Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 23, 2023
Claudine Nierth und Roman Huber, Vorstände der bekannten Nichtregierungsorganisation Mehr Demokratie, haben ein Plädoyer für ein Update der demokratischen Kultur geschrieben. Sie nennen ihre Vision eine »Demokratie der Zuneigung«, mit der sie dazu beitragen wollen, den Boden für einen fruchtbaren Dialog über wichtige gesellschaftliche Themen zu bereiten.
Nierth und Huber gehen von der verbreiteten Beobachtung einer vielfach gespaltenen Gesellschaft aus, in welcher sich die Dysfunktionalitäten der heutigen Politik etwa in Form von Schwarz-weiß-Denken, dem Drang des politischen Personals zu Selbstdarstellung wie auch zu »Faktenverschlucken« zugunsten der Parteiraison äußern. Ihre Diagnose und damit die beiden Kernthesen des Buches lauten: »Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen äußeren Konflikten und inneren Abläufen.« Wenn beides nicht in einem »gesunden Flow« ist, entstehen Konflikte, bis hin zu Spaltung. Und »Die innere Auseinandersetzung mit den äußeren Herausforderungen muss politisch und von öffentlichem Interesse werden!« Auf dieser Grundlage plädieren Nierth und Huber für ein »Update, vielleicht sogar ein neues Betriebssystem« der Politik, das Innenräume und Außenräume verbindet.
Die beiden Autoren gehen von der Einsicht aus, dass jedes politische Handeln von Emotionen und unerfüllten Bedürfnissen geprägt ist. Die wiederum können – vom Verhalten anderer getriggert – automatisierte Reaktionen und Verhaltensmuster hervorbringen, die dann mehr dem Selbstschutz als der Lösung konkreter Probleme dienen. Wird dies nicht bewusst und transparent gemacht und idealerweise aufgelöst, führt es fast zwangsläufig zu Spannungen und Konflikten.
»Jedes politische Handeln ist von Emotionen und unerfüllten Bedürfnissen geprägt.«
Gerade in unseren heutigen Gesellschaften so verbreitete Phänomene wie Vereinzelung und Politikverdrossenheit, Polarisierung und die mit ihr zum Teil einhergehende Verhärtung politischer Sichtweisen und Positionen haben ihre Ursache häufig weniger in Sachfragen. Vielmehr speisen sie sich aus tieferen, nicht gesehenen/erfüllten Bedürfnissen, unaufgeräumten inneren Konflikten und ungeklärten Emotionen wie z. B. »Angst, Neid, Gier, Egoismus, Eitelkeit, Sturheit, Geltungsdrang«. Es ist mithin ein Markenzeichen unser politics as usual, dass derlei Emotionen nicht beachtet, teilweise nicht einmal wahrgenommen und erst recht nicht konstruktiv bearbeitet werden. Stattdessen werden sie nach außen projiziert und dann in Form von Vorwürfen und politischen oder persönlichen Angriffen beim politischen Gegner abgeladen.
Ein zentraler Begriff im Buch ist der des Traumas als einem besonders wirkmächtigen Komplex politisch wirksamer emotionaler Belastungen. Nierth und Huber verwenden den Begriff recht breit und beziehen dabei sowohl persönliche als auch intergenerationale Traumata mit ein. In ihrem Verständnis entsteht Trauma immer dann, wenn eine Erfahrung gemacht wird, die den normalen Verarbeitungsprozess überfordert (»zu viel, zu schnell, zu plötzlich«). Dies kann durch überwältigende Ereignisse oder Lebenskrisen ausgelöst werden, in denen es keinen oder keinen angemessen geschützten und unterstützenden Raum gibt, um die betreffenden Erlebnisse integrierend zu verarbeiten.
Es ist ein Verdienst des Buches von Claudine Nierth und Roman Huber, diese Zusammenhänge überaus einfach und in für Laien verständlicher Weise zu erklären. Hierzu tragen nicht zuletzt zahlreiche persönliche Erfahrungen und Anekdoten wie auch mehrere Kästen mit praktischen Tipps und Übungen bei, zum Beispiel, um zu erkunden, wo man selbst möglicherweise durch eigene Traumaerfahrungen getriggert wird. Die politische Relevanz traumatischer Erfahrungen wird zusätzlich durch kurze Exkurse in die Geschichte verschiedener Länder verdeutlicht, wie etwa der DDR, der USA, Chinas und Indiens, sowie einen Blick auf das Erbe des Kolonialismus.
Für die Autoren könnte gerade eine emotional bewusstere und kompetentere demokratische Kultur an ihren Herausforderungen wachsen. Wörtlich schreiben beide Autoren: »›Mehr Demokratie‹ wünscht sich einen Wechsel auf die nächste Ebene.« Es brauche »eine Grunderneuerung, in der eine fühlende Verbindung mit allem Sein oberste Maxime wird und der Außenraum als Spiegel des Innenraums interpretiert wird.«
Die zerrissene Gesellschaft
So überwinden wir gesellschaftliche Spaltung im neuen Krisenzeitalter Claudine Nierth und Roman Huber. Erschienen bei Goldmann. 272 Seiten, 18 €