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Vivian Dittmar zeigt in ihrer Arbeit und in ihren Büchern, dass die Entwicklung unseres Fühlens, Denkens und unserer Beziehungen ein wesentlicher Beitrag zu einer bewussteren Gesellschaft ist. Wir sprachen mit ihr über den Weg zu innerer Reife und ihren Ausdruck in unserem Handeln für die Welt.
evolve: Gibt es so etwas wie eine Entwicklung unserer Gefühle, gibt es auch reifere Gefühle?
Vivian Dittmar: Es gibt jedenfalls einen Evolutionsprozess des Fühlens. Zuerst, am Beginn jedes Lebens stehen vor allem körperliche Empfindungen, Berührung, Wärme, Kälte. Aber auch unsere Triebe beginnen sich zu entwickeln. Hunger, Durst, Ekel, auch die sexuelle Lust – das sind eigentlich Reiz-Reaktionsmuster. Als Kinder lernen wir in komplexeren sozialen Strukturen zu leben. Ab einem gewissen Alter entwickeln wir auch die Fähigkeit, manche Gefühle bewusst zu erzeugen, wir beginnen sie zu steuern. Unsere Gefühle werden dann auch so etwas wie soziale Kräfte. Und etwas Wesentliches, das wir mit den Jahren lernen, ist das Vermeiden von Schmerz. Wenn wir beginnen, Kontrolle über unsere Beziehungen auszuüben, entstehen dadurch neue, eigene Emotionen. In dieser Entwicklungsstufe entsteht das Ego, so wie wir es jetzt kennen, und mit ihm eine Form des emotionalen Leidens, das ursprünglich aus der Schmerzvermeidung entsteht.
Wir schwanken oft zwischen den biologischen Trieben und unseren Emotionen. Selten erleben wir reine Gefühle wie Angst, Wut oder Freude. Mit der Entwicklung der Emotionen und unseres Egos wird das Leid häufig immer größer, und dieses Leiden führt uns zu der Notwendigkeit, neue Fähigkeiten und Bewusstseinszustände zu entwickeln. Erst an diesem Punkt entwickeln wir zum Beispiel wirkliche Liebesfähigkeit, die mehr ist als biologische Verliebtheit oder Mutter- bzw. Vaterliebe. Erst mit dieser Liebesfähigkeit sehe ich den ganzen Menschen mit Licht- und Schattenseiten und kann all das umarmen und in mein Herz schließen. Auch die Fähigkeit zu Vertrauen, Hingabe und Dankbarkeit entwickelt sich erst in diesem Entwicklungsschritt – hier entsteht emotionale Reife. Wenn wir diese Fähigkeiten und Bewusstseinszustände entwickeln, verringert sich unser Leid. Und umgekehrt ist es auch so, dass wir diese Bewusstseinszustände durch die Heilung unserer Emotionen entwickeln. In diesem Prozess verändert sich auch unser Ich-Erleben. Zunächst wird es durchlässiger und flexibler, dann eröffnet sich zunehmend ein transpersonales Erleben.
DIE TRANSRATIONALEN IMPULSE KOMMEN OFT AUS EINER GROSSEN SCHLICHTHEIT.
e: Du sagst, dass die Gefühle, die wir fühlen, meist keine reinen Gefühle sind. Wenn wir diese neuen Bewusstseinszustände entwickeln, von denen du sprichst, fühlen wir dann auch unsere Gefühle neu?
VD: Ja, das ist wirklich ein spannender Punkt. Ab einer gewissen Stufe werden sie neu integriert. Unsere körperlichen Empfindungen, unsere Triebregungen und unsere Gefühle sind ja immer noch da. Aber im Prozess der Auflösung unseres Egos wird unser emotionaler Rucksack aufgeräumt. Es entsteht eine Ruhe und Gelassenheit, in der wir diese Beziehungskräfte in ihrem lichten Aspekt gut einsetzen können. Wir können zum Beispiel mit einer gesunden Wut in Kontakt gehen. Ich schaue vielleicht in die Welt und sehe, was passiert, und dann kommt ein Impuls, der möglicherweise auch transpersonal ist, getragen von Weisheit und Verbundenheit. Hier kann eine gesunde Wut dazu führen, dass ich mich für die Abschaffung von Atomwaffen oder für Klimaschutz oder für Aufforstung einsetze.
Vom Prärationalen ins Transrationale
e: Du sprichst auch von einem möglichen neuen integrierten Denken, Denken ist ja mehr als Ratio. Du unterscheidest verschiedene Disziplinen des Denkens, die wir zusammenbringen müssen. Was sind das für Disziplinen, was ist dieses neue Denken?
VD: Ich spreche von Intuition, Inspiration, Herzintelligenz, von der Ratio, und von unserer Absicht. Wenn diese Instanzen in uns gut zusammenarbeiten, dann entsteht in uns nämlich so etwas wie ein »inneres Navi«, auf das wir uns wirklich verlassen können. Ich spreche hier von einem transpersonalen Erleben, wo es den Anschein hat, dass wir nicht einfach Entscheidungen treffen, sondern dass Entscheidungen geschehen. Es ist wie eine Bewegung, die aus dem Leben selbst geschieht.
Bei unseren Gefühlen und bei unseren Gedanken gibt es eine analoge Entwicklung vom Prärationalen über den rein rationalen Bereich ins Transrationale. Denn bevor wir unsere Rationalität entwickeln, erleben wir bereits Intuitionen und Inspiration. Es gibt auch bereits eine Intelligenz des Herzens. Aber das alles lebt in einer vor allem magischen Welt mit ihren Trieb- und Machtimpulsen. Durch die Ausbildung unserer Ratio schneiden sich viele Menschen komplett von ihren Gefühlen, von ihrer Intuition und ihrem Herzen ab. Das ist Teil der Sinnkrise, die ich in unserer Kultur erlebe. Wir erleben uns nicht mehr als angebunden.
ES GIBT EINE GLEICHZEITIGKEIT DER GRUNDLEGENDEN EINHEIT UND UNSERES JE INDIVIDUELLEN SEINS.
Aus dieser Krise entsteht heute der Impuls zur Entwicklung der transrationalen Disziplinen, neuer Formen der Inspiration, Intuition, Herzintelligenz, aber auch der Absicht. Viele Menschen verstehen aber nicht, dass das eine Weiterentwicklung ist und kein Weg zurück, denn hier kommt es oft zur Versuchung, ins Prärationale zurückzufallen. Man sieht das häufig in der esoterischen Szene. Alles ist magisch, alles ist Wunder und überall sind Fügungen.
Aber das Transrationale ist ein Reifungsprozess. Das Transrationale ist nicht irrational. Das Transrationale ist oft abstrakt, nonverbal, undramatisch. Wir müssen hier auch ganz viel Bedeutung loslassen. Diese transrationalen Impulse kommen oft aus einer großen Schlichtheit. Auf der Ebene des Egos und im Prärationalen gibt es immer ganz viel Bedeutung, Drama und Wichtigkeit. Im Transrationalen verschwindet das zunehmend. Dinge geschehen – Impulse und Ideen kommen, das Herz spricht.
Es braucht dafür einen Reifungsprozess, auch auf der emotionalen Ebene. Wir können keinen Zugang zu einem transrationalen Denken bekommen, das sich über das Spüren zeigt, ohne emotional aufzuräumen. Unsere Traumata führen zu Taubheit, unsere Emotionen führen oft zu innerem Chaos und Drama. Alles wird sehr laut und wild oder ist total verstopft. Transrationales Spüren ist fein und subtil. Es würde unter dieser Taubheitsschicht oder den wüsten Wogen des Dramas verloren gehen. Deshalb braucht es diesen Reifungsprozess, deshalb ist es so wichtig, dass wir auf der emotionalen Ebene aufräumen.
In Verbindung bleiben
e: Und dadurch können sich auch unsere Beziehungen neu entfalten.
VD: Wir leben Beziehungen sehr stark aus der Illusion, getrennt zu sein, wir leben sie in Konkurrenz, im Gegeneinander und mit einer Hierarchie im Sinne einer »Macht über andere«. Aber es gibt heute eine Sehnsucht nach einer Verbindung miteinander, jenseits künstlicher Machtgefälle zum Beispiel zwischen Frau und Mann. Natürlich konfrontiert uns das mit allen Emotionen und Traumata, die sich angesammelt haben. Wenn wir in bewussten Augenblicken wissen, dass der Grund dafür unsere eigenen emotionalen Päckchen sind und nicht der andere, dann ist ein wichtiger Schritt getan. Dann können wir auch in schwierigen Momenten in Verbindung bleiben. Hier wird Heilung möglich, denn für Heilung brauchen wir Mitgefühl und Anteilnahme. Wenn wir in der Lage sind, das einander zu schenken, dann wird Beziehung selbst zu einem Heilungsraum. Dann kann auch hier die Öffnung ins Transpersonale entstehen, wo das Bewusstsein dafür, dass wir Ausdruck von einem Leben sind, so stark und klar ist, dass nichts, was sich durch den anderen äußert, letztlich als Bedrohung empfunden wird. Hier entsteht Vertrauen. Nicht nur das Ego kann sich auflösen, auch die Beziehung. Was bleibt, ist sich beziehen, als Verb, nicht als Substantiv.
e: Wir erfahren uns hier als Teil des Lebens, bezogen und verbunden. Auch unsere Intelligenzen, Gefühle und Bewusstseinsfähigkeiten sind ja keine isolierte, abgekapselte Prozesse, sondern immer eigentlich Verbundenheitsprozesse mit Menschen, mit anderen Lebewesen, mit dem Kosmos, mit der Natur, oder?
VD: Ja, und dabei gibt es eine Gleichzeitigkeit dieser grundlegenden Einheit und unseres je individuellen Seins. Dem Verstand erscheint es als Widerspruch, aber das Herz kann begreifen, dass sich das Leben in diesem Spiel von Polaritäten ausdrückt. Deswegen können du und ich widersprüchliche Impulse oder Eingebungen haben und auch diese Spannung ist Teil des Ganzen. Es entsteht eine Lücke, wo wir nicht wissen, wie es zusammenkommen kann, und auch diese Konflikte sind Teil einer größeren Ordnung.
Wir haben persönlich wie kollektiv sehr negative Konflikterfahrungen, weil Konflikte in der Vergangenheit oft zu Gewalt geführt haben. Sobald ein Konflikt auftaucht, geraten die meisten Menschen in eine Art Panik oder Taubheit oder sie sind gar nicht mehr da. Durch den Heilungsprozess, über den wir gesprochen haben, lernen wir dazubleiben, und dieser Lücke und diesem Nicht-Wissen in Offenheit und Neugier zu begegnen. Hier wird die Angstkraft zu einer positiven Kraft, in der so ein Kribbeln entsteht, weil es auch pure Kreativität und pures Potenzial ist. Wenn wir diese Lücke halten können, dableiben und spüren, dann machen wir ganz neue Erfahrungen. Wir können als erwachsene Menschen auch mit nicht erfüllten Bedürfnissen leben, wir können auch in Beziehungen mit ungelösten Konflikten leben. Wir können mit dem Nicht-Wissen leben, ob wir jemals eine Lösung finden werden. Wir können es gemeinsam halten, hüten und mit Neugier beobachten, wie es sich bewegen wird. Nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern auch in Teams, in Arbeitsbeziehungen, in Freundschaften, in der Familie kann dadurch ein gemeinsames Lauschen und eine Neugier entstehen: »Ah, das ist ja interessant, dass das überhaupt nicht zusammenpasst, erzähl mir mehr von deiner Welt.« So zeigen sich durch Inspiration und Intuition oft ganz neue Lösungen.
Das reife Herz
e: Auch die Welt als Ganzes braucht diese Reife?
VD: Die erste Antwort, die für mich hier auftaucht, ist: Sie braucht die Reife, die wir haben. Viele Menschen befinden sich in einer Sinnkrise. Das ist ein Zeichen dafür, dass möglicherweise ein Schritt in eine neue Reife ansteht. Für diesen Schritt erlebe ich die Herzintelligenz als ganz zentral. Das Herz, so wie ich es verstehe, ist unser Organ für Sinn und eine kulturunabhängige Ethik. Das Herz hütet das Wahre, Gute und Schöne. Es weiß unmittelbar und ohne Begründung, ob etwas gut ist. Die Gabe des Herzens ist ein ganz wichtiger Kompass für Sinn und die Heilung des Menschen und auch der Welt.
In unserem Kulturkreis haben wir uns sehr von der Herzintelligenz entfernt. Sie wird belächelt. Berufe, die die stärkste Herzintelligenz brauchen, werden am schlechtesten bezahlt. Menschen, die aus ihrem Herzen handeln, werden oft zynisch als Gutmenschen belächelt. Der Zynismus ist bei uns salonfähiger als die Herzintelligenz. Der Homo oeconomicus hat ja per Definition kein Herz, er handelt immer streng rational, immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Natürlich leiden wir darunter, weil wir alle ein Herz haben. Aber wir haben auch gelernt, nicht darauf zu hören. Zudem ist bei vielen Menschen das Herz verwundet. Wenn sie beginnen, ihr Herz zu spüren, dann spüren sie zunächst den Schmerz. Eben weil das Herz das Organ für Sinn, für das Wahre, Gute und Schöne ist, spüren wir einen tiefen Schmerz, dass die Welt so anders ist als die Welt, von der unser Herz weiß, dass sie möglich ist, wie es Charles Eisenstein formuliert.
DAS HERZ HÜTET DAS WAHRE, GUTE UND SCHÖNE.
Wenn dieser Schmerz in unserem Herzen brennt, wird aber auch ein Raum freigebrannt. Das gebrochene Herz bricht auf. Wenn wir beginnen, uns dem Herzen zuzuwenden, es durch Schönheit, Musik, Natur, Zeit mit lieben Menschen und Zuwendung nähren, dann heilt und reift das Herz. Ein reifes Herz hat eine ganz eigene Medizin für die Hässlichkeit der Welt: Mitgefühl in Aktion, also Mitgefühl, das aktiv werden will, das handeln will. Es gibt aber auch Menschen mit einem sehr großen Herzen, die oft nur viel Schmerz empfinden, vor allem, wenn das Herz groß, aber noch nicht reif ist. Es leidet und geht dabei oft in große Dramen. Das reife Herz findet eine Anbindung an die innere Ordnung des Lebens, dieses tiefe Vertrauen. Es erkennt sich selbst als Ausdruck der einen Liebe.
Author:
Mike Kauschke
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