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Otto Scharmer ist mit seiner Theorie U und dem Aufbau des Presencing Institute einer der Pioniere in der Erforschung sozialer Felder. Er arbeitet zusammen mit der Künstlerin und Meditationslehrerin Arawana Hayashi an der Entwicklung einer neuen Kunstform: Social Presencing Theater, einer Methode der gemeinsamen Wahrnehmung und Entwicklung von sozialen Feldern. Wir sprachen mit den beiden, dem Vordenker und der Künstlerin, darüber, wie soziale Felder sinnvoll und wirksam zu »beackern« sind.
evolve: Könnt ihr zu Beginn eure Arbeit mit dem Social Presencing Theater beschreiben?
Arawana Hayashi: Social Presencing Theater basiert auf der Arbeit mit Social Presencing, das man als eine Form von Achtsamkeit beschreiben kann – als Fähigkeit, gewahr zu werden, präsent zu sein, in sanfter Weise aufmerksam zu sein. Es berücksichtigt zudem ein umfassenderes Gewahrwerden der Kreativität, die aus dem Raum der Gruppe entsteht. Es gibt eine Kreativität oder Innovation, die aus einem Erleben von Stille und Weite entsteht, statt nur eine Wiederholung oder eine bessere Version von etwas zu sein, das in der Vergangenheit geschehen ist. Presencing geht mit dem Empfinden einher, dass etwas neu entsteht, das nicht so stark von vergangenen Erfahrungen konditioniert ist. Eine Qualität, zu der wir kollektiv Zugang finden können und die auf Weisheit und Mitgefühl beruht – den Prinzipien, die durch die Achtsamkeitsübung kultiviert werden.
»Theater« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass diese Qualität oder Dynamik sichtbar gemacht wird, weil wir mit dem sozialen Körper arbeiten. Der Körper ist sichtbar, die Beziehungen zwischen den Körpern sind sichtbar, die Entscheidungen, die wir in unseren Aktivitäten treffen, sind sichtbar. Theater deutet also auf eine Aktivität hin, in der etwas Bedeutsames sichtbar gemacht wird. Das Anliegen dieser Arbeit besteht darin, dass wir für Individuen, für eine Gruppe oder ein System einen Raum bieten, in dem wir die unmittelbar empfundene Qualität des Wandels spüren, durch den diese Gruppe oder das System gehen kann – hoffentlich von einer Erfahrung des Steckenbleibens, der Verhaftung in Konventionen und konzeptuellen Hindernissen in einen Raum hinein, der frischer und offener ist und mehr Möglichkeiten enthält.
Der soziale Körper
e: Du hast über den Raum zwischen den Menschen gesprochen. Was ist dieser Raum oder dieses Feld?
AH: Ich möchte diese Frage mit Bezug auf unseren Ansatz der drei Körper beantworten. Die drei Körper beziehen sich auf unser Körper-Geist-System, das nicht nur aus dem Verstand besteht, sondern ein fühlendes, spürendes Organ jedes Menschen ist. Der erste Körper ist unser physischer Leib. Der zweite Leib, dem wir innewohnen, ist unser Planet, der »Erd-Körper«. Als Drittes gibt es den sozialen Körper, die Gesamtheit unserer Beziehungen. Gruppen und Gesellschaften sind Lebewesen, die eine Form von Verkörperung und ein je eigenes Gewahrsein haben.
Otto Scharmer: Der soziale Körper ist von diesen drei Körpern derjenige, der am schwierigsten sichtbar ist. Dieser soziale Körper stand immer im Mittelpunkt meines Interesses. Einer der Vordenker, der meine Augen dafür geöffnet hat, war Joseph Beuys mit seiner Idee der Sozialen Plastik. In der Reflexion über seinen Lehrer Wilhelm Lehmbruck und dessen plastische Prinzipien, die er in seiner Arbeit erkannt hatte, wendete Beuys diese Prinzipien vom Raum auf die Zeit an und bezeichnete sie als Soziale Skulptur, die sich in einem Zeit-Raum entfaltet.
Wenn wir die Zeit tiefgreifender Veränderung und Disruption betrachten, in der wir heute leben, wird eine Zeitform immer wichtiger: die gerade erst entstehende Zukunft, die »emerging future«. In einer kontinuierlichen, normalen Umgebung ist die Zukunft oft nur eine Modifikation der Vergangenheit. Aber wenn wir mit tiefgreifenden, disruptiven Veränderungen umgehen müssen, wird die Zukunft per Definition anders sein als die Vergangenheit. Deshalb werden wir Menschen durch Situationen herausgefordert, in denen wir die Fähigkeit entwickeln müssen, uns dem zuzuwenden, was noch nicht ist, was erst im Entstehen begriffen ist. Das ist eine zutiefst kreative Fähigkeit, aber nicht nur als ein individueller Ausdruck von Kreativität, sondern auch auf sozialer und kollektiver Ebene.
»Das soziale Feld entsteht aus der Qualität der Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Organisationen.«
Das Social Presencing Theater, das Arawana maßgeblich entwickelt hat, ist eine Verbindung aus drei Elementen: Erstens basiert es auf Achtsamkeit, was in diesem Fall bedeutet, das System dazu zu bringen, sich selbst zu sehen, indem man den Sehstrahl des Gewahrwerdens zu seiner Quelle zurückwendet. Der zweite Aspekt ist sozialwissenschaftliches Theater, weil wir die tieferen Strukturen von sozialen Systemen methodisch untersuchen. Und das dritte Element ist die Aufstellungsarbeit, wie sie von Bert Hellinger vermittelt und in vielfacher Weise weitergeführt wurde.
Unser besonderes Interesse ist hierbei die Fähigkeit, sich dem zuzuwenden, was noch nicht manifest ist. In Bezug auf die praktische Arbeit mit Organisationen, großen Unternehmen, Regierungen und Gruppen aus verschiedenen Interessenvertretern hat sich das Social Presencing Theater als sehr wirksam erwiesen, um Systeme im Prozess des Wandels vom Ego-Bewusstsein zum Öko-Bewusstsein zu unterstützen. Kurz gesagt, meint Ego hier eine fragmentierte, auf getrennte Denksilos bezogene und Öko eine verbundene, systemische Sicht der Dinge.
Eines der größten Probleme heute ist die Lücke zwischen Wissen und Handeln: Wir wissen viel über die 17 Nachhaltigkeitsziele und darüber, was an den ökologischen und sozialen Bedingungen unserer Zeit geschehen muss. Aber trotzdem sind wir nicht in der Lage, dieses Wissen in einen Wandel des kollektiven Verhaltens zu überführen. Wir glauben, dass der Grund für diese Lücke zwischen Wissen und Handeln darin besteht, dass wir die »Hand« und den »Kopf« berücksichtigen, aber nicht das »Herz«. Das bedeutet, dass sich Systeme nicht nur selbst sehen müssen, sie müssen sich spüren. Wir sind überzeugt, dass der Schlüssel zur kollektiven Kreativität darin besteht, auf der Ebene der Systeme Mitgefühl zu erfahren. Das Social Presencing Theater erlaubt uns, diese Erfahrung von Mitgefühl in einer praktischen kollektiven Erfahrung zu verwurzeln.
AH: Kreativität wohnt jedem Menschen inne und ebenso diese Sehnsucht nach einer guten Situation, einem guten Leben, einer guten Welt, aber oft sind wir damit nicht in Verbindung. Es ist ein kollektiver Wille, der mit unserer Fürsorge füreinander, für den Planeten, den wir bewohnen, und die Gesellschaft, in der wir leben, in Beziehung steht.
Der Boden des sozialen Feldes
e: Otto, du hast betont, dass es besonders schwer ist, sich des sozialen Körpers bzw. des sozialen Feldes bewusst zu sein. Aber in eurer Arbeit geht es nicht nur darum, sich dieses sozialen Körpers bewusst zu werden, sondern auch darum, dass der soziale Körper ein Teil des Prozesses der Bewusstwerdung ist. Das Social Presencing Theater ist auch wie ein kollektiver Wahrnehmungsprozess. Würdet ihr dem zustimmen?
OS: Ja, absolut, du hast es sehr schön beschrieben. Das ist der Kernprozess, der sich ereignet, wenn man die tieferen Ebenen der kollektiven Wahrnehmungserfahrung erforscht. Das soziale Feld entsteht aus der Qualität der Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Organisationen, die Muster des Sprechens, Denkens und Handelns entstehen lassen, die ihrerseits praktische Ergebnisse generieren.
»Es gibt eine Kreativität oder Innovation, die aus einem Erleben von Stille und Weite entsteht.«
Ich bin auf einem biologisch-dynamischen Bauernhof groß geworden und meine Eltern sprachen oft über die Qualität des Bodens, denn das war ihr größtes Kapital, die Grundbedingung für alles, was wächst. Diese Grundvoraussetzung für das Wachsen, der Boden, liegt im Verborgenen. Beim sozialen Feld ist es genauso: Es ist die verborgene Grundbedingung, die diese Muster des Sprechens, Denkens und Handelns ermöglicht. Der Zustand dieses Bodens des sozialen Feldes wird durch die Qualität der Beziehungen bestimmt. Und das ist oftmals ein blinder Fleck der Aufmerksamkeit, der auch in der traditionellen Systemtheorie meist übersehen wird. Mit dem Social Presencing Theater bringen wir diesen blinden Fleck in die Mitte unserer Aufmerksamkeit und erforschen ihn. Wir machen ihn sichtbar und untersuchen ihn aus verschiedenen Blickwinkeln, um archetypische Muster dafür zu finden, wie soziale Felder im gegenwärtigen Zustand von Kapitalismus und Demokratie steckenbleiben und wie man sie befreien und evolutionär weiterentwickeln kann.
AH: Ich nähere mich diesen Fragen mit den Mitteln der sozialen Kunst. Man könnte sagen, dass die Kunst den Wert einer Kultur enthält und auch die Werte einer Kultur formt. Verschiedene Kunstformen vermitteln ein Verstehen davon, was es bedeutet, auf unserem Planeten ein Mensch in Beziehung zu anderen Menschen zu sein. Dabei erforschen wir die unmittelbare Wahrnehmung unserer Erfahrung, aus der Kreativität entsteht. Was ist der Prozess, der zu einem kollektiven Moment der Innovation führt, in dem wir bemerken: »Ah, das ist der Moment einer kreativen Erfahrung!«? Und wie finden wir in Gruppen die Freiheit, uns daraus in eine neue Richtung zu bewegen? Traditionell wurde dies in den performativen Künsten durch Improvisation möglich, wie sie etwa Jazz-Musiker praktizieren. Ihre Aufgabe besteht darin, kollektiv dem Geschehen zuzuhören und aus diesem Prozess heraus ihre eigene Kreativität zu öffnen.
Bei unserer Arbeit geht es nicht so sehr darum, psychologisch zu untersuchen, wie wir in diese festgefahrene Situation geraten sind, sondern vielmehr darum, die persönlichen und kollektiven Mechanismen der Unterdrückung und der Verwirrung, die in jedem von uns und in der Gemeinschaft leben, anzuerkennen. Und wir erkennen auch die grundlegende Güte, Vernunft, Stärke und Intelligenz an, die in jedem Einzelnen und in der Gemeinschaft vorhanden sind. In meiner Arbeit möchte ich mich nicht ständig mit unseren persönlichen und kulturellen Fehlern und Mängeln beschäftigen. Wir können stattdessen ehrlich und von ganzem Herzen anerkennen, dass all dies ein Teil des Bodens ist, aus dem etwas Neues werden kann. So können wir als Menschen zu der Erde werden, aus der die Kreativität entsteht.
Mein eigener Hintergrund ist eine Verbindung von performativer Kunst und Meditationspraxis. Meditation nicht als ein bestimmter religiöser Ausdruck, sondern eine Erfahrung, eine Vergegenwärtigung des Nichts, des Urgrundes unserer menschlichen Erfahrung. Aus diesem Hintergrund kommt eine große Wertschätzung dafür, was es heißt, ein Mensch zu sein – einschließlich des tiefen Schmerzes und der tiefen Freude des Menschseins. Darum ging es immer beim Theater und das trifft auch auf das Social Presencing Theater zu.
Die soziale Intelligenz
e: Interessant an eurer Zusammenarbeit finde ich, dass ihr verschiedene Formen von Intelligenz repräsentiert: eine intuitive und eine intellektuelle Intelligenz. Denn die Erkenntnis der sozialen Verbundenheit, so wichtig sie sein mag, ist nur die intellektuelle Repräsentation von etwas. Aber ihr scheint diese intellektuelle Repräsentation aufzunehmen und tiefer in die direkte Wahrnehmung der sozialen Sphäre als eines lebendigen Körpers zu gehen. Dafür braucht man eine unmittelbare intuitive Beziehung mit dieser sozialen Sphäre. Eure Kooperation und die Arbeit mit verschiedenen Formen von Intelligenz schafft ein neues soziales Verstehen dafür, wie wir mit sozialen Interventionen arbeiten und soziale Transformation gestalten können.
»Gruppen und Gesellschaften sind Lebewesen, die eine Form von Verkörperung und ein Gewahrsein haben.«
OS: Ich denke, das trifft zu und wir tun dies auch bewusst. Du hast es intellektuelle und intuitive Intelligenz genannt, aber man könnte es auch als analytisch und intuitiv oder als Verstand und Vernunft bezeichnen. Aus evolutionärer Sicht ist der analytische Verstand eine bestimmte Stufe der Entwicklung des menschlichen Geistes und es gibt auch andere Fähigkeiten des Geistes und des Herzens, die wir entwickeln und aktivieren können. Im Presencing Institute arbeiten wir mit den Aspekten des offenen Geistes, des offenen Herzens und des offenen Willens. Dabei bezeichnen wir nicht einen davon als Intellekt, denn in allen liegt eine Intelligenz, die nötig ist, um Zugang zum Wissen des Feldes zu erhalten.
In all unseren grundlegenden Aktivitäten arbeiten wir mit vier verschiedenen Ebenen des Zuhörens, die sich zeigen, wenn wir den inneren Ort, aus dem wir handeln, verändern. Um wirklich den sozialen Körper erforschen zu können, müssen wir den Ort wechseln, aus dem unsere Aufmerksamkeit kommt. In der dritten und vierten Ebene des Zuhörens, die wir als empathisches und generatives oder schöpferisches Zuhören bezeichnen, kommt das Zuhören aus dem Feld, aus dem sozialen Körper.
Im Presencing Institute erklären wir die Herausforderungen, vor denen wir stehen, oft mittels des ökologischen, sozialen und spirituellen Abgrunds, vor dem wir stehen. Der soziale Abgrund zeigt sich in unserer heutigen Form des Kapitalismus. Der ökologische Abgrund zeigt sich in der Umweltzerstörung, derer wir mehr und mehr gewahr werden. Heute erkennen wir zunehmend den spirituellen Abgrund, der auch mit den Entwicklungen der künstlichen Intelligenz zu tun hat. Die Krise, in der wir uns befinden, entstand durch die unbeabsichtigten Wirkungen der Technik auf die äußere Natur im letzten Jahrhundert (ökologische Krise) und durch die unbeabsichtigte Wirkung der Technik auf unsere innere Natur in diesem Jahrhundert (spirituelle Krise). Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert und kann viel effektiver durch Maschinen erledigt werden. Aber was bleibt dann übrig?
Wenn es in der Zukunft einen Platz für uns gibt, dann hat dies nicht nur damit zu tun, diese künstliche Intelligenz zu verfeinern, sondern uns mit der vertikalen Entwicklung vertraut zu machen. Dazu gehört auch ein Wandel des inneren Standpunkts von einem Handeln aus der eigenen Person und dem eigenen Verstand zu einer Verankerung des Fühlens und Wollens im sozialen Feld, im sozialen Körper, von dem wir ein Teil sind.
Das Gespräch führte Elizabeth Debold für die Ausgabe 22/2019 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org
»Der Schlüssel zur kollektiven Kreativität besteht darin, auf der Ebene der Systeme Mitgefühl zu erleben.«
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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