Der Realitätsschock

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

April 11, 2022

Featuring:
Wladimir Putin
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
Bewusste Netzwerke
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Ein integraler Blick auf den Ukraine-Krieg

Was bedeutet der russische Angriff auf die Ukraine für den Umgang mit autokratischen Herrschern wie Wladimir Putin? Was kann eine integrale, entwicklungssensible Perspektive hier zum Verständnis und angemessenen Handeln beitragen?

Die Welt durchlebt einen Realitätsschock. Putins Angriff auf die ­Ukraine – wenngleich militärisch und diskursiv lange vorbereitet – hat die westliche Politik vor den Kopf gestoßen. Nun erleben besonders jene ein böses Erwachen, die sich in der Vergangenheit dem Appeasement verschrieben und für Nachsicht aller Art im Dienste »guter Beziehungen« plädiert hatten. Die bittere Wahrheit ist: Wladimir Putin sagt, was er denkt, und er tut, was er sagt. Keine versteckte Taktik, keine geheimnisvolle, clevere Strategie; stattdessen unverhülltes Großmachtstreben, militärische Gewalt und Menschenverachtung.

Der Westen reibt sich die Augen. Der Schock sitzt so tief, dass selbst die übliche Suche nach Erklärungen – und nach Schuld bei anderen, insbesondere dem politischen Gegner – nicht mehr verfangen. Putins Krieg hat in seiner Brutalität und Rücksichtslosigkeit alle überrascht, bis auf viele Osteuropäer und jene Mahner aus Kreisen der Osteuropakunde, wie auch aus Russland selbst, die seit vielen Jahren auf lange sichtbare Tendenzen hingewiesen haben. Beispielhaft sei Vladimir Sorokins These vom Putinismus als Rückschritt in ein »neues Mittelalter« (2005) genannt, einer Gewalt- und Willkürherrschaft nach Art der Opritschnina unter Iwan dem Schrecklichen. Er wurde damit zum Teil als Spinner oder Schwarzmaler abgetan. Was also bedeutet die russische Aggression für unser Welt- und Politikverständnis – und für die Vision eines friedlichen Zusammenlebens in Europa? Und welchen Beitrag könnte ein integraler, entwicklungssensibler Blick hier leisten?

Die europäische Friedensordnung der Nachkriegszeit sei erschüttert, so liest man allenthalben. Blicken wir – neben den dramatischen Folgen des rechtswidrigen russischen Überfalls für die Ukraine selbst – einmal nach innen, auf die Erschütterung unserer bisherigen Annahmen und Projektionen. Denn die Ernüchterung über Putins Politik zeigt auch blinde Flecken im Denken der westlichen Politik auf. Der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski bringt sie folgendermaßen auf den Punkt: »Wir haben vergessen, dass Drohung, Erpressung und kriegerische Gewalt immer schon Handlungsoptionen waren, und wir haben verdrängt, dass es Menschen gibt, die sie ergreifen, wenn sie sich davon einen Gewinn versprechen. Manche erklären Putin nun für verrückt. Wer nicht handele wie sie selbst, so muss man solche Erklärungen wohl verstehen, kann offenbar gar nicht verstanden werden. Im Grunde ist der Hinweis auf den Geisteszustand des Angreifers nur das Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit.«

¬ WAS BEDEUTET DIE RUSSISCHE AGGRESSION FÜR UNSER WELT- UND POLITIKVERSTÄNDNIS? ¬

Wer Putins politischen Aufstieg seit 1999 verfolgt hat, konnte von Anfang an ein Denk- und Verhaltensmuster beobachten, das in der Erwachsenenentwicklungstheorie von Jane Loevinger und Susanne Cook-Greuter als »selbstschützende« oder »opportunistische« Handlungslogik beschrieben wird. Diese Variation egozentrischen Denkens ist Zeugnis eines letztlich sehr fragilen, unsicheren Selbst, das als präkonventionelles noch keine stabilen, auf wechselseitigem Respekt gründenden Beziehungen zu anderen aufbauen kann. Um sich selbst zu spüren und sich seiner selbst zu vergewissern, muss es – in Ermangelung tieferer Einsicht in sich und andere – gleichsam permanent deren Grenzen verletzten. Da es hierbei um die Essenz der eigenen Identität geht, sind ihm dazu alle Mittel recht.

Selbstschützendes Verhalten ist stets misstrauisch und oft aggressiv beim Versuch, seinen Willen durchzusetzen. Damit sucht es Genugtuung und versteckt die eigene Verletzlichkeit. Mangels reziproker Beziehungskompetenz erwartet es dasselbe von anderen, die es daher auszutricksen, zu besiegen oder schlimmstenfalls zu vernichten gilt. Derartiges Verhalten ist typisch für mafiöse und Clanstrukturen, mit welchen Putins Staat von Kennern seit geraumer Zeit verglichen wird. Folglich finden wir hier alle zentralen Merkmale dieser Logik: Gewalt und (a)symmetrische Vergeltung, Manipulation und Hintergehung, das völlige Fehlen von Selbstkritik (Schuld sind immer die anderen), die Wahrnehmung von kritischem Feedback als Angriff, der wiederum mit Angriffen beantwortet wird, die Miss­achtung (vermeintlich) allgemeingültiger Regeln (die als Einschränkung der eigenen Handlungsfreiheit gesehen werden) usw.

Warum konnte oder wollte die westliche Politik das bisher nicht sehen? Entwicklungspsychologisch betrachtet ist ein offensichtlicher Grund, dass der Schwerpunkt westlicher (Außen-)Politik derzeit zwischen modern-individualistischen und postmodern-relativistischen Handlungslogiken liegen dürfte. Dieser Unterschied in Werten, Selbstverständnis und Beziehungsverhalten macht ein unmittelbares wechselseitiges Verstehen oder einen produktiven Dialog extrem schwierig.

Otto Scharmer bezeichnet das Selbst als »das wichtigste Führungsinstrument« (2007). Dies gilt, so sehen wir jetzt, im Negativen wie im Positiven. Die Fähigkeit eines integralen Selbst, zu sehen, was ist, und die Dinge als das zu behandeln, was sie sind, verhält sich umgekehrt proportional zu der fehlenden Fähigkeit eines egozentrischen Selbst, die Konsequenzen seiner Handlungen für andere, sich selbst und die weitere Umgebung vorherzusehen. Letzteres können wir aktuell bei Putin sehen, ersteres ist die Voraussetzung einer integrierenden Politik jenseits moralischer Appelle und Verurteilungen.

Wenn also das durch die Brutalität des Krieges in der Ukraine verursachte »Aufwachen zur Realität« in Richtung eines stärker entwicklungssensiblen, integralen (Selbst-)Bewusstseins führen würde, wäre viel gewonnen. Denn erst dieses hört aufgrund seines weiteren und tieferen Blicks auf, seine eigene Denkweise auf alle anderen zu projizieren – ein Fehler, den wir bei Putin und dem Westen bis vor Kurzem gleichermaßen sahen. Vielmehr kann es die berechtigten Werte der Akteure auf verschiedenen Entwicklungsstufen des (kollektiven) Selbst sehen und anerkennen.

Eine solche integrale, entwicklungssensible Politik wirft jedoch auch unbequeme Fragen auf, mit Blick auf die Ukraine und darüber hinaus, wie sie der Osteuropahistoriker Karl Schlögel in der FAZ formuliert hat: »Wie viele Wohnhäuser, Krankenhäuser, Kindergärten müssen noch getroffen werden, wie viele Menschen … von … einer angesichts des unerwarteten Widerstands kopflos gewordenen Soldatenmasse noch getötet werden, bis die internationale Gemeinschaft … ›einschreitet‹? Putin hat in Grosny gezeigt, dass er eine Großstadt in eine Ruinenlandschaft verwandeln kann. Er hat gezeigt, dass ihm das Schicksal Aleppos und seiner Bewohner gleichgültig ist. Mit dem Kampf um die Atomkraftwerke von Tschernobyl und Saporischschja hat Putin die Tür zum Ökozid geöffnet.«

Die Einsicht, dass weniger komplexe Strukturen zur Umsetzung ihrer Ziele nicht nur zu härteren Mitteln greifen, sondern dabei auch (aus Sicht komplexerer Strukturen) absehbare Kollateralschäden blind in Kauf nehmen, legt einige, insbesondere für ein postmodern-pluralistisches Bewusstsein schwierige Schlüsse nahe: Da sie der Komplexität der Welt nicht angemessen begegnen können, können Autokraten erheblichen Schaden für alle anrichten – wenn wir es erlauben. Angesichts zunehmend planetarischer und nicht selten irreparabler Konsequenzen derartiger Schäden steht die Weltgemeinschaft vor dem Dilemma, wie sie global destruktives Verhalten nicht nur bewerten, sondern stoppen bzw. einhegen kann. Die schnell beschlossenen tiefgreifenden Wirtschaftssanktionen waren ein guter erster Schritt.

Gleichzeitig ist es wichtig, die Menschen in Russland nicht zu Feinden zu machen und sie irgendwie zu erreichen, um der Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen. Dazu bieten das Internet oder auch persönliche Kontakte, auch mit russischstämmigen Menschen in Deutschland, entsprechende Möglichkeiten. Denn um ein gedeihliches Miteinander, ja, das Überleben auf diesem Planeten sicherzustellen, sind wir zunehmend darauf angewiesen, »die Gesundheit der ganzen Entwicklungsspirale« zu wahren, wie Ken Wilber formuliert. Das ist ein integraler Blick, der unsere Entfaltung als Eine Menschheit fördern will. Dies bedeutet, dass jede Entwicklungsstufe ein Existenzrecht hat, aber nicht das Recht, das Leben und die Entwicklung aller anderen zu torpedieren.

Eine entwicklungssensible, integrale Politik von morgen muss daher nicht nur die Entwicklung aller fördern (dies propagiert etwa die Initiative der Inner Development Goals), sondern auch Bestehendes inte­grieren und bewahren: also dafür sorgen, dass positive Evolution auf allen Ebenen nicht durch außer Rand und Band geratene Entwicklungsverweigerer zunichte gemacht wird.

Author:
Dr. Elke Fein
Share this article: