Der Fluss des Lebens

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November 5, 2018

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Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Paul Kohtes’ Weg vom »PR-Papst« zum Zen-Lehrer

»Wenn wir uns unser Leben als Fluss vorstellen, dann haben wir bestimmt sehr schnell eine Idee, in welchem Bereich des Flusses wir uns gerade befinden, ob es da Wasserfälle gibt, ob es ein angenehmes Dahinströmen ist, oder ob wir vor einer Staumauer stehen«, sagt mir Paul Kohtes in unserem Gespräch. Auf der anderen Seite unserer Skype-Verbindung sitzt mir ein präsent wirkender Mann »gegenüber«, mit einem lebendigen Lachen in den Augen und einer Dynamik, die erahnen lässt, dass sein Lebensfluss einige Stromschnellen durchlaufen hat. Das Bild vom Fluss des Lebens ist für Kohtes auch deshalb so passend, weil es die Frage nach Identität und Wandel aufgreift, die sein Lebensthema ist.

Erste Ahnungen dieses Lebensthemas spürte Kohtes in seiner Kindheit, die er auf einem Gutshof in einem ehemaligen Klosterbereich verbrachte. Oder durch einen Deutschlehrer, der ihn mit dem Mystiker Meister Eckhart bekannt machte. Später wurde die Frage nach der Identität zunächst beruflich zum Impulsgeber. Mit 28 Jahren machte er sich mit einer Agentur für Kommunikation selbstständig. An dieser Aufgabe reizte ihn, den Kern von etwas zu finden, sei es ein Unternehmen oder ein Produkt, der sich kommunizieren lässt. Denn er wollte in seiner Arbeit auch den Charakter oder die »Seele« des Unternehmens verstehen und vermitteln. »Ein Unternehmen hat nicht nur eine funktionale ­Eigenidentität, in der es irgendetwas herstellt, produziert und anbietet, sondern es hat immer auch eine kulturelle Aufgabe.« Die Kultur in seinem eigenen Unternehmen versuchte er auf ­Kooperation aufzubauen: »Erfolg beginnt immer mit der Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation. Denn Erfolg hat man niemals allein, immer nur durch die Fähigkeit, andere mit einzubeziehen, sie zu begeistern.«

In seiner Agentur nahm er auch »kritische« Kunden an, wie z. B. die Atomindustrie. Für ihn war das die Chance, auch in solchen Unternehmen etwas zu verändern. Denn »nur wenn man ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, kann man Veränderungen anstoßen. Das wäre nicht möglich, wenn man von vornherein sagt: Nein, mit denen arbeite ich nicht zusammen. Damit löst man gar kein Problem.« Und dieser Ansatz wurde honoriert, denn die Agentur Kohtes & ­Klewes wurde zur erfolgreichsten ihrer Art in Europa und Kohtes von der »Welt« zum »PR-Papst« erklärt.

Das Ich ist wie ein Regentropfen.

Eine schwere Infektions-Erkrankung brachte eine jähe Zäsur in dieses erfolgreiche Unternehmerleben. Für Kohtes war es ein Schock, wie verletztlich er trotz seines beruflichen Erfolges war. Der zuvor viel beschäftigte Manager war nun für Monate außer Gefecht gesetzt. Während dieser existenziellen Unsicherheit erzählte ihm jemand von Zen-Seminaren, die ­Michael von Brück anbot. Dass von Brück Professor für Religionswissenschaft ist, gab Kohtes das Vertrauen, es mit der Meditation zu versuchen, um innere Klarheit zu finden. Nach seinem ersten Sesshin dachte er: ›Das machst du nie wieder, die ganze Woche vor der Wand sitzen, mit Schmerzen und verrückten Gedanken im Kopf.‹ Aber schon nach wenigen Wochen meldete er sich zum nächsten Sesshin an. Er merkte, dass die Schmerzen auch Teil eines Prozesses waren, den er durchlaufen musste und der zu tieferen Erfahrungen der eigenen Identität führt: »Du ahnst natürlich in den Momenten, wo du einfach mal ankommst und still bist, worum es wirklich geht. Aber es ist nicht so, wie sich das viele vorstellen: Ah, jetzt geh’ ich zu einem Sesshin und dann wird mir das Paradies eröffnet. Wie in allen Mythen ist der Zugang zum Paradies mit vielen Dornenhecken verbaut.« Paul Kohtes ging diesen Weg durch Dornenhecken weiter, machte eine Ausbildung zum Meditationsleiter und fuhr nach Japan, um das ursprüngliche Zen zu erfahren. Nur um bald zu merken, dass diese japanische Übungsform nicht sein Weg war.

Nach ersten Zen-Kursen, die Paul Kohtes leitete, entwickelte sich zusammen mit der Zen-Lehrerin Brigitte van Baren der Fokus auf »Zen for Leadership«. Diese Angebote richten sich an Führungs­­kräfte, die durch Zen-Meditation ihre Arbeit aus einer tieferen Quelle verstehen und gestalten wollen. Statt dem Modewort von der Achtsamkeit im Business zu folgen, bleibt Kohtes beim Zen, weil es »den großen Charme hat, dass es unmittelbar zur Essenz geht, denn die Kernidee des Zen ist das Nichts. Deshalb passt Zen gut als Metapher für etwas, was der Fülle der Verwicklungen der ganzen Welt gegenübergestellt werden kann: das radikale Nichts.« Dieser Gegenpol des Nichts hat seiner Erfahrung nach für Führungs­kräfte eine hohe Attraktivität, denn »sie haben von allem zu viel – zu viel Stress, zu viel Anspannung, zu viel Ablenkung, zu viel Geld, zu viele Sorgen, zu viele Gedanken.«

Seine eigenen Erfahrungen mit dem Wandel der Identität auf dem Zen-Weg veranlasste Kohtes 1989 die Identity Foundation zu gründen. Darin wollte er auf einer rational-wissenschaftlichen Ebene Fragen der Identität erforschen. Die Stiftung führte Studien durch zu Fragen wie: Was bedeutet Spiritualität heute? oder Was ist Identität? Und sie verlieh den Meister-Eckhart-Preis an Denker, wie den berühmten Claude Levi-Strauss, die in ihrer Arbeit die Identität des Menschen erforschen. 2010 wurde die Stiftung Ko-Initiator des Kongresses Meditation und Wissenschaft, bei dem die Schnittstelle zwischen kontemplativer Praxis, wissenschaftlicher Forschung und Anwendung in Wirtschaft, Psychologie und Medizin thematisiert wird. 

Obwohl sich Kohtes immer mehr aus der Leitung seiner Agentur zurückgezogen hat, ist ihm der unternehmerische Geist treu geblieben und manches Mal hat er sich auch in riskante Geschäftsideen begeben. Wie 1998, als er den damals größten spirituellen Verlag, Bauer in Freiburg, kaufte. Er wollte den in die Jahre gekommenen Verlag neu aufstellen, unterschätzte aber, wie innerlich zerrüttet das Unternehmen bereits war. Auch er konnte es nicht mehr retten und musste schließlich pleitegehen. Solches Scheitern sieht Kohtes als wichtige Lernerfahrungen. »Meinen Kunden habe ich immer gesagt: Sie können in jede Krise kommen, das Entscheidende ist, dass Sie sie überleben. Ich überlebte diese Krise und gewann auch etwas daraus. Ein Freund sagte mir damals: ›Wenn du verliebt bist, bist du blind.‹ Ich war in die Idee verliebt, als erfolgreicher Unternehmer etwas aus diesem Verlag zu machen und habe die Probleme völlig unterschätzt.«

Eines seiner neuesten Projekte ist die Meditations-App 7Mind, die er zusammen mit Studenten der Universität Herdecke entwickelt hat. Ihn überzeugte der Spirit der jungen Leute und die Idee, ein Gerät wie das Smartphone, das zum Symbol für Ablenkung und den Sog der neuen Medien geworden ist, zu einem Werkzeug für mehr Achtsamkeit im Leben zu machen. Über eine Million Downloads geben ihm Recht. Diese Offenheit für neue Projekte möchte er sich erhalten und er hat heute den Luxus, nur noch solchen Spuren zu folgen, die für ihn Inspirationskraft haben. 

Zum Ende unseres Gesprächs greift Paul Kohtes das Bild des ­Lebensflusses wieder auf: »Für mich selbst hat der Fluss inzwischen eine ziemlich klare Kontur, in der alle meine Erfahrungen einen Sinn ergeben. Und dieser Fluss wird irgendwann münden, ob ich will oder nicht.« Aus dieser Erfahrung eines bewegten ­Lebens beschreibt er sein Verständnis von Identität im Angesicht der Vergänglichkeit: »Das Ich ist wie ein Regentropfen. Aus einer Wolke bildet sich ein individueller Regentropfen, der zur Erde fällt – dieses Fallen ist unsere Lebenszeit. Wenn der Regentropfen auf die Erde fällt, ist er äußerlich verschwunden, aber seine Essenz ist noch da, sie hat sich nur im Wasser aufgelöst.«

Author:
Mike Kauschke
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