Den Boden bereiten für den Dialog

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Essay
Publiziert am:

November 5, 2018

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Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Integration als evolutionäres Übungsfeld

Das Thema Integration spaltet das Land immer mehr in Befürworter und Gegner. Wie können wir in solch einem spannungsreichen gesellschaftlichen Umfeld Schritte zu einem Dialog über politische Fronten hinaus finden?

In anderen europäischen Ländern und in den USA zeichnete es sich schon länger ab. Doch spätestens mit den aktuellen, SPD-ähnlichen Zustimmungswerten von mehr als 16 % für die AfD (Ende August) sieht sich jetzt auch Deutschland mit einem ernstzunehmenden, nationalpopulistischen Bevölkerungsanteil konfrontiert. Die damit aufkommende, gewaltbereite Unruhe im Land sollte die anderen gesellschaftlichen Kräfte dringend dazu veranlassen, sich zumindest mit dem gesprächswilligen und gemäßigten Teil dieser ultrarechten Bewegung eingehender auseinanderzusetzen.

Für einen derartigen Dialog müsste zunächst eine gemeinsame inhaltliche Plattform gefunden werden. In den USA ist derzeit nicht einmal diese Mindestvoraussetzung ersichtlich. Aufgrund der starren Zweiparteienstruktur stehen sich zwei konträre Weltanschauungen hasserfüllt und fast unversöhnlich gegenüber. In Deutschland mit seiner flexibleren Parteienlandschaft scheint dieser Dialog noch möglich. Andererseits jedoch fand ich in den USA einen neuen Ansatz, der Einzelnen dabei helfen kann und soll, zur innergesellschaftlichen Gesprächsbereitschaft beizutragen. Es ist eine innere Arbeit, ein »subtiler Aktivismus«, der äußeres Engagement ergänzt.

Im Folgenden ein Blick darauf, was in Deutschland wie auch in den USA unter den jeweiligen Bedingungen möglich scheint. Hierzulande konstatieren Beobachter einerseits eine vorherrschend linksliberale, rational aufgeklärte Beziehung zum eigenen Land. Deren Repräsentanten argumentieren vor allem mit nüchternen Zahlen, relevant ist für sie die rein faktische Einschätzung der sozialen und ökonomischen Möglichkeiten, sie fordern im Prinzip unbegrenzte Liberalität und Toleranz, es gilt das Primat der unbedingten Gleichheit aller Bewohner dieses und der anderen betroffenen Länder. Dem eigenen Land gegenüber gilt es allerdings besonders kritisch zu sein. Ein Extrem dieser Haltung wäre z. B. die Antifa.

Zugleich aber entstehen in den letzten Jahren zunehmend rechte Anschauungen, von wertkonservativ bis verschwörungsorientiert. Deren Vertreter betrachten den Reichtum und die Tradition des eigenen Landes wie auch der gesamten »westlich-abendländischen Kultur« durch zu viele Immigranten als bedroht, sie wollen für sich bleiben, werten fremde Kultureinflüsse im Land als eher negativ. Extreme sind z. B. Neo-Nazis.

Beide Seiten haben ein Körnchen Wahrheit – und beide weisen verhängnisvolle blinde Flecken auf. Zusammengefasst könnte man beiden etwa antworten: Ja, Länder sind auch Sozialgemeinschaften mit jeweils unterschiedlichem ökonomischen und sozialen Kapital. Wenn dabei ein vergleichsweise reiches Land wie Deutschland den zu ihnen kommenden Bewohnern aus ärmeren und unsicheren Regionen helfen will, ist das im Prinzip eine gute Sache. Aber: Länder sind eben nicht nur beliebige Sozialgemeinschaften, sondern sie haben wie ein Einzelner einen jeweils einzigartigen, sich entwickelnden Erfahrungskern. Die äußere Gestalt dieser Tiefen-Identität ist nicht festgeschrieben, sie formiert sich historisch immer wieder neu (das Wilhelminische Deutschland etwa hatte ganz andere Werte und Ausdrucksformen als die moderne Bundesrepublik). Letztlich sind weder gemeinsame Traditionen, nicht einmal eine einzige Sprache (siehe Schweiz) nötig, um die Essenz, das seelische Feld eines Landes zu definieren. Ebenso wenig braucht es heute ein gemeinsames genetisches Erbe oder eine unveränderliche Grenzziehung. Das heißt, jeder, dem die aktuellen Werte und Aufgaben eines Landes innerlich entsprechen oder der ihnen zumindest zustimmt, kann dessen Mitglied werden. Daraus folgt aber auch, dass jemand hier nicht willkommen ist, der diese spezifischen seelischen Qualitäten, so wie sie sich in ihrer äußeren Form etwa im Grundgesetz ausdrücken, ablehnt oder dem sie offenkundig gleichgültig sind.

Eine Haltung dieser Art müsste natürlich näher definiert werden. Sie könnte jedoch eine gemeinsame Ausgangsplattform zumindest für die Gesprächs- und Lernwilligen des rechten wie des progressiven Lagers bieten. 

Länder sind nicht nur beliebige Sozialgemeinschaften, sondern sie haben einen einzigartigen, sich entwickelnden Erfahrungskern.

Soweit die Vision. Doch klingt es realistisch, dass sich genügend Politiker in absehbarer Zeit auf diese subtile, man könnte fast sagen »spirituelle« Ebene einlassen? Hier liegt möglicherweise eine neue Verantwortung für die Zivilgesellschaft und das Engagement von Einzelnen und Netzwerken. Denn ein integrales Denken berücksichtigt den gewachsenen Einfluß, den wir heute als Einzelne auf äußeres Geschehen nehmen können. Der amerikanische Bewusstseinsforscher Ken Wilber schätzt, dass bereits 10 % der Bewohner eines Landes, die von einer tieferen Ebene aus an einer Weiterentwicklung der Gesellschaft arbeiten, einen Wandel herbeiführen können. In den USA gibt es Vordenker, die dieses ko-evolutionäre Potenzial für eine gesunde Weiterentwicklung der Gesellschaft ansprechen. Es ist ein »subtiler Aktivismus«, der aber keineswegs aktives Handeln, Wahlbeteiligung, Demonstrationen etc. ersetzen soll, sondern diesem Handeln eine meist fehlende Tiefendimension hinzufügt. 

David Spangler, ein ehemaliger Berater der Findhorn-Gemeinschaft in Schottland, führt z. B. seit Jahren virtuelle Workshops durch, bei denen sich die Teilnehmer auf den Ausgang von bevorstehenden Wahlen und wichtigen politischen Entscheidungen konzentrieren. Es geht dabei nicht um eine einfache Parteinahme, sondern um die Entstehung eines integralen, d. h. alle Beteiligten berücksichtigenden Feldes. Spangler beschreibt diesen Einfluß des Individuums auf die Gesellschaft mit folgendem Beispiel: »In meinem Denken, Gefühl und meinen körperlichen Empfindungen bin ich auch ein Fraktal des eigenen Landes. Will ich dessen evolutionäre Weiterentwicklung unterstützen, dann erfülle ich mein ›fraktales Landesfeld‹ mit Empfindungen und Qualitäten der Integration, Verbundenheit, des Lichts, aber auch der positiven Differenzierung. Ich denke dabei nicht nur an diese Qualitäten, ich muss sie in meinem Körper fühlen, in meinem Geist und in meinen Emotionen. Ich bitte das seelische Feld meines Landes als meinen Partner, diese Qualitäten mit mir zu teilen.« 

Ken Wilber führt das Wiedererstarken von Nationalismus und anderen historisch überholten Ansätzen auf einen bisher versäumten Evolutionsschritt zurück. Das Festhalten an der Postmoderne führe zum Beispiel zu falsch verstandener Toleranz und Political Correctness. Was stattdessen anliegt, ist differenziertes Urteilen und Handeln aus eigener seelischer Wahrheit, das auch die tieferen Dimensionen unseres Zusammenlebens berührt – im Zeitalter von Fake News ohnehin fast die einzige Alternative! Ein genaueres und unterscheidendes Hinsehen bei der derzeitigen Integrationsfrage könnte sich jedenfalls als evolutionäres Übungsfeld erweisen. Als ein sehr reales.

Author:
Wolfgang Aurose
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