirituelle Arbeit vertiefen – die Entdeckung der wahren Quellen der Intimität.

In jeder Beziehung werden wir einen Punkt erreichen, wo wir wahrnehmen, dass wir nichts mehr aus ihr herauspressen können. Dann müssen beide Partner umkehren und Raum in der Beziehung schaffen, um das zu werden, was Rilke beschreibt als »zwei Einsame, die sich beschützen und berühren und miteinander reden«. Ich denke, das ist einer der wahren Gründe, warum eine Beziehung ein heiliger Weg ist, weil sie durch Übung und Unterstützung zum Heiligen führen kann. Und sie kann ein enormes Wachstum der Gelassenheit und des Vertrauens in eine der Welt innewohnende Fülle bewirken.

¬ SEXUALITÄT KANN IN IHRER TIEFSTEN FORM EIN SAKRAMENT DER INNIGKEIT SEIN. ¬

e: Wie sehen Sie die Rolle der Sexualität auf diesem Weg?

CB: Sexualität kann in ihrer tiefsten Form ein Sakrament der Innigkeit sein. Sie kann uns auf tiefste Art zeigen, was es bedeutet, sein Leben für einen anderen hinzugeben. Wir wollen uns so vollständig einem anderen Menschen hingeben, dass wir über die Sorge über das eigene Selbst hinausgehen. Ich denke, dieses Sehnen in der Sexualität ist das höchste gottgegebene Sakrament, um hingebungsvolle Liebe zu verstehen. Aber natürlich kommen wir nicht immer dorthin, weil dieses Geschenk mit anderen Dingen, wie reiner körperlicher Lust, mit Anhaften, Festhalten, Manipulation, Gewalt und Machtmissbrauch verbunden ist oder sein kann. Wir wissen viel mehr über den Missbrauch der Sexualität als über ihren heilsamen Ausdruck. Hier stehen wir vor der gewaltigen Aufgabe, die Sexualität wieder mit der tieferen Spiritualität zu vereinigen, damit wir lernen können, was es bedeutet, auf eine sakramentale Art zu lieben, wodurch wir den tiefsten Ausdruck eines sorgenden, hingebungsvollen Lebens finden können.

e: Was ist die besondere Rolle der Intimität im Zölibat und in zölibatären Beziehungen?

CB: Das Zölibat, wenn es wirklich als eine Möglichkeit zur Selbsterkenntnis gelebt wird, kann ein wunderbarer Weg sein, um diese natürliche Strahlkraft und unerschöpfliche Fülle des Herzens zu entdecken. Und wenn sich diese innere Erfahrung stabilisiert hat, können wir uns in die Welt hinaus bewegen und zutiefst innige und lebensspendende, nichtsexuelle Beziehungen mit anderen haben. Denn ein Menschen, der das Zölibat von ganzem Herzen lebt und die Liebe transformiert und wirklich diese Gabe der Intimität im Herzen verstanden hat, kann diese Innigkeit nach außen geben und auf andere ausstrahlen. Dann ist ein Teilen ohne Besitzansprüche und Verletzung von Grenzen möglich.

e: Auf welche Weise kann uns persönliche Intimität transformieren?

CB: Die größte Angst, die tiefste Wunde, die fast alle von uns als menschliche Wesen in sich tragen, ist ein verzweifeltes Gefühl von Einsamkeit und Mangel – wir spüren, dass wir irgendwie abgeschnitten und isoliert sind. Diese ursprüngliche Einsamkeit im menschlichen Dasein bringt alle möglichen Formen von Götzendienst und Gewalt hervor. Wir versuchen, zur Ganzheit zu gelangen, spüren aber die Verwundung durch diesen tiefen, tiefen Mangel. Intimität schafft dieses unmittelbare, wunderbare Gefühl von Fülle und Vertrauen. Dieses Gefühl der Fülle und die Ermächtigung als ein menschliches Wesen erlauben uns, dem Leben wirklich zu begegnen.

Als ich mit meinem Lehrer zusammen war und Intimität auf einer tiefen persönlichen und emotionalen Ebene erfuhr, fühlte ich mich gesehen und erkannt. Ich wurde völlig unterstützt und gehalten, nicht von jemandem, der über mir stand, wie in einer klassischen Lehrer-Schüler-Beziehung, sondern durch jemanden, der gleichzeitig auch seine eigene Verletzlichkeit trug. Wir wuchsen durch die geteilte Verletzlichkeit, unser Gefühl des gegenseitigen Vertrauens gab uns den Mut, uns den vielen emotionalen Narben zuzuwenden, die wir beide innerlich spürten. Durch diese tiefe Wahrnehmung, dass wir gesehen, erkannt und geliebt werden und dass wir uns nicht verstecken müssen, erhielten wir den Mut für diesen Weg. Ansonsten verstecken sich die meisten von uns, wir zeigen uns nicht. Wir verstecken uns, aber das bewahrt uns auch vor der Verletzlichkeit. Intimität durchschneidet diesen Teufelskreis unserer psychologischen Abwehr, damit wir das Sa­krament der Verletzlichkeit erfahren können.

e: In Ihren Texten über das Herzensgebet haben Sie über »das Herz als ein Organ der spirituellen Wahrnehmung« geschrieben, und da­rüber, dass wir »den Geist ins Herz bringen« können. Das fand ich sehr interessant, weil es auch die Intimität anspricht. Wie können wir dieses »Herz als ein Organ der spirituellen Wahrnehmung« kultivieren?

CB: Aus einer spirituellen Sichtweise betrachtet, besteht die natürliche Aufgabe und die Funktion des Herzens darin, zu sehen. Intimität ist der Modus, durch den das Herz sieht, weil es in die Dinge hineingeht, sich mit ihren Schwingungen verbindet und sie von innen erkennt. Aber diese Fähigkeiten des Herzens können nur entstehen, wenn das Herz von den Leidenschaften befreit wird. In der Tradition heißt es, dass Leidenschaften steckengebliebene Emotionen sind, verbunden mit einer Menge Drama, das sich um eine festgelegte Betrachtungsweise dreht. Nur wenn sich das Drama beruhigt und sich die emotionale Bedürftigkeit entspannt, bewegt sich das Herz natürlicherweise in diese Art von grenzenloser Intimität, die sehen kann, ohne zu verletzen.

In der spirituellen Praxis können wir lernen, durch diese Transformation zu gehen: Wir verstehen das Herz nicht mehr als Sitz unserer Emotionen, persönlichen Leidenschaften, Bedürftigkeiten und unseres Willens. Stattdessen erleben wir das Herz als umfassende transpersonale Quelle des Sehens und »Inter-Sehens« in Verbindung mit allem anderen.

Deshalb ist der Prozess der Kenosis oder der Nicht-Anhaftung im Christentum so wichtig. Wenn wir lernen, nicht anzuhaften und unsere Bedürftigkeit loszulassen, werden die Dinge, die wir loslassen, nicht einfach weggehen, sondern sie fallen in einen größeren, weiteren Kontext.

¬ EINE DER FRÜCHTE DER ENTWICKELTEN INTIMITÄT IST, DASS WIR DIE GANZE SCHÖPFUNG ALS EIN »DU« ANSPRECHEN. ¬

e: In der Meditation, wie sie in östlichen Traditionen gelehrt wird, versenken wir uns tief in eine ursprüngliche Freiheit des Bewusstseins; wir erkennen, dass wir nicht unsere Gedanken sind. Wir lösen die Identifikation damit, sodass wir eine tiefere Freiheit des Bewusstseins erfahren können. Was Sie beschreiben, ist ein ähnlicher Weg mit dem Herzen.

CB: Es ist derselbe Weg, der einzige wirkliche Unterschied zwischen den großen Traditionen des Ostens und dem westlichen Weg besteht darin, dass man bei dieser Lösung der Identifikation und beim Loslassen die Aufmerksamkeit auf die Empfindung des Herzens richtet. Wir bringen unsere Aufmerksamkeit zum Herzen – es ist kein Nachdenken über das Herz, sondern wir bringen unsere Bewusstheit in unser Herz und spüren unmittelbar dieses grenzenlose Feld der Intimität.

Das englische Wort für Bewusstsein »con-sciousness« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »zusammen-wissen«. Bewusstsein ist nicht dieses große, gewaltige »Es«, auf das wir zugreifen können. Durch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes wird ein Beziehungsfeld angesprochen – somit ist Intimität gleichbedeutend mit der natürlichen Schwingung des Bewusstseins.

e: Und eine alles-durchdringende Verbundenheit oder Einheit.

CB: Genau. Wenn unser Herz tief darin gründet, dann können wir diese strahlende Verbundenheit bewusst an alles weitergeben und sehen, wie es lebendig wird – an einen Felsen oder eine kleine Bohne, die sich im Garten durch die Erde kämpft. Wir entdecken, dass es eine der Erfahrungen ist, die uns zugänglich sind, weil wir in einem Feld von Bezogenheit geschaffen wurden.

e: Können Sie noch etwas mehr über den christlichen Ausdruck einer reifen Intimität durch die Beziehung zu Gott oder dem Göttlichen sagen?

CB: Eine der Früchte der entwickelten Intimität ist, dass wir den Kosmos und die ganze Schöpfung als ein »Du« ansprechen. Wir erkennen, dass der Kosmos kein »Es« ist, sondern ein »Du«. Wir können erkennen, dass sich alles tief und eindringlich allem anderen hingibt, wodurch diese all-umfassende »Du-heit« entsteht. Wir leben in einem Universum, das von der Präsenz eines zärtlichen, leidenschaftlichen und zusammenhängenden SEINS durchdrungen ist. Dieses SEIN ist weder beliebig noch gleichgültig. Das ist eine der großen Erkenntnisse einer reifen spirituellen Praxis. Wir wissen nicht, was es bedeutet, aber wir wissen, dass es einen Zusammenhang gibt, dass alles mit allen verwoben ist. Alles ist mit Sinn erfüllt, den unser Herz durch das Geschenk der Intimität verstehen kann.

Eine der wirklich aufregenden Einsichten einer inter-spirituellen Theologie ist die Entdeckung, dass der Zugang zu nondualen Bewusstseinszuständen nicht bedeutet, die Intimität aufzugeben. Es bedeutet lediglich, dass wir die Intimität nicht in der Subjekt-Objekt-Polarität suchen, sondern verstehen, dass alles, was lebt, sich bewegt und atmet, das Subjekt ist und in die göttliche Innigkeit eingebettet ist.

Es gibt ein bekanntes Zitat von Teilhard de Chardin, das ich sehr liebe: »Der Tag wird kommen, wo wir nach der Nutzung des Äthers, der Winde, der Gezeiten und der Gravitation für Gott die Energien der Liebe nutzbar machen werden. Und an diesem Tag wird der Mensch zum zweiten Mal in der Weltgeschichte das Feuer entdecken.« Und für Teilhard ist der einzige Weg, um die Liebe zu nutzen, sich ihr hinzugeben. Die Kraft, die er »Amorisierung« oder »Verliebung« nannte, sah er als nächsten Schritt unserer Evolution. Für Teilhard als zölibatären Jesuiten war es sehr wichtig, dass die sexuelle Energie transformiert und nicht genital ausagiert wird, damit diese große »Amorisierung« oder diese umfassende kosmische Intimität entstehen konnte. Seine grundlegende Vorstellung, dass transformierte sexuelle Energie zu Liebesenergie als evolutionäre Kraft werden kann, ist für spirituelle Sucher und für unseren Planeten eine zukunftsweisende Vision.

e: Diese Art von Liebe eröffnet eine völlig andere Dimension von Beziehung und Intimität mit der Welt, mit unserem Planeten, die auch eine neue Verantwortlichkeit für die Welt entstehen lässt.

CB: Ja, und wir brauchen mehr davon – egal, ob wir durch die Transformation der genitalen Sexualität dorthin gelangen – wie es das zölibatäre Modell beschreibt – oder durch eine vertiefende Spiritualisierung unserer menschlichen und körperlichen Beziehungen. Auf dem einen oder anderen Weg müssen wir den Durchbruch finden zu Altruismus und ungeteilter Liebe. Ich bezeichne das gerne als kosmische Intimität. Es ist die Fähigkeit, Güte, Mitgefühl, Stärkung und Sein zu empfangen und an andere weiterzugeben. Sie gründet tief in unserem wahren Selbst: Sie ist unser wahres Selbst in Aktion. Ich denke, Sie haben recht, das ist es, was die Welt dringend braucht. Die kulturelle Krankheit, die sich mit der Moderne einstellte, ist der Narzissmus, wir fühlen uns isoliert und als kleine Einheiten eingeschlossen, völlig aufs Private zurückgezogen. Wir spüren eine mangelnde Verbundenheit mit dieser universellen, bedingungslosen, kosmischen Intimität, die jeden mit einschließt. Wir müssen Wege finden, damit Menschen diese Erfahrung wieder machen können. Aber für Menschen, die sich nach dem einen geliebten Partner oder einer Partnerin sehnen – worüber wir am Anfang gesprochen haben –, ist einer der stärksten Wege, um diesen Frieden und diese Ganzheit zu finden, die Suche nach einem persönlichen Geliebten aufzugeben und – etwas pointiert ausgedrückt – stattdessen in einer Suppenküche zu arbeiten. Denn wir berühren diese Intimität, wenn wir uns mit dem Mitgefühl verbinden.

e: Vielleicht könnten wir sagen, dass der Fokus dann nicht nur auf der Intimität liegt, die ich will, sondern auf der Intimität, die die Welt braucht.

CB: Genau, und ich würde sagen: Verteilen wir unsere Zeit auf beides. Das eine tun, das unmittelbar vor uns ist, und dem anderen nicht nachtrauern. Selbst wenn wir in einer Beziehung sind, muss unsere Beziehung universell werden, damit sie heilig werden kann. Die Erfahrung der Heiligkeit und der innigen Zugehörigkeit, die aus dem Kosmos selbst zu uns kommt, kann manchmal ausreichen, um unser verzweifeltes Verlangen nach Beziehung zu stillen. Und dadurch können wir eine Weitung und Mäßigung erfahren, die gesunde Beziehungen erst möglich machen.

Author:
Stephan Guber
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