Der verbindende Blick

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Interview
Publiziert am:

April 5, 2021

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Ausgabe 30 / 2021:
|
April 2021
Kunst öffnet Welten
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Seit ich zum ersten Mal einen Film der japanischen Filmemacherin Naomi Kawase sah, war ich verzaubert. In ihren Filmen vermittelt sie Naturverbundenheit, Menschlichkeit und die Möglichkeit, einander über Grenzen hinweg immer wieder zu begegnen. Dabei wendet sie sich oft auch existenziellen Grenzsituationen und sozialen Randgruppen zu. Seit ihren künstlerischen Anfängen als Dokumentarfilmerin hat sie ihre ganz eigene leuchtende, zärtliche Bildersprache gefunden, die ihre Filme lange nachwirken lassen.

Ein Interview mit der Filmemacherin Naomi Kawase

evolve: In vielen Ihrer Filme verschmelzen verschiedene Zeitformen. In »Die Blüte des Einklangs« verschwimmen die Grenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in Ihrem neuen Film »True Mothers« wechseln Gegenwart und Vergangenheit der Figuren. Welche Bedeutung hat für Sie die Zeit und der Umgang mit der Zeit beim Filmemachen?

Naomi Kawase: Die Zeit ist in allen meinen Filmen ein sehr wichtiges Thema. In »True Mothers« wollte ich darstellen, was Zusammentreffen und Abschied im Leben verschiedener Menschen bedeuten können. Die Zeit spielt für mich in dem Sinn eine Rolle, dass in der Vergangenheit etwas negativ sein kann, aber durch die Handlungen und Worte, die ich in der Gegenwart wähle, ist es mir möglich, die Zukunft zu beeinflussen. Wenn die Vergangenheit auf irgendeine Art negativ war, dann werde ich, wenn ich mit negativen Worten und Taten darauf reagiere, auch meine Zukunft negativ beeinflussen. Stattdessen kann ich mir aber ein frohes Herz fassen und versuchen, die Zukunft positiv zu beeinflussen. Die Vergangenheit, auch wenn sie in dem Moment negativ war, kann durch diesen Entschluss trotzdem eine positive Auswirkung auf die Zukunft haben. Auch in der heutigen Zeit der Pandemie, wo viel Negatives passiert, kommt es darauf an, dass wir trotzdem zuversichtlich sind und dadurch unsere Zukunft positiv beeinflussen.

 ICH EMPFINDE ES SO, DASS NUR EIN WINZIGER TEIL UNSERER WELT AUSREICHEND AUFMERKSAMKEIT BEKOMMT. 

Das große Ganze sehen

e: In Ihren Filmen spielt die Natur eine große Rolle. Mir scheint, Sie nutzen die Bildsprache der Natur auch, um die Innenwelt der Menschen zu verdeutlichen. Ist das Ihre Absicht?

NK: Im Endeffekt versuche ich immer auszudrücken, was in mir geschieht. Natur ist immer in mir. Das liegt sicherlich auch an dem Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin und wo ich immer noch lebe. Nara ist eine jahrtausendealte Stadt mit viel Natur. Es gibt viel Wald und die Hirsche leben mit uns in dieser Stadt. An einem solchen Ort spüre ich immer auch die Natur. Selbst wenn etwas Trauriges passiert, sieht man den Wind durch die Bäume brausen, und es ist wie ein Zeichen aus der Vergangenheit, aus den Jahrtausenden dieser alten Stadt, die zu einem spricht und sagt: »Häng dich nicht an solchen Kleinigkeiten auf.« Das erinnert mich immer wieder da­ran, dass wir das große Ganze sehen können und uns nicht im Kleinen verlieren dürfen.

e: In Filmen wie »Die Blüte des Einklangs«, »Still the Water«, »The Mourning Forest« geht es auch um Tod, Geburt und Wiedergeburt. Was fasziniert Sie an diesen Übergängen unserer Existenz und unserem Umgang damit?

NK: Das hat auch mit Nara zu tun, weil diese Stadt so viel Geschichte in sich trägt. Hier fließt immer noch der Fluss, der auch vor 1000 Jahren hier floss, hier wächst der Wald, der bereits vor 1000 Jahren hier wuchs. In alten Schriften wie dem Man’yōshū finde ich zum Beispiel in kurzen Sätzen eine Information über den Fluss, der durch meinen eigenen Garten fließt. So kommt man immer wieder in Berührung mit Dingen, die schon seit Jahrtausenden da sind, aber wir Menschen ändern uns immer wieder. Ich existiere zwar jetzt, aber wir alle sterben. Wir gehen weg von dieser Welt, aber während wir auf dieser Welt leben, geben wir neues Leben. Nicht nur in Form von Kindern, sondern ich gebe auch etwas durch mein Werk. Somit versuche ich, in meinem Werk das Jetzt darzustellen, um etwas zu hinterlassen und mit den Menschen, die noch nicht in dieser Welt sind, sondern erst in der Zukunft kommen, in Verbindung zu treten. Auch wenn sich die Menschen, die Zeiten und die Werte ändern, meine Filme sollen auch in die Zukunft weisen. Wir können aus der Vergangenheit lernen und das Jetzt nutzen. Durch meine Filme möchte ich eine Vorstellung geben, wie die Zukunft aussehen könnte.

Die eigene Schale größer machen

e: In Ihren Filmen werfen Sie ein Licht auf Menschen, die oft in der Öffentlichkeit unsichtbar sind: die Leprakranken in Japan (»Kirschblüten und rote Bohnen«), die jungen Mütter, die ihre Kinder zur Adoption freigeben (»True Mothers«), die alten Menschen in Altenheimen (»The Mourning Forest«), blinde Menschen (»Radiance«), Kinder in zerrütteten Familien oder die schamanischen Traditionen Japans (»Still the Water«). Warum ist Ihnen dieser soziale Bezug so wichtig?

NK: Ich empfinde es tatsächlich so, dass nur ein winziger Teil unserer Welt ausreichend Aufmerksamkeit bekommt. Minderheiten erhalten wenig Aufmerksamkeit, auch wenn es so banal ist, dass wir uns gar keine Gedanken darüber machen, was für Schwierigkeiten ein blinder Mensch im Alltag bewältigen muss und wie das Innere dieses Menschen aussieht. Diese Bedürfnisse oder diese Perspektiven übersehen wir normalerweise und dabei gibt es in unserer Welt so viele unterschiedliche Menschen und so viel Diversität. Ich glaube, es ist wichtig, diese Diversität anzuerkennen und bewusst wahrzunehmen. Bei uns gibt es ein Sprichwort dazu: »Die eigene Schale größer machen.« Das heißt, dass es mein Leben bereichert, wenn ich verschiedene Sichtweisen einnehme und versuche, mich in andere hineinzuversetzen.

e: Was sich für mich in Ihren Filmen vermittelt, würde ich als einen liebevollen Blick auf den Menschen auch in seiner Verletzlichkeit bezeichnen. Möchten Sie in Ihren Filmen einen solchen Blick eröffnen? Und wenn dem so ist, warum?

NK: Bei dieser Frage der Verletzlichkeit spreche ich als Autorin und als Mensch auch daraus, dass ich nicht bei meinen Eltern aufgewachsen bin. Ich kreise immer noch um die Frage, was ich aus dieser Erfahrung schöpfen kann. Es gab und gibt sicherlich vieles in meinem Leben, was deswegen schief­läuft und es gibt dadurch in meinem Leben viel Traurigkeit. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass es in bestimmten Situationen nur einer Person bedarf, um einen in die richtige Richtung zu weisen oder einem Kraft zu geben. Es kommt eigentlich manchmal nur auf die eine richtige Person an. Ich möchte versuchen, auch so eine Person für andere zu sein, und diesen Gedanken weitertragen. Durch eine Geschichte im Film kann ich anderen mitgeben, dass es manchmal wirklich nur einer Person bedarf, die einem die Hand reicht.

»Die eigene Existenz löschen«

e: Ich habe gelesen, dass Sie sehr viel Wert darauf legen, wie das ganze Filmteam zusammenarbeitet, sich manchmal sogar »als ein Körper bewegt«, wie es Juliette Binoche, mit der Sie »Die Blüte des Einklangs« gedreht haben, in einem Interview sagte. Warum ist Ihnen eine solche Atmosphäre beim Dreh wichtig und wie versuchen Sie, eine solche Arbeitsweise zu unterstützen?

NK: Ja, es ist wirklich so, dass ich versuche, auf meinem Filmset Ruhe zu kreieren. Es gibt keine lauten Anweisungen wie »Start Action«, es wird nicht geschrien, auch das Equipment wird sehr leise bewegt. Laute Geräusche werden vermieden und jedes einzelne Crewmitglied versucht sozusagen, »die eigene Existenz zu löschen«. Das ist mir deshalb so wichtig, weil ich dadurch versuche, für den Schauspieler einen Ort zu kreieren, an dem er wirklich seine Rolle leben kann. Die Kamera tritt dann nur wie ein Mäuschen in die Beobachterrolle. Durch die Kamera dürfen wir an der Welt teilhaben, die die Schauspieler kreieren. Um das zu erreichen, haben alle Mitglieder der Crew Kopfhörer und ich spreche über Mikrofon, sodass alle meine Anweisungen verstehen können, ohne dass ich laut rufen muss.

e: Wenn Sie Szenen drehen, ist es dann so, dass die Szene vorher schon festgelegt ist, oder ist es auch ein gemeinsamer oder ko-­kreativer Prozess?

NK: Es steht nicht bis ins kleinste Detail fest, was passiert, und das will ich auch zulassen. Deswegen richten wir das Set so ein, dass die Kamera theoretisch in jede Richtung schwenken kann. Der Raum sollte optimalerweise so aussehen, dass man gar nicht sieht, dass ein Filmteam darin arbeitet. Deswegen wird auch das Licht so eingerichtet, dass die Kamera in jede Richtung schwenken kann, weil wir eben nicht genau wissen, wo sich der Schauspieler genau hinbewegen wird.

Eine neue Welt eröffnen

e: Ihre Filme berühren immer wieder spirituelle Fragen um unser wahres Wesen und unsere Verbundenheit miteinander und mit dem Kosmos. Warum greifen Sie diese Fragen in Ihren Filmen auf?

NK: Ich bin manchmal als religiös und sehr spirituell »verschrien«, aber ich empfinde es so, dass tatsächlich Wunder am Set passieren und ich diese Spiritualität erleben darf. Es gibt einen Spruch in unserem Team: »Wenn das Wetter gut ist, mit Sonne und blauem Himmel, dann wird auch das Drehbuch zum blauen Himmel mit Sonnenschein.« Bei einem Film kam es zum Beispiel darauf an, dass wir einen Taifun erleben. Das kann man natürlich nicht planen, aber es kam wirklich so, dass wir genau in der Zeit, in der wir nur einen Monat zum Drehen hatten, einen Taifun erleben durften. Da glaube ich als Regisseurin, dass eine spirituelle Kraft wirkt und die Natur mein Freund ist, mir wohlgesonnen ist.

Auch bei »Kirschblüten und rote Bohnen« gibt es in der Romanvorlage eine Stelle, an der es heißt: »Es schien blendend gleißendes Licht.« Und in der letzten Szene, wo die Frauen in der Herbstfärbung stehen und so ein gleißendes Licht abbekommen sollen, ist es wirklich passiert. Das sind Stellen, wo meine Regieassistenten sagen: »Wir können wirklich nicht versprechen, ob wir das in der Form so an dem Tag aufnehmen können.« Mittlerweile habe ich da so ein Vertrauen, dass es möglich sein wird, weil es oft so kommt, wie es geplant war.

e: Wenn man die Filme anschaut, habe ich das Gefühl, dass sich auch die eigene Wahrnehmung der Welt verändert. Ist das etwas, was Sie im Kreieren von Filmen auch im Zuschauer wachrufen möchten?

 ICH VERSUCHE DIE ZUSCHAUER GANZ BEWUSST AN EINEN ORT ZU FÜHREN, AN DEM SIE VOR DEM SCHAUEN DES FILMS NICHT WAREN.

NK: Ich versuche die Zuschauer ganz bewusst an einen Ort zu führen, an dem sie vor dem Schauen des Films nicht waren und ihnen damit den Blick über das eigene Allgemeinwissen oder das, was man als selbstverständlich empfindet, hinauszuführen.

Wenn wir zum Beispiel einen Film aus anderen Ländern sehen, ist das immer eine Welt, die einem eröffnet wird: »Ah, so kann man es auch sehen« oder »Ah, so eine Welt gibt es dort auch.« Es geht darum, immer das eigene Selbstverständnis infrage zu stellen, daraus herauszutreten und ­darüber hinauszutreten. Ich habe das Gefühl, dass diese Welt momentan immer mehr in eine Richtung drängt, wo das Eigene im Vordergrund steht, z. B. das eigene Land: Hauptsache unserem Land geht es gut. Aber ich glaube, dass es umso wichtiger ist, dass wir kooperieren und einander anerkennen, und dabei auch die Andersartigkeit der anderen wertschätzen.

Wir sind immer in Verbindung

e: Besonders stark ist der spirituelle Bezug im Film »Die Blüte des Einklangs«. Wie kamen Sie auf die Idee, diesen Film zu drehen, und was bewegte Sie dabei?

NK: In dem Film möchte ich vermitteln, dass die Erde ein Bewusstsein, einen Willen hat. Der Film spielt in den Bergen und ich wollte zeigen, dass die Berge sehr lebendig sind. Sie sind zwar ein Ort, wo man einsam ist und es keine Zivilisation gibt, aber gleichzeitig ist es ein Lebensraum für viele Tiere. In Japan glauben wir, dass man dort auch die Toten spüren kann.

Ich habe das Gefühl, dass die Menschheit sich im Moment immer weiter entwickelt und glaubt, durch diese Entwicklung immer stärker zu werden. Dabei werden wir eigentlich immer verletzlicher und schwächer und könnten uns selbst irgendwann ausrotten. In dieser Situation wollte ich ein Zeichen setzen, dass die Welt uns trotzdem umarmt, dass sie uns tröstet. Diesen Gedanken habe ich versucht in der letzten Szene umzusetzen.

Die Geschichte habe ich so gewählt, weil ich zeigen wollte, dass Menschen, die nicht blutsverwandt sind, zusammenleben können, auch wenn sie sehr unterschiedlich sind wie Jeanne, die aus Frankreich kommt, und Tomo, der allein in den japanischen Bergen lebt. Trotz ganz unterschiedlicher Motivationen können sie ein gemeinsames Leben teilen.

e: In allen Ihren Filmen ist das Element, sich über alle Unterschiede hinaus zu verbinden, sehr spürbar. Ist das etwas, das Sie in Ihren Filmen als Möglichkeit aufzeigen wollen, dass wir immer wieder in Verbindung gehen können?

NK: Wir können nicht allein existieren, wir sind immer in Verbindung. Der Gott, der uns schuf, hat es uns zur Aufgabe gemacht, dass wir miteinander auskommen müssen. Im Tierreich ist es meines Wissens nach sehr selten, dass Tiere einer Gattung sich gegenseitig töten. Wir können uns eine Welt ohne Krieg gar nicht vorstellen. Wir kommen einfach nicht davon los und können nicht aufhören, Krieg zu führen.

Das ist auch eine sehr zentrale Frage für mich persönlich: Wie kommt es, dass wir als Menschen einerseits nicht allein existieren können, aber andererseits gibt es, sobald eine andere Person auftritt, immer die Möglichkeit des Streits. Ob wir es dann so weit treiben, dass wir einander töten, ist wieder eine andere Sache. Ich suche nach der Möglichkeit, anstatt zu streiten, einander anzuerkennen und zu akzeptieren.

Wir sind im 21. Jahrhundert und wir leben in einem Extrem, in einer Pandemie. Ich empfinde das auch als eine Art Test für uns als Menschheit. Vor mehreren Hundert Jahren gab es die Pest, die vor allem in Europa grassierte und viele Opfer gefordert hat. Trotzdem gibt es auch die Möglichkeit, zu sehen, was daraus geboren ist, was wir daraus gemacht haben und was jetzt dementsprechend unsere Aufgabe ist. Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg viel Schlimmes getan und wir müssen immer weiter aufhören damit. Wir müssen uns immer wieder die Aufgabe stellen, damit aufzuhören! Ich glaube, dass hier die Kunst – Musik, Literatur, Malerei, Film – einen Anstoß geben kann, um uns das immer wieder in Erinnerung zu rufen.

Author:
Mike Kauschke
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