Der Grenzgänger

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Essay
Publiziert am:

October 23, 2023

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Ausgabe 40 / 2023
|
October 2023
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Antonio Oxtes verschlungener Weg der Heilung

Das Leben von Antonio ­Oxte lässt sich nicht als lineare Entwicklung erfassen. Diese kreisförmige Bewegung, das Verweben von Geschichten, Gedanken und Erfahrungen im Herzen, die sich mit unterschiedlichen Orten und Zeiten verbinden, liegt im Kern der Arbeit, der er sich verschrieben hat. Das wird in unserem einstündigen Zoom-Gespräch klar. Es ist einfach, damit zu beginnen, dass Don Antonio, auch bekannt als Großvater Antonio, ein Maya-Ältester ist, der mehrere Kontinente bereist hat, um die Weisheit weiterzugeben, die er in seiner Kindheit von seiner Großmutter erhalten hat. Aber es ist weitaus schwieriger zu verstehen, wie es dazu kam.

Aber fangen wir von vorne an. ­Geboren wurde Antonio in der Maya-­Gemeinde Sisbicchén auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan. Väterlicherseits stammt er von den Mayas ab, mütterlicherseits ist es eher ein buntes Gemisch. Seine Großmutter stammt von indigenen Völkern und Spaniern ab, die Wurzeln seines Großvaters reichen bis nach Israel zurück. Antonio ist der Einzige in der Familie mit grünen Augen und deshalb nennen ihn die Mayas bis heute Gringo. »Aber das macht mir nichts aus – ich liebe die Gringos!«, sagt er mir lachend. Seine Großmutter war eine Heilerin und lehrte ihn vom siebten bis vierzehnten Lebensjahr, wie man Pflanzen als Medizin nutzt, Entzündungen und Traumata diagnostiziert und diese Krankheiten auf körperlicher und energetischer Ebene heilt.

»Wenn ich Schmerzen habe, dann überlege ich, was ich gegessen, gesagt oder gedacht habe, und dann erkenne ich, was den Schmerz verursacht. Unser Geist muss voller Liebe sein, dann werden wir auch den Planeten verändern.« Diese Einsicht fand er nicht auf einfachem Wege und es ist nicht leicht, seinen Werdegang in eine chronologische Abfolge zu fassen. Er erzählt mir, dass er mit 14 Jahren sein Dorf und seine Großmutter verließ, nach Campeche zog und am Strand mit den Fischern lebte und arbeitete, um sich mit dem Geist des Meeres zu verbinden. Nach ein paar Jahren arbeitete er in einem Hotel auf einer nahegelegenen Insel, wo er eine ganz besondere Familie kennenlernte und sich in eine ihrer Töchter verliebte, die am Strand spielte. Was und wie genau, bleibt unklar, aber das Ergebnis ist, dass die Eltern dieser Familie Don Antonio ein paar Monate später einladen, mit ihnen nach New York City zu kommen. Er geht mit.

»Wir dürfen unsere Wurzeln nicht verlieren.«


»Durch diese Reise änderte sich alles.« In New York traf er einen Gesangslehrer und nahm Stunden bei ihm. »Ich verbrachte Zeit mit Schauspielern, Künstlern und Menschen aus der ganzen Welt, und mir wurde die Einzigartigkeit und erstaunliche Schönheit eines jeden bewusst. Aber es brauchte einen Herzinfarkt, um mir wirklich die Augen zu öffnen.« Nach einigen Rückfragen erfahre ich, dass sich dieser erst 37 Jahre später ereignete. Zunächst kehrte Antonio nach Mexiko zurück, studierte Anthropologie und lebte einige Zeit mit dem Mapuche-Stamm in Chile. Mit 18 Jahren rutschte er auf einem Balkon ohne Geländer auf einer Wasserlache aus und stürzte fünf Stockwerke in die Tiefe. »Ich war sofort tot«, sagt er mir mit weit aufgerissenen Augen. Er konnte sehen, wie seine Seele den Körper verließ, sah, wie Ameisen auf ihm herumkrabbelten. Er spürte seinen physischen Körper nicht mehr – nur Wärme und Licht. Er ging durch einen Tunnel, sah alle seine Verwandten, die sich freuten, ihn zu sehen, doch seine Großmutter sagte: »Deine Zeit ist noch nicht gekommen, du musst zurück.« Als er die Augen öffnete, fand er sich im Krankenhaus wieder. »Da waren immer noch die Ameisen, und sie bissen mich – doch dann fiel mir ein, dass Ameisen ja Heiler sind, und ich wusste: Sie waren gekommen, um mir beim Aufwachen zu helfen.« Durch diese Erfahrung hatte sich ihm die Tiefe der Traditionen und Zeremonien der Maya eröffnet, und so machte er sich auf, um auch andere Heilmethoden kennenzulernen.

Es ist schwer zu sagen, wie viele Jahre Antonio auf Reisen war und wo er in welche Tradition initiiert wurde – alte Traditionen in Ägypten, Israel, Frankreich, Griechenland und anderen europäischen Ländern. »Dass wir dunkelhäutigen Menschen Indigene sind, das glauben wir manchmal einfach, ohne zu wissen, was das wirklich bedeutet. In Europa entdeckte ich, dass auch die Weißen Teil der göttlichen Menschheit sind, und dass für sie der Norden die heilige Himmelsrichtung ist.« Er begegnete dem Weg der heiligen Maria Magdalena und der Apostel, lernte bei den Sufis und immer wieder sagt er im Lauf unseres Gesprächs, insbesondere, wenn ich seine Berichte zeitlich einordnen oder besser verstehen möchte: »Manche Dinge lassen sich nicht mit Worten ausdrücken.«

Doch zurück zum Herzinfarkt. Schließlich verstehe ich die ­Zusammenhänge: Antonio war damals 45 Jahre alt und zum zweiten Mal klinisch tot. Doch dieses Mal verlor er nicht das Bewusstsein. Während dieser Erfahrung verband er sich mit jener Energie, die Galaxien, Universen und auch die Atome erschafft, und ihm wurde klar, wie wenig er über die Unendlichkeit des Geistes wusste. Inspiriert von dieser Erfahrung wanderte Antonio insgesamt neun Jahre lang von Mexiko aus nach Süden, verbrachte einige Zeit in Kolumbien und kehrte dann zurück nach Chile. Während dieser Zeit bereicherte Don Antonio seine Ahnenweisheit mit persönlichen Erfahrungen, die er von den Ältesten der indigenen Völker erwarb, mit denen er auf seinen Reisen durch Mittel- und Südamerika zusammenlebte, darunter Stämme wie die ­Bakairi, Kiriri und verschiedene Gruppen im Amazonas-Regenwald. Wenn er über die neun Jahre seiner Wanderschaft nachdenkt, sagt er mit einem Lächeln: »Vorher habe ich an nichts geglaubt. Jetzt glaube ich an alles.«

Schließlich spürte Antonio den Drang dorthin zurückzukehren, wo alles begonnen hatte. Auf Yucatan musste er erkennen, dass das Wissen über die Traditionen und Pflanzen, das er als Kind kennengelernt hatte, verloren gegangen war und ihm wurde tief bewusst: Wir dürfen unsere Wurzeln nicht verlieren. Auf seiner Wanderung nach Patagonien und zurück war Antonio die Unendlichkeit der Schöpfungskraft tief bewusst geworden. »Wir leben inmitten von Schätzen und es kommt jetzt darauf an, dass wir die Kraft unseres Geistes erkennen. In den Früchten des Dschungels kann unsere Befreiung liegen.«

Antonio zog in ein ödes, abgeholztes Gebiet und begann dort, den Dschungel wieder aufzuforsten. Rancho Yaaxdzonot war geboren: eine Gemeinschaft, deren Fokus Heilung ist, ein Ort, an dem Don Antonio daran arbeitet, das Bewusstsein zu öffnen und andere daran zu erinnern, für das Lebendige Sorge zu tragen. Sein Hauptziel ist die Wiederherstellung der Würde des Maya-Volkes. Durch die Vermittlung von Kunst, Wissenschaft, Philosophie und verschiedenen Workshops zu Themen wie Schreinerei und gegenseitiger Hilfe will Don Antonio die Verbindung der Maya mit Mutter Erde wiederbeleben und einen tiefen Respekt vor ihr fördern, indem er die bemerkenswerten Talente und Fähigkeiten jedes Einzelnen weckt. »All unsere Schwierigkeiten kommen daher, dass wir, als Einzelne und als Gesellschaft, Mutter Erde nicht mehr respektieren. Wir müssen uns wieder daran erinnern, wer wir sind. Es ist Zeit, aufzuwachen.«

Er nimmt das Laptop und geht nach draußen, wobei er mich daran erinnert, dass hier nichts wuchs, als er vor 16 Jahren ankam. Als er den Bildschirm nach außen dreht, verlieren sich meine Augen in einer grünen Wand, die sich langsam in unzählige Pflanzen auflöst, die in einem gemusterten Chaos wachsen, eine aus der anderen. Blumen mit der Leuchtkraft von Buntstiften sind helle Blitze zwischen Blättern, die sich in jeder erdenklichen Form biegen und strecken. Hier fühlt sich Don Antonio als Weltbürger und vor allem als leidenschaftlicher Gärtner seiner eigenen Existenz, der seinen inneren tropischen Garten mit Sorgfalt pflegt.

»Wir wissen als Indigene, dass Arbeit notwendig ist, wir wissen, dass einige Erdenbewohner die Natur zerstören, um Geld zu verdienen. Aber Mutter Erde hat keinen Preis – der Wert des Lebens muss geschützt werden, nicht gemessen. Ich liebe und fühle mich geliebt.«

Don Antonios Vision, die in jeder Facette seiner kaleidoskopischen Geschichte präsent ist, ist eine Welt, in der jeder Einzelne die Verantwortung für seine Gedanken, Taten und Worte übernimmt: ­eine vereinte Menschheit, befreit von Dogmen des Schmerzes und des Leidens, die einander dient und sich gemeinsam auf dem evolutionären Pfad des Lebens entfaltet. Er deutet mit einer Geste auf die summende Schönheit um ihn herum und lächelt. »Ich weiß, wer ich bin. Ich segne alles und jeden. Kommt nach Rancho Yaaxdzonot. Oder bleibt, wo ihr seid, doch helft mit, dass Verständnis und Anerkennung wachsen können.«

Author:
Miranda Perrone
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