Der Tod als Fest des Lebens

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

February 2, 2024

Mit:
Dr. Andreas Weber
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AUSGABE:
Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Den liebenden Kern der Welt berühren

Was können wir von unserer biologischen Existenz inmitten anderer Wesen über Tod und Leben lernen? Dieser Frage geht Andreas Weber nach und findet Trost darin, dass wir nicht aus der Welt fallen können.

evolve: Eine erste Frage an dich als Biologe: Gibt es den Tod überhaupt?

Andreas Weber: Ja, den Tod gibt es, und gleichzeitig sind wir Menschen und jedes anders-als-menschliche Wesen unsterblich. Jedes Individuum ist in einem unverlierbaren Maße die Welt. Unsere erlebte Individualität ist die immer wieder stattfindende Neuerfahrung der Welt, die man ohnehin schon ist. Insofern gibt es keinen Tod im Sinne eines Endes, sondern nur Tod im Sinne einer Transformation, eines Übergangs oder einer Neugeburt. Und das ist durchaus eine Herausforderung. Das wissen wir alle von allen möglichen Übergängen und Neuanfängen. Im Widerspruch dazu hat in unserer Kultur zunehmend die Erzählung an Einfluss gewonnen, dass der Tod für ein Lebewesen das totale Ende ist. Das entspricht aber nicht dem Charakter der Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit ist ein zusammenhängendes Kontinuum. Wir Individuen sind sowohl physische als auch seelische Prozesse, in denen sich dieses Kontinuum selbst erfährt. Wir sind nicht dem Kontinuum entrissen, sondern immer Teil davon.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist unser Körper. Er besteht aus Materie und setzt sich im Atmen und in der Nahrungsaufnahme immer wieder neu aus Materie zusammen. Dieser Körper ist nicht von der Welt abgetrennt, sondern ein Durchgangsprozess von Materie. Wenn wir atmen, essen und trinken, dann nehmen wir den Stoff der Welt auf, der von anderen Wesen, aus Mineralformationen oder aus den Flüssen kommt, und erneuern daraus unseren Körper. Er ist also ein Teil der Erde. Und er wird beständig wieder zu Erde. Denn der Körper baut sich im Stoffwechsel auch wieder ab. Beim Ausatmen atmen wir im CO2 den Kohlenstoff unseres Körpers aus.

Das heißt, wir sind in einem vollständigen Kontinuum mit allem. Das ist unverlierbar. Darum zeigt sich in uns so etwas wie die Selbsterfahrung des Ganzen – individuiert in einer jeweils einzelnen Perspektive. Diese innere Erfahrung, diese Grundsehnsucht, Teil eines großen Lebens zu sein, bringt das individuelle Leben immer wieder neu hervor.

Es gibt also etwas Immaterielles in allem Stofflichen, das wir in uns und in anderen als den Wunsch nach Leben finden. Und es gibt das Materielle, was wir in der Welt als das Kontinuum der Materie sehen. Beide sind jeweils in uns wie auch in allen anderen Wesen aktiv. Das ist ein Grundcharakter der Welt. Insofern ist der Tod real als der Tod des Individuums. Das Individuum ist aber nicht aus der Welt ausgegrenzt, sondern eine Erscheinungsweise der Welt. Insofern ist der Tod nicht real, weil wir nicht aus der Welt fallen werden. Unsere innere Erfahrung ist die innere Erfahrung der Welt selbst und damit unsterblich.

Ekstasen desselben Ganzen

e: In deinem neuen Buch sprichst du davon, dass ein Baum sich selber will. Dabei hast du zumindest als Analogie dem Baum in seinem Selbstwollen fast ein Ich zugeschrieben. Das ist eine Sicht auf das Leben als Kontinuum, wo alles durch uns durchfließt, wo aber auch etwas ist, das ein Kontinuum erhalten möchte. Und das hat mit der Sterblichkeit zu tun, weil sich dieses Kontinuum in seiner Beschränktheit nicht ewig erhält.

»Wir sind in einem vollständigen Kontinuum mit allem.«

AW: Das ist das Paradox, das in östlichen Weltauffassungen oft besser verstanden wird als im Westen. In unserem Denk-Mainstream haben wir zwei nebeneinanderstehende Sichtweisen: Entweder ist alles ein Kontinuum, dann ist aber die erfahrende bedeutungsvolle Perspektive des Selbst eine Illusion. Oder wir sagen, die innere Erfahrung ist die Realität, dann ist aber die materielle Welt eine Illusion. Das sind, etwas verkürzt, die beiden Mainstream-Varianten des westlichen Denkens.

In meinen Augen sind beide verkehrt, denn das Ganze wird erst funktionsfähig, wenn wir beides zusammen denken. Das stellt unsere Logik aber vor Schwierigkeiten, weil wir uns schlecht vorstellen können, dass beides richtig sein kann. Für unsere Erfahrung ist das möglich, aber für unsere Ratio nicht. Deswegen komme ich zunehmend ­dazu, dies nicht mehr durch Argumente beweisen zu wollen, sondern als Erfahrungsprozess zu gestalten.

Begegnungen mit Bäumen sind immer Bestandteil meiner Workshops. In diesen Begegnungen gibt es die Offenheit, dass wir uns miteinander – ich und der Baum, das Gras, der Mohn oder welches Wesen auch immer – über unsere vorübergehende, zerbrechliche Körperhaftigkeit verstehen. Wir erkennen einander als Individuierungen desselben Ganzen und finden ineinander die Bedürfnisse und Ekstasen desselben Ganzen wieder – während wir uns gegenseitig atmen. Ich und der Baum, wir schenken uns gegenseitig Leben. Ich nehme seinen Sauerstoff auf, er nimmt meinen Kohlenstoff auf und schafft sich daraus neue Blätter.

Die Wende im Verstehen besteht darin, dass Lebewesen als Teil dieses Materiekontinuums nicht autonom und abgegrenzt sind, als wären sie tote Dinge. Vielmehr bestehen sie aus einem Interesse – daran, den eigenen Stoff zusammenzuhalten, neuen Stoff aufzunehmen und sich daraus immer wieder neu zu erschaffen. Weil wir uns nicht gegeben sind, kann sich in uns das Begehren der ganzen Wirklichkeit nach Leben entfalten. Ohne Tod also keine Seele. Nur wenn wir zerbrechlich, verwundbar, sterblich sind, kann in uns das Begehren des Kosmos, Leben zu stiften, zur Sprache kommen. Sonst müsste es stumm bleiben. Insofern ist das Sterbliche die Voraussetzung dafür, dass Innerlichkeit transparent wird.

e: Wie ist es möglich, die Erfahrung des Selbstseins und Teil eines Ganzen zu sein, verstehbar und erfahrbar zu machen?

AW: Ich beziehe mich stark auf die Forschungen meines Lehrers Francisco ­Varela. Seine Frage war: Wie können wir Leben einerseits als einen materiellen Prozess verstehen und gleichzeitig als einen Prozess, der auch eine innere Erfahrung ist? Er war schon damals in den 70er-Jahren nicht zufrieden mit dem, was die Schulbiologie erklärte. Varela fand zusammen mit seinem Lehrer Humberto Maturana die Idee der Autopoiesis, der Selbstherstellung. Sie kam aus der Beobachtung, dass wir Lebewesen nicht als Uhrwerke oder Maschinen verstehen dürfen, sondern als Prozesse, die ihre eigene Identität immer wieder neu herstellen, indem sie sich aus der Materie ihrer Umgebung aufbauen. Leben ist eigentlich ein Selbstheilungsprozess oder ein Prozess der Selbstkonstruktion, weil ein Lebewesen eben keine Maschine ist, die in einem Werk gefertigt wurde und funktioniert, bis sie kaputt ist.

Ein Lebewesen hat keine materielle Identität, weil wir Teil des materiellen Kontinuums sind. Wir sind die Welle im Ozean. Weil wir keine materielle Identität haben, muss sich die Identität, die wir sind, durch diesen Aufbauprozess ständig bestätigen. Wenn wir aber etwas verlieren können, dann bekommt es eine Bedeutung. Wenn Leben ein Anliegen ist, dann wird die Welt auf einmal zu einem Ort von emotionalem Wert. Dann kann alles, was mir begegnet, mir nützen oder schaden. Hier sehen wir die Geburt des fühlenden Selbst aufgrund unserer Verankerung im Ganzen der Welt.

»Der Tod ist eine Erscheinungsform des Lebens.«

Gerade weil jedes Lebewesen Teil eines Kontinuums ist und sich selbst im materiellen Sinne nicht besitzt, ist es darauf angewiesen, sich selbst immer wieder das Leben zu schenken. Dieses individuelle Anliegen ist überhaupt nur möglich, weil es auf dem gemeinsamen Geteiltsein des Ganzen beruht.

e: Ich würde gern einen Satz hervorheben, den du an den Anfang deiner Antwort gesetzt hast und der mich ergriffen hat: Wenn man etwas verlieren kann, erkennt man dessen Wert. Darin spüre ich das Sterbenkönnen und gleichzeitig das Nicht-sterben-Wollen.

AW: Aus meiner biologischen Perspektive würde ich es weniger persönlich formulieren: Wenn etwas verloren werden muss, dann hat es einen Wert. Dieser Wert hat objektiveren Charakter. Wert, Bedeutung, ja innere Erfahrung entstehen dadurch, dass ich nichts behalten kann, dass Leben loslassen heißt. Leben ist das, was immer schon verloren wird, und das gibt ihm die Schönheit. Was Leben ist, sehen wir dem Baum an, der in Würde seine Blätter abtritt. Da erleben wir diesen Prozess, dass etwas unendlich Wertvolles losgelassen wird, weil es losgelassen werden muss.

Zum Geschenk werden

e: Immer, wenn du auf den Baum zu sprechen kommst, kommt mir ein Bild von einer Eiche in den Sinn, die hier im Taunus steht. Wenn ich dieser Eiche begegne, die wahrscheinlich 300, 400 Jahre alt ist, spüre ich die Kraft, die du gerade ansprichst. Aber da ist ein Aspekt, den ich oft übersehe, nämlich dass die Eiche auf Humus steht. Die ganze Lebenskraft dieses einzelnen Baums kommt aus dem Prozess von Leben und Sterben über Millionen von Jahren. Die kohärente Lebensform eines Baumes ist nicht für sich möglich, weil sie nur auf Humus entstehen konnte. Hier ist das Wechselspiel zwischen Leben und Tod offensichtlich, das mir wesentlich zu sein scheint, um Tod und Transformation tiefer begegnen zu können.

AW: Ich möchte Leben und Tod nicht als die beiden Pole sehen. Für mich sind es Tod und Geburt. Leben ist das, was beides umfasst. Der Tod ist eine Erscheinungsform des Lebens. Leben ist das, was durch Tode hindurchgeht. Deswegen ist der Tod nichts Lebensfremdes, sondern eine Funktion des Lebens oder vielleicht sogar ein Fest des Lebens. Das hat etwas damit zu tun, dass der Tod eine Form des Sich-Schenkens ist. Wenn ich sterbe, dann schenke ich meinen Körper dem übrigen Leben. So wie ich beim Atmen immer ein bisschen sterbe, weil ich meinen Kohlenstoff verausgabe und ihn dem übrigen Leben schenke. Ich tausche also mit dem Baum, mit der Eiche im Taunus Geschenke aus, und wenn ich sterbe, ist das auch ein Geschenk.

Deswegen heißt mein neues Buch »Essbar sein«. Wenn ich essbar bin, dann bin ich bereit, mich zum Geschenk zu machen. Dann stelle ich das Spenden von Leben über meine eigene individuelle Existenz. Ökologie ist ein gegenseitiges Spenden von Leben. Darauf beziehst du dich, wenn du sagst, die Eiche steht auf Humus. Kein Lebewesen kann existieren, wenn es nicht von anderen Lebewesen mit Leben beschenkt wird. Humus ist ein Schenkprozess, und gleichzeitig ist er ein Sterbeprozess. Wenn ich mich selbst loslasse, verwandle ich mich und nähre andere.

Mich wundert nicht, dass du diese Erfahrung mit einer Eiche machst. Ich habe auch so eine viele hundert Jahre alte Eiche bei mir im Grunewald stehen. Ich gehe da ab und zu hin, um mich beraten und beatmen zu lassen. Eichen sind die europäischen Bäume mit den meisten ökologischen Nischen. Rund 500 Arten von Lebewesen sind auf Eichen als Lebensraum angewiesen. Eichen leben sehr lange, sind aber, während sie leben, immer schon halb tot. Es gibt Stellen, die ausgefault sind, in denen leben Hornissen oder Meisen, und Äste sind abgebrochen. Eichen sind irgendwie tot und deshalb so lebendig. Und weil sie die ganze Zeit sterben, haben sie Geschenke für so viele andere Arten. Eichen sind für mich eine Verkörperung dieses Prinzips, ein gutes Mitglied der Biosphäre zu sein, indem ich mich essbar mache.

Beziehung leben

e: Ich finde es auch sehr besonders, wie du die Eiche als Biotop beschreibst. Und das in dem Kontext, wo du Sterben mit Schenken gleichsetzt. Das ist eine völlig andere Perspektive auf Sterben und Transformation, die über die Subjekt-Objekt-Wahrnehmung hinausgeht. Du sprichst eine Beziehungswahrnehmung an, in der Sterben ein Geben ist. Und der Humus ist das klassische Bild dafür, dass Leben durch Sterben beschenkt wurde. Wenn wir so auf den Tod blicken, ändert das etwas Wesentliches, das wir oft nicht sehen.

»Ökologie ist ein gegenseitiges Spenden von Leben.«

AW: Das ändert grundsätzlich die Rolle, die der Tod spielt. Ich finde es sehr wichtig, dass du den Begriff Beziehung erwähnst. Wir können Lebendigkeit nur in Beziehung erleben und auch fördern. Gleichzeitig vergessen wir, wie Beziehungen funktionieren. Beziehungen sind immer so etwas wie die wechselseitige Verwandlung der Körper ineinander. Beziehung heißt, dass ich meine Individualität durch den anderen neu aufbaue. Das ist schon bei menschlichen Beziehungen so, dass wir in der Gegenwart eines anderen Menschen nicht wir selber bleiben. Als Kinder brauchen wir unsere Bezugsperson, um uns überhaupt selbst zu erfassen. Auch Beziehungen sind Prozesse der Essbarkeit und nicht bloß lose geknüpfte Fäden zwischen vereinzelten Individuen. Beziehungen sind einander durchdringende Wellen in dem einen großen Ozean, der vollkommen in sich zusammenhängt.

Meine Individualität ist eigentlich eine Dividualität. Ich bin ein Dividuum, wie es die Anthropologin Marilyn Strathern nennt. In den europäischen Wissenschaften behandeln wir das Individuum wie das Atom. Man meint, wir finden immer die kleinste Einheit, mit der stellen wir dann mechanische Berechnungen an, und dann wissen wir, was es ist. Aber schon im Atemprozess ist das Individuum ein Dividuum. Ich verteile mich ständig in die Luft, in der Allmende des geteilten Atems, aus der ich mich wieder neu zusammensetze.

Es ist die Grundlage meines erfahrenen Selbst, ein Dividuum zu sein. Und wenn wir das berücksichtigen, dann ist die Idee, dass die Division des Dividuums im individuellen Tod maximiert wird, wesentlich weniger furchtbar. Denn meist sehen wir uns als einen festen Container, in dem die vereinzelte Seele sitzt, und wenn der zerspringt, entweicht die Seele ins Nirgendwo. Aber wenn wir wissen, dass wir nur deswegen die Perspektive eines Selbst haben, weil wir ein distribuierter Prozess sind, dann kann uns wenig passieren.

Wenn Menschen in die »Natur« gehen – wobei das nicht der richtige Begriff ist, weil es sich nach einem Ding anhört – machen sie die Erfahrung, dass ihre eigene Seele eigentlich ein distribuierter Prozess ist. Diese Erfahrung wird dann als Berührung mit dem Naturschönen oder als Immunstärkung durch Waldbaden verbucht. Aber in Wahrheit geht es um die Erfahrung, dass meine Seele sowohl hier drinnen als auch dort draußen ist – und dadurch kann mir nichts passieren. Ich gehe in die Natur und komme getröstet zurück. Das ist eine in hunderten von empirisch-psychologischen Studien immer wieder neu dargestellte Beobachtung, dass Menschen in der Natur wundersam gestärkt sind. Der Grund dafür ist, dass sie sich als distribuiertes Selbst, also gleichzeitig als sterblich und unsterblich erfahren. Im Tod kommen wir mit dem in Berührung, mit dem wir manchmal im Leben auch in Berührung kommen: dem liebenden inneren Kern dieser Welt. Insofern gibt es nichts, was weniger bedrohlich ist als der Tod.

Beziehung heißt, dass ich meine Individualität durch den anderen neu aufbaue.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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