»Das Schweigen der Pflanzen«

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 21, 2016

Featuring:
Dr. Andreas Weber
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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Begegnung im Wesentlichen

Andreas Weber beschreibt manvielleicht am besten als »Poet der Biologie«. Wie kaum ein anderer kann er dieErfahrung, dass wir untrennbar in das Leben eingebettet sind, wachrufen undbewusst machen. Für ihn ist es aber nicht nur ein Schritt in eine neueEmpfindsamkeit, sondern ein politischer Akt einer radikalen Liebe zum Leben.

 

evolve: Siehaben gerade ein neues Buch mit dem Titel »Enlivenment: Eine Kultur des Lebens«herausgebracht. Was verstehen Sie unter Enlivenment?

Andreas Weber: Den Begriff »Enlivenment«hat Heike Löschmann von der Böll-Stiftung geprägt. Das Wort ist eine Substantiv-Bildungaus dem englischen Wort »to enliven«, was so viel wie »verlebendigen« heißt.Das Interessante an diesem Wort ist, dass es auf Englisch schon den Begriff»Enlightenment« gibt, was im Deutschen Aufklärung bedeutet. Die Aufklärung istdie Zeit, in der wir gelernt haben, unsere Ratio zu gebrauchen, um uns als rationale Wesen aus den Zwängen dogmatischer Beherrschung zu emanzipieren. DieAufklärung hat uns viele essenzielle Freiheiten geschenkt, aber zugleich zur Kontrolle durch das Rationale und zum heutigen Neo-Liberalismus geführt.Insofern geht es bei Enlivenment um eine neue Aufklärung, welche nicht nur dieEmanzipation des denkenden, sondern auch die des fühlenden Menschen und allerLebewesen zum Ziel hat. Ich glaube, wir brauchen heute die Hinwendung auf dasverkörperte Leben, das immer auch ein Leben in Verbundenheit mit anderen Wesenist.

e: Ein positiver Wert der Aufklärung ist unsere Individuation. Sie führt aber auchzu einer Abgrenzung, in der ich als getrennter, individuierter Mensch zur Verteidigungmeiner Freiheit die Kontrolle brauche. Daraus hat sich eine ganze Weltsichtentwickelt: Alles wird aus dieser getrennten Ichhaftigkeit verstanden. Wo gibtes für Sie den Schritt einer Weiterführung der Aufklärung, der auf dieseSituation antwortet?

AW: Wenn es in der Philosophie um Subjekte geht, dann ist immer der Mensch gemeint, andere Lebewesen sind philosophisch gesehen eigentlich keine Subjekte. So entsteht immer eineAbtrennung. Die Philosophen haben es geschafft, die Idee eines Subjektes zuformulieren, ohne zu bedenken, dass natürlich jeder Mensch von seinem Beginnals Embryo an als ein Körper lebt, der aus einem anderen menschlichen Körpergeboren wird. Und um überhaupt erst zu einem Subjekt werden zu können, brauchtes den Blick einer Bezugsperson. Es braucht einen Blick aus echten Augen, dieihm vermitteln: »Du bist da, ich sehe Dich, ich will, dass Du bist.«

e: Ummich als Individuum wahrzunehmen, brauche ich den Blick des anderen.Wahrnehmung ist also mehr als denkerische Wahrnehmung, sondern schließt dieseBezogenheit und empfindende Wahrnehmung mit ein.

Die empfindende Wahrnehmung ist der Schlüssel zu einem poetischen Sein in der Welt.

AW: Ja, die empfindende Wahrnehmung isteigentlich der Schlüssel zu einem neuen, man könnte sagen, poetischen Sein inder Welt. Denn als Lebewesen fühlen wir zu allererst und drücken uns im Fühlenaus. Dadurch sind wir für andere wahrnehmbar, lesbar. Alle Lebewesen könneneinander auf irgendeine Weise verstehen, weil wir selber leben. Auch dasentfernteste Lebewesen können wir durch unsere eigene empfindende undverletzliche Lebendigkeit verstehen. Wir können uns natürlich mit einerHeuschrecke nicht über Nietzsche unterhalten und auch nicht über die bestenPlätze zur Eiablage. Aber wir können uns darüber verständigen, wie es uns geht.Zumindest können wir verstehen, wie es dieser Heuschrecke geht: Wenn wir sehen,wie sie im Sonnenlicht auf einem Brennnesselbusch sitzt und zirpt, indem siedie Flügel aneinander reibt, dann wissen wir, es geht ihr jetzt gut. Aber wennjemand auf das Tier tritt, wissen wir, dass es ihm elendiglich schlecht gehtund das fühlen wir auch ein bisschen in unserem eigenen Körper. Wir wissen,dass der Schmerz dieses Insekts echt ist, weil wir ihn fühlen können. Zu behaupten, dieser Schmerz sei nur eine Projektion, verbietet uns, ihn zufühlen.

Diese grundsätzliche Verbundenheit gibt es, weil wir alle Lebewesen sind. JedesLebewesen wird geboren und irgendwann sterben – und es möchte nicht sterben, eswill leben. Das ist sozusagen die fundamentale, objektive Konstellation, ausder heraus alles um uns herum Bedeutung gewinnt. Aber diese Verbundenheitspüren wir nur durch den Körper, nicht philosophisch als abstraktes Subjekt.

Wenn Pflanzen sprechen

e: Was Sie da von der Verständigung mit allen Lebewesen sagen, kommt ganz harmlosdaher. Aber eigentlich sagen Sie etwas ganz Ungeheuerliches oder zumindest sehrUngewohntes: Nämlich, dass wir uns mit allen Lebewesen verständigen können.Wenn wir den Gedankengang ernst nehmen, dann stellt uns das ja vor eine riesigeHerausforderung in unserer Wahrnehmung der Welt.

AW: Ich freue mich, dass Sie denumstürzlerischen Gehalt dieser Perspektive wahrnehmen. Aber eigentlich ist unsdiese Sicht der Welt auch sehr vertraut. Wenn wir geboren werden, sind wir aufemotionaler und körperlicher Ebene extrem verbindungsfähig. Wir wollen unsereLebendigkeit, unsere spürende Subjektivität aus uns entfalten, indem wir mit anderer spürender Subjektivität in Verbindung gehen. Das macht jedes Lebewesen,auch ein kleiner Mensch. Deshalb reagieren Kinder so intensiv auf andereLebewesen. Sie krabbeln auf sie zu, fassen sie an. Es ist eine Kernfähigkeit,um uns selbst verstehen zu können, dass wir unsere Lebendigkeit in Bezug zuanderer Lebendigkeit setzen. Diese Fähigkeit erziehen wir uns aber ab. Unsere Gesellschaft nimmt eine Kolonialisierung unseres subjektiven und damitintersubjektiven Empfindens vor, indem wir erklärt bekommen, dass es nicht umdas Fühlen geht, sondern um das Rechthaben. Damit fangen oft schon die Elternan, aber in der Schule wird das natürlich sehr weit getrieben. Es geht nur nochum gute Noten und am Ende haben die Kinder verlernt, der eigenen Wahrnehmung zuvertrauen. Daraus entsteht ein gesellschaftliches, aber auch noch ein vielfundamentaleres Problem. Wenn wir unserer Wahrnehmung nicht vertrauen, dannbefinden wir uns in einer schweren psychologischen Störung. Das nennt man»double bind« und bedeutet, wir wissen eigentlich etwas, tun aber das Gegenteil.

e: Worin liegt für Sie der Ausweg aus dieser psychologischen Störung?

Wir sind verkörperte Subjekte, die nur durch Beziehung entstehen.

AW: Ich spreche gern davon, dass wireine »poetische Objektivität« entwickeln müssen. Wisława Szymborska schreibt inihrem Gedicht »Das Schweigen der Pflanzen« an die Pflanzen gerichtet: »Unswürden die Themen nicht ausgehen, weil so viel uns verbindet – derselbe Sternhält uns in Reichweite, wir werfen Schatten nach den gleichen Gesetzen, wirbeide versuchen, wenigstens etwas zu wissen, jede in ihrer Art und selbst indem, was wir nicht wissen, liegt eine Ähnlichkeit.« Das ist poetischeObjektivität, die einen anrührt, ohne dass man genau versteht, warum. DasPoetische ist die Fähigkeit, sich einzufühlen, anrühren zu lassen, und dasObjektive deutet darauf hin, dass alle Lebewesen unter den gleichenVoraussetzungen existieren. Und deshalb können wir uns in alle Lebeweseneinfühlen. Das Problem ist aber, dass wir diese Quelle des Verstehensvollkommen erstickt haben. Wir haben sie komplett trockengelegt; es gilt alssentimentale Einbildung, weil wir im Grunde Maschinen sind, die ihre Genebestmöglich weitergeben wollen. Du kannst gern Gedichte darüber schreiben, aberwenn es wirklich um etwas geht – Bruttoinlandsprodukt, Arbeitsplätze oderwichtige Politik – dann ist das alles sentimentaler Quatsch. Aber es ist ebenkein sentimentaler Quatsch, sondern es geht hier um das Leben auf diesemPlaneten, in diesem Kosmos. Wenn wir erklären, das sei alles Quatsch, das seialles unwichtig, dann empfinden wir das nicht mehr. Dann wird das allesQuatsch, den man vernichten darf, weil er eigentlich gar nicht existiert. Unddiesen Weg gehen wir gerade.

Kolonialisierung des Lebendigen

e: Wir haben unsere Quellen von Verstehen radikal auf mentale Prozesse verkürzt. WennSie sagen,»etwas rührt mich an«, dann deuten Sie darauf hin, dass darin schoneine Form des Verstehens liegt.

AW: Das haben Sie gut gehört. Und Siesagen es so, dass ich mich jetzt hier in diesem Gespräch durch Sie selber einStückchen besser verstehe. Dieses Angerührt-Sein ist eigentlich eine Grundvoraussetzung unserer Existenz. Bereits der gegenseitige Austausch in dersinnlichen Wahrnehmung ist ein In-Beziehung-Gehen. Selbst wenn wir uns einbilden, die Welt sei mechanistisch, getrennt oder leblos, können wir dieserErfahrung nicht aus dem Weg gehen. Wir können sie aber leugnen, kasernieren,abwerten oder ersticken. Das ist genauso wie mit Gefühlen, die kann man auchnicht abschalten, sondern nur verdrängen.

e: Wobei es uns bis zu einem gewissen Grad ganz gut gelingt, das zu vermeiden. Allerdings mit all den Konsequenzen, die wir psychologisch, wirtschaftlich undsozial-ökologisch dafür hinnehmen müssen.

AW: Ich würde sagen, es gelingt auchdeswegen so gut, weil wir uns Nischen schaffen, in denen wir noch wirklich seindürfen. Und dann gibt es natürlich die Möglichkeit, sich mit der nächstenrauschhaften Injektion des Konsums die tiefere Sehnsucht wegzuspritzen. Aberdas hält nur eine gewisse Zeit.

Was wir heute in der Welt sehen, ist zum großen Teil auch eine Reaktion auf dasVerschwinden von Lebendigkeit. Das sehen wir zum Beispiel auch an denzunehmenden ­fundamentalistischen ­Strömungen, seien sie nun islamistisch odervölkisch-nationalistisch. Das sind Reaktionen von Menschen, die nicht mehr ­Subjekte-in-Verbindungsein können. Und diese Not ist real und sie ist legitim. Darauf reagieren aberviele Menschen nicht mit klugem Augenmaß, strategischer Rationalität oderMilde, sondern mit Panik, uninformiert, emotional und durch unser falsches Bildder Wirklichkeit verblendet, und dann fallen sie den Propheten des Bösen in dieHände.

Kürzlich fragte mich ein guter Bekannter und Umweltphilosoph, wieso es eigentlich immernoch keine Öko-Terroristen gebe? Ich dachte darüber nach und kam zu demSchluss, dass wir eigentlich nur Öko-Terroristen sehen. Die nennen sich bloßnicht so, sondern handeln im Namen von irgendeinem totalitären Wahnsinn. Aberwenn wir diesen totalitären Wahnsinn zurückverfolgen, dann finden wir immer Menschen, die entwurzelt sind, die nicht mithalten können, die keine Arbeithaben, die von unseren Konsumdrogengesellschaften längst liegen gelassenwurden. Und das hängt mit einer Kolonialisierung des Lebendigen durch dieRationalität der ökonomischen Maschine zusammen. Das ist aber unfassbar gefährlich, weil Lebendigkeit nicht zum Verschwinden gebracht werden kann, siesucht sich immer ihren eigenen Weg, auch wenn dieser tragisch, suizidal oder mörderisch ist.

e: Wiewürde sich unsere Gesellschaft verändern, wenn diese Kultur der Verlebendigung,die Sie beschreiben, wirklich in ein gesellschaftliches Gewahrsein kommt?

AW: Das ist eine gute Frage, auf dieich aber nicht mit einem strategischen Modell antworten kann. Ich habe da zweiAntworten: Die eine lautet, dass wir das nicht absehen können, und auch garnicht absehen dürfen. Hier geht es um ein Loslassen, um sich im Vertrauen zuöffnen. Es ist etwas, das sich zeigt, wenn wir unserem Herzen wieder Raum gebenund gleichzeitig unsere Schmerzen ernst nehmen.

Zum Zweiten aber sehe ich eine praktische Richtung, in die es gehen könnte. Das istdie »Commons-Ökonomie« oder »Allmende«. Sie bietet ein Modell für das Endeeiner unkontrolliert arbeitenden, rein auf Effizienz und Profit orientiertenWirtschaft. Wir müssen vielleicht zunächst regional und lokal mit einemWirtschaften beginnen, welches das Seelenleben und die Befindlichkeit derTeilhabenden nicht von dem, womit gewirtschaftet wird, trennt. Allmende istkeine Betriebsform, sondern ein Modell der Beteiligung oder sogar Teilhabe. Indiesem Modell wird Wirtschaft zur Beziehung und das wäre ein politisch formulierbares Ziel. In Wahrheit organisiert sich alles, was lebt, inAllmenden. Nur macht unsere Sicht der Wirklichkeit sie unsichtbar. DieAllmenden, in denen wir leben, heißen Familie, Beziehung, Nachbarschaft,Ehrenamt. Oder es sind neue Allmenden wie Internet, Computer oder Wikipedia.Auch die Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens, die ich händeringendbefürworte, wäre eine Art, die Allmende zu etablieren und Gesellschaft als Commons zu verstehen.

Die Art von Wirtschaft, die glaubt, dass die Steigerung von Umsatz und Effizienzdas metaphysische Geheimnis der Wirklichkeit sei, müssen wir überwinden. Siegeht dem Selbst-Sein durch Verbundenheit konträr entgegen. Wir müssenWirtschaft wieder als In-Beziehung-treten verstehen und nicht als abstrakteSteigerung des jeweiligen gegenseitigen Nutz- und Mehrwertes. Wirtschaft istkein materieller Austausch, sondern eigentlich eine Art Stoffwechsel, der jaauch immer ein In-Beziehung-treten ist.

Stimme der Wirklichkeit

e: Wiekönnen wir dieses Selbst-Sein in Verbundenheit wieder einüben?

AW: Wir sind verkörperte Subjekte, dienur durch Beziehung entstehen. Wenn wir versuchen wollen, einen neuen Modus desExistierens zu finden, müssen wir eine Praxis des Seins entwickeln. Wir könnenes in jedem Augenblick mit uns selbst üben und der Stimme der Wirklichkeitfolgen. Jeder hat diese Stimme in sich, denn jeder ist Teil der Wirklichkeit –materiell, ganz konkret. Wenn wir auf sie horchen, hören wir auf, uns zuverstellen. Das ist ein irrsinniges Abenteuer, denn wenn wir diese Verdrängungverlassen und uns ganz zeigen, betreten wir seelisches und gemeinschaftlichesNeuland. Aber in einer Welt, in der diese Verdrängung des Lebendigeninstitutionalisiert ist, wird dieser Schritt sofort auch politisch. Gestattenwir uns, wirklich zu sein und uns nicht mehr zu belügen über das, was wir alslebendig oder tötend empfinden, können wir mit bestimmten Dingen nicht mehrmitgehen, wenn diese für uns nicht mehr stimmen, weil wir es anders fühlen undeine tiefe Solidarität mit allen Lebewesen empfinden.

Es wird uns freilich nicht gelingen, mit dem Instrumentarium desIndustriezeitalters zu designen, wie wir es besser machen können. DiesesInstrumentarium basiert auf der systematischen Verleugnung der Wirklichkeit,die sich zeigt, weil wir sie fühlend und existenziell erfassen. Der ersteSchritt ist also, dass wir uns wieder das eigene Fühlen erlauben. Dass wir unszumindest auf die Suche danach begeben. Wer diese Suche beginnt, egal wie oftsie scheitert, wer sagt, »Ab jetzt will ich wahr sein«, der ist schon auf derSeite des Lebens. Wer dem Leben folgt, der ist immer im Leben, ganz gleich, wieviel Schmerz dabei sein wird. Wer auf der Seite des Lebens ist, der will auchdem anderen sein Fühlen erlauben. Das ist schon eine Revolution an sich: Dass ich mich zeige und dich sehen möchte, wie du wirklich bist. Es ist ein Zulassendes Anderen im Dienste der Lebendigkeit.

Wenn ich die Erfahrung des »Lebendigkeit sei« so groß werden lasse, dass meineIndividualität kleiner wird, dann kann es zu einem schöpferischen Erfolgführen. Das Geschenk der eigenen Individualität an das Ganze bewirkt Schöpfungund dann sind wir auf der Seite des Schöpferischen. Wir machen uns die Sacheder schöpferischen Entfaltung zu eigen. Und das geht auch nicht ohne Tränen undfolgt keinem Programm, die Realisierung gebiert sich aus dem Genius desAugenblicks, so wie in einem guten Gespräch. Es taucht auf und ist nicht bestellbar, sondern vielmehr eine Gnade – vielleicht die Gnade, aus der herauswir überhaupt existieren.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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