Der lange Körper

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 17, 2023

Mit:
Prof. Leny Mendoza Strobel
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AUSGABE:
Ausgabe 38 / 2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Dekolonisierung und eine indigene Zukunft

Leny Strobel kam von den Philippinen in die USA und erlebte dort eine Fremdenfeindlichkeit, die sie dazu veranlasste, die kulturellen Hintergründe von Immigration zu erforschen. Im Laufe der Zeit verschob sich der Fokus ihrer Arbeit auf die Prozesse der Dekolonisierung.

evolve: Warum ist die Dekolonisierung Ihrer Meinung nach in der heutigen Zeit besonders wichtig?

Leny Strobel: Die globale Entkolonisierungsbewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann, war eine Reaktion auf den Westen, auf das Zentrum der Imperien. Es gab also diesen Gegensatz zwischen den Kolonien und dem Zentrum, dem Westen und dem Rest. Ich denke, die aktuelle Bewegung geht in Richtung einer dekolonialen Praxis, in der der Westen nicht mehr im Mittelpunkt steht. Was passiert, wenn wir über die moderne Erzählung des Westens hinausgehen, sie dezentrieren? Wenn wir einen längeren historischen Zeitraum betrachten, führt uns das bis zu den indigenen Völkern auf den Inseln zurück, bevor sie Philippinen hießen.

Es gibt eine Idee der Irokesen, dem Volk der Haudenosaunee, welche »der lange Körper« genannt wird. Der »lange Körper« umfasst unsere Vorfahren und ihre Geschichte und schließt sieben Generationen ihrer Nachkommen bis in die Zukunft ein. Als ich Studenten unterrichtete, wollten sie sich nicht mit den historischen Ereignissen befassen, weil sie sofort zu der Erkenntnis gelangen wollten, dass wir alle Menschen sind. Aber wenn wir sie durch die Schichten von Geschichte, Kultur, Sprache und Religion führen und sie beginnen, die Geschichten ihrer Vorfahren zu erzählen, erkennen sie, dass ­ihre Auffassung von der Wirklichkeit sozial konstruiert ist. Und wenn wir sie dann durch diesen Prozess des Geschichtenerzählens führen, können sie erkennen, wie ihre Geschichten miteinander verbunden sind. Ich hatte Studenten, deren Vorfahren schwarze Sklaven hielten, und solche, deren Vorfahren versklavt wurden. Was passiert, wenn man diese Geschichten erzählt und sie sich auf diese Weise begegnen? Diese Methode heißt Ethno-Autobiografie und wurde von meinem Kollegen Jürgen Kremer formuliert und wir haben sie für die Anwendung mit Studierenden weiterentwickelt.

e: Können Sie mehr über diese Methode sagen?

LS: Dabei geht es um die Entkolonisierung des Weißseins und die Rückgewinnung des indigenen Geistes. Aber es ist auch eine Kritik an der Moderne, indem es das erzählende Selbst in den Mittelpunkt stellt. Indigene Menschen sagen: Es kommt auf die Geschichte an, die man erzählt. Und das erzählende Selbst wird durch die eigene Abstammung geprägt. Es ist geprägt von den nächtlichen Träumen, die Vorstellungswelt ist Teil dieser Geschichte. Die Schatten der Vergangenheit sind Teil dieser Geschichte. Und die Gemeinschaft, auch die nicht-menschlichen Wesen in der Gemeinschaft.

»Es kommt auf die Geschichte an, die man erzählt.«

Es gibt acht Elemente dieses ethnisch-autobiografischen Geschichtenerzählens, in dem die Menschen Spiritualität, Gender und Sexualität, Natur und anderes miteinander verbinden. In einem einjährigen Kurs betrachten wir jedes dieser Elemente und bitten die Studierenden, diese persönliche Geschichte mit diesen Elementen zu verbinden, um ein Gefühl für ihre »langen Körper« zu entwickeln. Zu diesem Prozess gehören auch Rituale, schamanische Reisen, Zeit in der Natur.

e: Warum glauben Sie, dass es so wichtig ist, diese Geschichten zu erzählen, um in den »langen Körper« zu gelangen und diese tieferen Wurzeln wiederzufinden?

LS: Als ich anfing, mir diese Frage zu stellen, wurde ich von der indigenen Perspektive angezogen, weil ich sie in meinem Körper wiedererkannte. In meinem Körper spürte ich ein nicht konditioniertes Wissen. Ich gehe davon aus, dass wir alle Indigene auf der Erde sind, wir alle hatten Vorfahren, die an einem bestimmten Ort auf dem Planeten verwurzelt waren. Wenn wir zu dieser ursprünglichen Beziehung mit dem Ort zurückkehren, erkennen wir, dass das Land heilig ist, dass die Erde lebendig ist. Und dekoloniale Praxis bedeutet, diese Beziehung zu entwickeln.

Ich kann mich an den Moment erinnern, als sich mein Bewusstsein in diese Richtung verschob. Ich habe mich mit Dekolonisierung beschäftigt, aber vor allem im Kopf. Ich dachte darüber nach, was es bedeutet, mit dem Land verwurzelt zu sein. Eines Tages ging ich aus meinem Schlafzimmer und da stand dieser Mammutbaum. Ich sagte: »Ich lebe seit 30 Jahren hier, warum habe ich dich noch nicht gesehen?« Das war der Beginn einer täglichen Praxis, in der ich mir bewusst mache, wer um mich herum ist und welche Beziehung ich zu diesen Wesen habe, zu den Bäumen, den Vögeln, dem Bach in meiner Nähe. Ich ging zu dem Bach und sagte: »Es tut mir leid, dass ich mich dir nicht vorgestellt habe, als ich hier ankam. Das tue ich jetzt, 30 Jahre später.« Die Ältesten der Ureinwohner haben mir gesagt: »Wenn du dich in den Ort verliebst, an dem du dich gerade aufhältst, kannst du wieder indigen an diesem Ort werden.« Viele Menschen wenden sich der Rückgewinnung dieser indigenen Wissensformen als Teil der Heilung zu. Der Grund ist die Erkenntnis, dass wir eine indigene Zukunft gestalten müssen.

e: Was meinen Sie damit?

LS: Die natürlichen Ressourcen, die zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstils genutzt werden wie Öl, Mineralien, Wasser, sind nicht unbegrenzt. Unsere Art zu leben ist also nicht nachhaltig. Viele junge Menschen sagen bereits zu ihren ­Eltern: »Ich möchte nicht all die Dinge erben, die ihr angehäuft habt.« Die Werte verschieben sich. Sie wissen, dass materieller Reichtum nicht zu Freude und Frieden führt. Viele Menschen kehren zu nachhaltigeren Werten zurück. Und der Kern dieser Werte besteht darin, zu lernen, wie man mit dem Land lebt, in dem man sich befindet. Im Kern eines indigenen Bewusstseins steht die Erkenntnis, dass Beziehungen wichtiger sind als alles andere und dass Beziehungen im Kontext von ortsgebundenen Gemeinschaften stattfinden, nicht nur mit Menschen, sondern auch mit den Tieren und Pflanzen, mit denen man zusammenlebt.

Author:
Mike Kauschke
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