Der Mut zu träumen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

April 11, 2022

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Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
Bewusste Netzwerke
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Commons, Blockchain, Peer-to-Peer-Beziehungen und die Vision einer neuen Netzwerkkultur

Visionäre haben immer auch von einer neuen menschlichen Gesellschaft geträumt. So ist auch die Technik entstanden. Wie können wir heute in Zeiten digitaler Vereinnahmung die Welt neu träumen? Und dazu vielleicht sogar die Technologie als Verbündete erkennen?

Schon immer formten die Landschaften und Umgebungen, in denen wir leben, unser Bewusstsein. Ihre Fruchtbarkeit oder Kargheit prägten den Charakter unserer Vorfahren. Selbst die Präsenz des Lichts lernten die Lebewesen unserer Erde aus ihrem täglichen Erleben der Sonne, die Tag für Tag über dem Horizont aufging und hinter dem Horizont verschwand. Während gegenwärtig neue digitale Landschaften unser Leben umwälzen, lohnt es sich vielleicht, darüber nachzudenken, wie sehr die Landschaften, in denen wir leben, uns heute prägen

Landschaften, das ist nicht nur Natur. Das sind auch unsere Kulturlandschaften, die unseren Geist formen. Unsere gemeinsamen Gepflogenheiten und Traditionen, die sich der Landschaft einprägten, mit heiligen Stätten, Schreinen, später Tempeln und Kirchen. Die Städte, in denen wir ab einem bestimmten Punkt der Geschichte hauptsächlich lebten, schufen eine neue Umgebung. Die jeweiligen Rituale unserer Gesellschaft sind Teil unserer geistigen Landschaft. Das Powwow – die Stammesversammlung der amerikanischen Ureinwohner –, die griechische Polis, die Konzilversammlung der katholischen Bischöfe, aber auch die Hofrituale des französischen Königs Ludwig XIV. und die Zusammenkunft des deutschen Bundestags machen uns zu Stammesgenossen, Gläubigen, Untertanen oder Bürgern einer Demokratie. Formen sprechen. Rituale schaffen Wirklichkeit. Landschaft prägt.

Technische Landschaften

Wir leben heute auch in technischen Landschaften, die unseren Geist formen. Seit 30 Jahren öffnet sich rund um uns eine neue Landschaft, eine Landschaft, wie wir sie noch nie gesehen haben – die digitale Welt. Ihre Anfänge hatte sie in den 90er-Jahren. Damals war sie ein chaotischer Ort, geprägt von seltsamen Computercodes und eigentümlichen Computer-Nerds. Menschen mit einer Allergie gegen Programmiersprachen versuchten sie zu meiden. Aber in dieser neuen Welt lag auch das Versprechen, Menschen in aller Welt miteinander zu verbinden. Diese seltsame neue Sphäre zog damals viele Träumer und Visionäre an, die hier, wie in früheren Zeiten mit der Schrift oder dem Buchdruck, die Möglichkeit sahen, eine neue Welt der Verständigung zu erschaffen.

¬ IST DIE DIGITALE WELT ZU DER ALLES BESTIMMENDEN BEWUSSTSEINSLANDSCHAFT GEWORDEN? ¬

Mit dem Beginn von Google und Facebook wurde diese Pionierphase des Internets rasend schnell abgelöst. Die Computersprachen verschwanden hinter konsumentenfreundlichen Oberflächen. In einer Art Goldgräberstimmung erkannten einige Unternehmer, dass man dieses Internet in eine riesige Geldmaschine verwandeln kann. Vielleicht war Amazon im Kopf seines Gründers Jeff Bezos schon immer diese alles beherrschende Markt- und Logistikmaschine, die immer mehr Warenströme und Produkte durch ihre Kanäle fließen lässt, um damit Geld zu verdienen. Aber am Anfang war Amazon eine kleine Plattform für Bücherfreunde. Facebook war zunächst mehr darauf ausgerichtet, dass Studenten an der Harvard Universität Partys organisieren und studentische Beziehungen pflegen konnten. Daraus ist heute eine weltumspannende Aufmerksamkeits- und Erregungsmaschine geworden, die unser gesellschaftliches Gefüge auf den Kopf stellt und tief in die persönliche und kollektive Psychologie der ganzen Menschheit eingreift. Wer hätte gedacht, dass diese digitalen Landschaften uns so schnell und tief ergreifen würden, dass sie sogar unser Gehirn neu verschalten? Sind wir auf Dauer den Algorithmen der marktbestimmenden Internetgiganten und ihrer künstlichen Intelligenz ausgeliefert? Ist die digitale Welt zu der alles bestimmenden Bewusstseinslandschaft geworden?

In der menschlichen Geschichte lösten die Kräfte oft auch entsprechende Gegenkräfte aus. Vor allem die Macht der Fremdbestimmung hat immer zum Aufbegehren der Selbstbestimmung geführt. Auch heute gibt es neue Visionäre, die davon sprechen, dass wir bereits im Übergang zu einem neuen Internet, einem Web3 sind. Diese neue Form des Internets ist geprägt durch die gerade entstehende Krypto- oder Blockchain-Technologie, die es uns erlaubt, im World Wide Web der großen Internetgiganten unabhängige, eigenständige Räume und Netzwerke zu gründen. Auch dieses neue Web3 ist wieder einmal chaotisch, voller Verheißungen und Gefahren. So sind Kryptowährungen wie Bitcoin auch ein Geldwäscheplatz für die weltweite Mafia geworden. Aber die neuen Möglichkeiten der Blockchain haben wiederum Träumer und Visionäre auf den Plan gerufen, die hier die Möglichkeit sehen, die Landschaften der digitalen Welt nachhaltig zu verändern. Auf einmal ist es wieder möglich, neue Visionen von unserem Umgang mit der Technik zu entwickeln – WENN wir den Mut haben, davon zu träumen.

Neue Kulturen erträumen

Wir vergessen es oft, aber unsere menschliche Geschichte war immer auch ein Kind unserer Träume. Von den ersten Clan-Gesellschaften, den großen Imperien, Theokratien, den Feudalgesellschaften in ihren vielen Farben und Formen, bis hin zu den alten und neuen Demokratien, Diktaturen und Monarchien – sie alle wurden aus unseren Träumen geboren, in sozialen Imaginationen darüber, wie wir miteinander leben möchten. Manche Träume konnten wir gemeinsam träumen, von anderen wurden viele ausgeschlossen. Es sind die Träume, die uns neue Welten öffneten. Wir lebten mit Naturgeistern, mit Himmelsgöttern oder dem Fluss des Tao. Wir lebten mit einem Erlösergott und in einem Universum, das sich nur in den Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaften bewegte.

¬ WIR LEBEN IN EINER GESELLSCHAFT, DIE EIGENTLICH NICHT MEHR AN TRÄUME GLAUBT. ¬

Auch unser jüngstes Kind, die Technik, wurde aus Träumen geboren. Aber dieses Kind hat, vielleicht mehr als alle anderen, ein mächtiges Eigenleben angenommen, ein Leben in vielen Inkarnationen. Sie wurde vor langer Zeit geboren, vielleicht mit einer Axt aus Stein, einem Funken, der Feuer entfachte, oder mit einem hölzernen Rad. Auf jeden Fall hat sie seit der Zeit der Dampfmaschinen, der Verbrennungsmotoren, Telegrafenleitungen, der Hochseeschiffe und Fabrikanlagen mächtig an Fahrt gewonnen. Ihre letzte Ausformung hat die Technik in der digitalen Welt gefunden. Diese Phase begann mit ein paar Transistoren, die unsere Rechenleistung, die wir bis dahin erbringen mussten, in neue Höhen führte. Und in den 60er-Jahren verbanden wir die Rechenleistung verschiedener Computer zu dem, was wir später das Internet nannten.

Eine andere Technologie, die wir in den 20er-Jahren erfanden, waren die bewegten Bilder des Films. Sie sollten auf unsere Träume einen ungeahnten Einfluss nehmen, denn mit Hollywood entstand die Traumfabrik. Damals begannen wir, Träume industriell zu fertigen. Die Bilderwelt der Traumfabriken hat uns seither nicht mehr losgelassen. War es anfangs das Kino, dann das Fernsehen, so ist es heute das Internet, das unseren Bewusstseinsraum erfüllt. In einer amerikanischen Studie wurden vor einigen Jahren kleine Kinder nach ihren nächtlichen Träumen gefragt. Als sie alle nur von den unterschiedlichsten Cartoons erzählten und die Interviewer nachfragten, was sie denn selber träumen, antworteten die Kinder: Diese Cartoon-Geschichten seien der Inhalt ihrer Träume.

Wo sind unsere eigenen Träume geblieben, Träume, die wir allein und miteinander träumen? Nicht nur, dass uns viele Träume heute industriell vorgeträumt werden, wir leben auch in einer Gesellschaft, die eigentlich nicht mehr an Träume glaubt – auch nicht an den Traum von einer menschlicheren Welt. Wir leben in einer technisch-industriellen Kultur, in der es auf alles eine technisch-industrielle Antwort gibt. Die Welt ist darin eine große, technisch steuerbare Maschine geworden Wir besitzen nur mehr technische Antworten. Visionen haben darin keinen Platz. Im Privaten und Persönlichen können wir noch träumen, aber das hat keine Bedeutung dafür, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen. Unsere gemeinsamen Zukunftsträume sind ausgetrocknet. Was uns bleibt, sind technische Machbarkeitsstudien. Unsere Marktideologie sagt uns ausdrücklich, dass es keine Alternative gibt zu den anonymen Notwendigkeiten des »Marktes«. Eine neue Generation von Ökonomen geht zwar davon aus, dass es »den Markt« überhaupt nicht gibt. Die radikale Marktideologie der letzten Jahrzehnte sei eigentlich ein modernes Denkverbot, durch das wir keine anderen Formen der Gesellschaft entwerfen können. Aber auch unsere technische Weltsicht kann nichts anderes als technische Lösungen sehen. Wenn wir die Welt nur mit den Augen eines Hammers sehen, besteht die Welt nur mehr aus Nägeln.

Raum für menschliche Träume

Wo gibt es in dieser Welt noch Räume für Menschen und ihre Träume? Die disruptiven Technologien der letzten Jahrzehnte wie die Traumfabriken Hollywoods und die neuen algorithmischen Dynamiken des Internets scheinen kaum noch Raum zu lassen. Und die nächsten disruptiven Technologien sind bereits mitten unter uns. Der Technologie-Denker Jordan Hall spricht von vier gegenwärtigen technologischen Durchbrüchen, die unsere Zukunft weiter umwälzen werden: die generelle künstliche Intelligenz, welche die gesamte menschliche Intelligenz bald überflügeln wird, die CRISPR-Technologie, mit der es uns bald möglich sein wird, unsere eigene DNA und die DNA aller Lebewesen umzubauen, das Metaversum, eine Art zweite digitale Welt in der Welt, in dem wir bald wie in einem großen 3D-Videospiel unser Leben verbringen können, und die Blockchain-Technologie.

Diese Technologien werden wahrscheinlich in unserer Welt keinen Stein auf dem anderen lassen. Aber gerade in der Blockchain sieht Jordan Hall auch eine Chance. Die mit dieser Technologie entstehenden DAOs (Dezentrale Autonome Organisationen) erlauben vielleicht auch eine neue Form der Selbstorganisation. Was hier neben den großen Monopolen entstehen könnte, ist ein globales Netzwerk autonomer Felder, die sich auf eine intelligente Art miteinander vernetzen. Mit intelligenten Token, ähnlich denen, wie wir sie heute bei Bitcoin kennen, kann Austausch und ein Beziehungsnetz programmiert werden, die in der Lage sind, hochkomplexe kulturelle Vereinbarungen wie den Schutz der Gemeingüter oder die Beseitigung der Armut zu gewährleisten.

Diese neue Technologie ist auch gerade dabei, sich mit einer anderen Seite des Internets zu verbinden, die wir in den letzten Jahren oft aus den Augen verloren haben. Neben den großen Internetmonopolen gibt es noch das Internet der Peer-to-Peer-Bewegung, jener Menschen und Netzwerke, die in der digitalen Welt eine historische Chance sehen, um die Vision der Open Source, des freien Zugangs zu Informationen, und die Idee der Commons, der Gemeingüter, wiederzubeleben. Hier versuchen Menschen, weltweite dialogische Räume aufzubauen, in denen wir jenseits der Marktlogik miteinander zusammenarbeiten können. Das Internet ist eben auch ein Versuchslabor für ein neu entstehendes globales Bewusstsein, eine neue Diskussionskultur, ja selbst für eine neue, offene Spiritualität. Darüber hinaus gibt es eine Welle neuer sozialer Experimente. Menschen erproben Formen einer vernetzten Zusammenarbeit, die mit horizontalen statt vertikalen Führungsstrukturen arbeitet. Online und offline entstehen Labore für eine neue Wir-Kultur. Es werden Co-Living-Orte, Deliberately Developmental Spaces, gegründet, in denen Menschen auch angesichts der Klimakatastrophe versuchen, auf eine neue, sich an regenerativen Ansätzen orientierende Weise miteinander zu leben und sich mit anderen weltweit zu verbinden. DAO-Strukturen könnten dieser Bewegung eine neue Kraft und Dynamik verleihen.

Der DAO-Moment

Das alles hat auch seine schwierigen Seiten. Es gibt Krankheiten, wie die grassierenden Verschwörungsmilieus der Fake-Blasen. Der Medientheoretiker Bernhard Pörksen sieht sie auch als Geburtswehen und Kinderkrankheiten einer neuen Bewusstseins- und Informationsökologie, die ihr Gleichgewicht noch nicht gefunden hat. Wir leben in einem großen sozialen Experiment und Technologie allein ist nie die Lösung. Die Technologie könnte aber eine Stütze für eine globale Bürgergesellschaft sein, die sich unabhängig von herkömmlichen Machtstrukturen mit neuen Organisationsformen gestaltet. Die Architektur und die Machtdynamik des Internets könnten sich ändern. Anstatt dass Tech-Giganten und Algorithmen bestimmen, was für uns Wert hat, könnte es Räume geben, in denen man auf dieselben Ziele hinarbeiten kann, und Möglichkeiten, mit den eigenen Beiträgen ein Einkommen zu verdienen.

¬ IN DIALOGISCHEN RÄUMEN ENTSTEHEN UNSERE GEMEINSAMEN TRÄUME UND VISIONEN. ¬

Die demokratische Verfassung unserer Staaten ist hier ein klassisches Beispiel dafür, wie Strukturen Bewusstseinsräume schaffen. Verfassung und Rechtsstaat sind eigentlich nichts als Papier. Auch die rechtstaatliche Welt, die sie ermöglichten, ist letztlich hohl, wenn sie nicht von einem demokratischen Geist und mit demokratischem Leben gefüllt wird. Trotzdem schufen Verfassung und Rechtsstaat oft einen Schutzraum, in dem genau dieses demokratische Leben und dieser demokratische Geist gepflegt werden konnten, geschützt zum Beispiel vor der Logik des zügellosen Marktes. Hier entstanden die Visionen, die Träume, die sozialen Imaginative, die einer Demokratie immer wieder echtes Leben geben.

In der neuen, digitalen Welt könnten DAOs eine Stütze für eine neue Genossenschaftsbewegung sein, in der es verschiedene Ebenen gibt – lebendige dialogische Innenwelten, in der die Kultur der DAOs, der Genossenschaft immer wieder neu erarbeitet und gelebt wird. Auf einer Ebene können wir uns entscheiden, an bestimmten Netzwerken teilzunehmen und ihre »Bürgerinnen und Bürger« zu sein. Dadurch könnten wir die darin gelebten Werte gemeinsam entwickeln. Und auf einer anderen können wir Token als Währung erhalten, die uns für unsere Beiträge zu verschiedenen DAO-Kollektiven bezahlt. »Smart Contracts«, intelligente Verträge, in denen Token programmiert sind, erlauben dezentralisierte Entscheidungsprozesse, die gleichzeitig Ausdruck eines dialogischen Feldes sind und zudem die Möglichkeit schaffen, sich mit anderen DAO-Regionen zu verknüpfen.

Alles nur Träume? Vielleicht, aber es hat den Anschein, dass sich konkrete Wege für ein neues Miteinander in unserer digitalen Welt zeigen. Und natürlich kann Technologie nie allein die Lösung sein, vor allem nicht für eine neue, nachhaltige Bewusstseinskultur. Technologie kann Bewusstsein nicht ersetzen, aber sie kann Bewusstsein unterstützen.

Vielleicht ist die Frage auch falsch gestellt. Es geht ja nicht darum, ob die Blockchain kommt. Es geht darum, wie sie kommt. Mit Bitcoin wird sie zu einem neuen Eldorado der Wallstreet-Kultur. Können wir sie auch anders gestalten? Jordan Hall spricht von dieser Zeit als einem DAO-Moment, in dem es die Chance gibt, unser Verhältnis zur Technik umzukehren, sodass sie zur Grundlage einer neuen globalen Genossenschaftsbewegung wird. In dialogischen Räumen entstehen unsere gemeinsamen Träume und Visionen. Wenn es gelingt, ihnen auch in der neuen digitalen Welt einen wirkungsvollen Platz zu geben, dann haben sie die Chance, zu einer neuen Keimzelle einer demokratischen Gesellschaft zu werden.

Die digitale Welt und ihre technologischen Landschaften sind veränderbar. Wir können gemeinsame Räume und Bioregionen schaffen, in denen wir uns als Menschen begegnen, statt zu Datenträgern und Konsumentinnen in der Welt von Google, Facebook oder Amazon zu verkümmern. Wir müssen auch Technik neu träumen. Neue Landschaften entstehen dort, wo Menschen den Mut haben, sie zu sehen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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