Der wesenhafte Blick

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July 16, 2020

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Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
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Oder: Wie die Schönheit in die Natur kommt

Wir kennen alle das Ergriffensein von der Schönheit in Pflanzen, Tieren, Landschaften. Der Biologe Axel Ziemke geht in seinen Reflexionen und seiner Arbeit als Waldorflehrer der Frage nach, welche inneren Gesetze der Entfaltung von Lebewesen innewohnen, die wir als schön erleben. Wir sprachen mit ihm über den Ursprung und die Bedeutung unseres Schönheitsempfindens im Leben mit der Natur.

evolve: Wenn wir mit dem menschlichen Blick auf die Schönheit der Natur schauen, erwecken wir unsere ästhetische Wahrnehmung der Natur. Aber man kann den Blick auch umdrehen und zu der eigentümlichen Beobachtung kommen, dass die Natur die Tendenz hat, in ihrer Evolution Schönheit zu entwickeln. Aber ist das überhaupt eine richtige Beobachtung oder ein Anthropomorphismus?

Axel Ziemke: Die Frage nach dem Ursprung der Schönheit in der Natur gehört zu den großen Rätseln der Biologie. Bis auf Darwin zurückgehend haben Biologen dazu viele mehr oder minder plausible Antworten gegeben. Blüten sind evolutionär daraufhin optimiert, attraktiv für Bestäuber zu sein. Bestäuber sind sensibel für diese Attraktivität, weil sie ihnen Nektar verspricht. Männliche Vögel sind deswegen schön, weil sie mit ihrem prachtvollen Federkleid die Weibchen anziehen. Weibchen erkennen daran ihren Gesundheitszustand. Männliche Vögel haben einen schönen Gesang, um damit ein Revier zu markieren und für Weibchen attraktiv zu sein. Frauen wurden evolutionär daraufhin optimiert, für einen Mann attraktiv zu wirken, ein Mann schätzt anhand dieser Attraktivität ihre Fruchtbarkeit ab. Frauen beurteilen anhand der Schönheit eines Mannes seinen Wert als Beschützer und Ernährer für sich und ihren Nachwuchs. In dieser – zumindest im letzten Fall sicher biologistisch verkürzten Sichtweise – erfüllt Schönheit die Aufgabe, den Fortpflanzungserfolg von Lebewesen zu erhöhen.

Aber schon Darwin stellt sich in »Die Entstehung der Arten« eine viel tiefer gehende Frage: Unter dem Gesichtspunkt der Fortpflanzung ist es plausibel, dass ich als Mann eine Frau schön finde. Aber warum finde ich den Gesang eines Vogels, die Bewegungen eines bestimmten Tieres oder Farbe und Form einer Blume schön? Darwin erklärt, er könne sich nicht vorstellen, wie man diese Frage jemals biologisch beantworten könne: Woher kommt es, dass der Sinn für Schönheit, für Ästhetik von Menschen, Bienen und Vögeln offensichtlich in irgendeiner Form vergleichbar ist? Das ist auch für mich nach wie vor ein großes Rätsel. Wir sehen, die Schönheit der Natur ist ein Bereich, den die naturwissenschaftliche Forschung bisher noch nicht wirklich ergründen kann.

Meiner Ansicht nach gibt es allerdings auch keine »Schönheit der Natur« an sich, sondern unser menschlicher Blick kann in der Natur Schönheit entdecken. Schönheit liegt also zwischen mir und der Natur, sie wohnt der Natur nicht objektiv inne.

SOWOHL NATURWISSENSCHAFT ALS AUCH SPIRITUALITÄT GEBEN SICH NICHT MIT DEM SCHÖNEN SCHEIN ZUFRIEDEN.

Innere Entwicklungsgesetze

e: Es klingt so, als wäre Schönheit etwas, was wir auf die Natur drauflegen, was aber mit der Natur eigentlich nichts zu tun hat.

AZ: Schönheit ist zwischen uns und der Natur. Ohne uns würde in einer gewissen Weise der Gesang einer männlichen Amsel für eine weibliche Amsel attraktiv sein, aber das spezifisch menschliche Schönheitsempfinden hat mit uns zu tun und liegt nicht objektiv in der Natur selbst. Schönheit ist also eine Frage des Betrachters und seines sozialen Kontextes. Denn was du schön findest, muss ich noch lange nicht schön finden. Es gibt keinen allgemeingültigen objektiven Blick auf Schönheit, und dieser ästhetische Blick auf die Natur hat sich historisch entwickelt.

Als Biologe, aber auch als Waldorflehrer interessiere ich mich besonders für Goethe als Naturwissenschaftler. Insbesondere mit seiner Metamorphosenlehre hat er die Entwicklung der Biologie ja sehr stark beeinflusst. Anders als die meisten Forscher seiner Zeit hat er Anatomie und Physiologie von Lebewesen nicht als Werk eines weisen Schöpfergottes verstanden, sondern suchte nach inneren Entwicklungsgesetzen, nach denen sich Pflanzen und Tiere selbst ihre Gestalt geben. Eine Pflanze vollzieht aus sich selbst heraus einen individuellen Entwicklungsprozess, indem sie nach und nach Blattorgane in immer wieder neu variierter Funktion und Gestalt hervorbringt: Laubblätter in sich wandelnder Gestalt, Kelchblätter, Kronblätter, Staubblätter und letztlich Fruchtblätter. Ähnliche Entwicklungsprinzipien suchte Goethe auch bei Tieren. Heute wird in der modernen Evolutionsbiologie immer deutlicher, dass man die Komplexität des Lebens auf der Erde nicht einfach durch das Wechselspiel von Selektion und Mutation einzelner Gene verstehen kann. So wie Goethe sucht heute ein neues Paradigma der Evolutionsforschung, die Evolutionäre Entwicklungsbiologie, in diesen inneren Entwicklungsprozessen den Schlüssel für ein neues Verständnis von Evolution.

Für Goethe war das Empfinden des Schönen ein wesentlicher Zugang bei seinen Naturstudien. Sein Freund Schiller versuchte das Schönheitsideal dieser Epoche in seinen ästhetischen Schriften zu erfassen. Von ihm stammt der bekannte Satz: »Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung.« Das heißt, seiner Auffassung nach finden Menschen Dinge schön, wenn sie so scheinen, als ob ihnen eine gewisse Freiheit innewohnt. Mit Freiheit meint Schiller, dass die Dinge autonom aus sich selbst heraus bestimmt sind und nicht durch irgendetwas Äußerliches. Wenn er Dramen schrieb, war es ihm wichtig, dass die Figuren in ihrem Schicksal von innen her bestimmt sind und sich in dieser inneren Bestimmtheit in tragischer oder komischer Weise begegnen und entwickeln. In der Musik empfand er diese Schönheit, wenn sich die Melodien der einzelnen Stimmen und Instrumente nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entfalten und ein sich aus sich selbst entwickelndes harmonisches Ganzes ergeben. Ein Gemälde bezeichnete er als schön, wenn sich Formen und Farben aus sich selbst heraus entfalten und miteinander harmonieren. Schon in Michelangelos berühmtem Statement kommt diese Schiller’sche Ästhetik zum Ausdruck: Seine Skulpturen, so sagte er, hätten nur von überflüssigem Stein befreit werden müssen. Es soll also so scheinen, als ob ihre Form schon im Stein selbst veranlagt gewesen sei. Oder um ein einfacheres Beispiel zu verwenden: Wir finden Schillers Auffassung nach eine Sinuskurve schöner als eine unregelmäßige Zickzack-Linie, weil wir ihre innere Bestimmtheit nicht nur mathematisch berechnen, sondern auch sinnlich erfassen können. Diese innere Bestimmtheit macht ihre Schönheit aus. Natürlich bleibt in der Kunst der Künstler der eigentliche Schöpfer, doch im Kunstwerk soll die schöpferische Tätigkeit des individuellen Künstlers unsichtbar werden und dem schönen Schein einer autonomen Selbstbestimmheit des Kunstwerkes weichen.

Dieses Bestimmtsein von innen, diese Freiheit in der Erscheinung, liegt Goethes Blick auf die Natur zugrunde. Anders als der mit »dem schönen Schein« spielende Künstler geht es ihm als Beobachter darum, zu ergründen, ob dem Schein einer Selbstbestimmtheit auch eine wesenhafte Autonomie der Natur selbst entspricht. Mit diesem ästhetischen Blick auf die Natur befragt er die Schönheit der Natur im Hinblick darauf, durch welche realen Gesetzmäßigkeiten die Natur sich selber bestimmt. Sein ganzes naturwissenschaftliches Werk ist der Suche nach solchen schöpferischen Gesetzen in der organischen und anorganischen Natur selbst gewidmet.

Freie Entfaltung

e: In dieser Denkweise ist Schönheit in der Natur auch ein Ausdruck von Freiheit. Wenn sich etwas entfaltet, ist das auch ein ästhetischer Ausdruck, der mit der Wahrnehmung von Freiheit zu tun hat. Man könnte durchaus sagen, dass die Ästhetik der Natur auch mit der Entfaltung der Natur zu tun hat. Damit stellt sich die Frage: der Entfaltung von was? In der Freiheit von was? Hier kommen wir auf die Frage nach dem Wesen, es entsteht ein Blick auf die Natur, in der sich etwas Wesentliches entfaltet und als Schönheit wahrgenommen werden kann.

AZ: Diese Frage der Entfaltung spielt in Goethes Metamorphosenlehre eine ganz große Rolle. Die Pflanze hat ihre eigenen Bildungsgesetze, durch die sie sich aus sich selbst heraus entwickelt, eine bestimmte Wuchsform und bestimmte Blattorgane bildet. Diese Entfaltung kann man als schön empfinden und die Schönheit darin sehen, wie sich das innere Wesen der Pflanze in einer gewissen Hinsicht frei und autonom entfalten kann. Darin liegt aber ein bestimmter ästhetischer Blick auf die Natur, wie ihn Goethe und Schiller hatten.

In anderen Zeiten spielt dieser Blick auf die Natur keine Rolle. Wenn man den von Goethe konzipierten Park in Weimar mit den barocken Parkanlagen vergleicht, sieht man diesen Unterschied. Die Weimarer Parkanlage folgt mit ihren verschlungenen Wegen, Pflanzungen und Bebauungen den Impulsen der Flussläufe und den Gegebenheiten der Landschaft und lässt Wiesen, Sträuchern und Baumgruppen Raum zu ihrer Entfaltung. Ein barocker Park gewinnt seine Ästhetik dadurch, dass der Gärtner und der Landschaftsplaner dort ihre Formen hineinarbeiten und Pflanzen in ihrem Aussehen nach dem Ordnungswillen des Gärtners zugeschnitten werden.

e: Damit sprichst du die Frage an, von welcher Schönheit wir reden. In solch einem barocken Garten wird der Natur eine mathematisch rationalistische Ästhetik aufgezwungen. Es ist die Schönheit der rationalen Mathematik, die etwas über unser Verhältnis zur Natur aussagt. Und insofern ist die Schönheit, wie wir sie wahrnehmen, auch eine Frage unseres Verhältnisses zur Natur. Ein hochmodernistischer Techniker wird die platte Betonfläche mit einem Grünstreifen und glatten Beleuchtungen als technische Schönheit empfinden. Wenn wir davon reden, dass Natur schön ist, sprechen wir auch über unser Verhältnis zur Natur. Und offensichtlich gibt es unterschiedliche Verhältnisse zur Natur, und die Frage nach einer natürlichen Schönheit betrifft immer auch diese Beziehung zur Natur.

AZ: Ja, es gibt diese wesenhafte Bestimmtheit, wie sie von Goethe erforscht wurde, und wie sie mehr und mehr auch in der evolutionären Entwicklungsbiologie zur Geltung kommt. Es gibt Bildungsgesetze in der Natur, aus denen die Formen hervorgehen. Aber diese Formen dann schön zu finden, liegt im Blick des Betrachters. Bei aller Vorsicht, mit der man mit Begriffen wie subjektiv oder objektiv umgehen muss: Es gibt eine gewisse Objektivität in dieser Selbstbestimmtheit von lebendigen Organismen, von einer Pflanze, einem Tier, von Ökosystemen, von Natur überhaupt. Aber es als schön zu betrachten, wenn diese inneren Bildungsgesetze sinnlich erfahrbar werden, entspringt unserem Blick auf die Natur. Man kann eben auch einen Blick haben, in dem man es gerade dann als schön empfindet, wenn die Natur so zugeschnitten wird, dass diese Bildungsgesetze nicht mehr sichtbar sind.

e: In diesen verschiedenen ästhetischen Zugängen zeigt sich auch eine Wertehaltung gegenüber der Natur: Manche empfinden das Natürliche als schön, andere eher die technische »Bearbeitung« der Natur. Aber erschließt sich mit dem ästhetischen Blick auch etwas vom Wesen der Natur?

AZ: Ein technisch rationaler Blick wendet sich gerade nicht dem zu, was die Natur selber ausmacht. In einem zugeschnittenen Busch gestalte ich eine mathematische Form, und das Material ist zufälligerweise ein natürliches, das man problemlos durch einen künstlichen Busch oder einen künstlichen Rasen ersetzen kann, der dann wesentlich einfacher in dieser Form zu halten ist.

Goethe hingegen untersuchte mit einer naturwissenschaftlichen Methodik diese scheinbare Freiheit und kam zu dem Schluss, dass die Selbstbestimmtheit, die wir in einem Organismus oder in einer Landschaft sehen können, wesenhaft ist, also der Natur innewohnt.

Jenseits des schönen Scheins

e: Damit wird doch auch eine spirituelle Dimension angesprochen. Wenn sich in diesem Wesenhaften der Natur eine Schönheit zeigt, wird eine Erhabenheit sichtbar, die über das naturwissenschaftlich Sagbare hinausgeht.

AZ: Da wäre ich vorsichtiger. Um entscheiden zu können, ob diese Selbstbestimmtheit wirklich wesenhaft ist oder nur ein zufälliger Schein, muss ich eine wissenschaftliche Methode anwenden. Das war Goethes Herangehensweise: Er untersuchte, ob dem »schönen Schein« der Selbstbestimmtheit einer Pflanze wirkliche, wesenhafte Selbstbestimmung zugrunde liegt. Ist diese Metamorphosenreihe wesenhaft oder ist sie zufällig? Erscheint sie uns nur schön oder ist sie es im Sinne einer wirklichen Selbstbestimmtheit? Der Blick auf die Schönheit der Natur ist ein wichtiger heuristischer Zugang. Er lässt uns jene tiefen Gesetze der Natur erahnen. Doch das letzte Wort hat die naturwissenschaftliche Methodik.

EINE PFLANZE VOLLZIEHT AUS SICH SELBST HERAUS EINEN INDIVIDUELLEN ENTWICKLUNGSPROZESS.

Hierin liegt für mich durchaus etwas Spirituelles. Aber nicht in dem Sinne, dass hier etwas Übernatürliches erkannt wird, das die Naturwissenschaft nicht erfassen kann, sondern in ihrer an Wesenhaftigkeit interessierten Herangehensweise. Ich bin der Auffassung, dass sich Naturwissenschaft und Spiritualität in dieser Haltung begegnen. Sowohl Naturwissenschaft als auch Spiritualität geben sich nicht mit dem schönen Schein zufrieden.

In diesem Sinne kann der ästhetische Blick auf die Natur fragen, inwieweit in der Natur mehr am Werk ist als eine Bestimmtheit von außen durch Selektion und zufällig entstandene genetische Information. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der ästhetische Blick auf die Natur von einem rein technischen Zugang. Aber sowohl der Ansatz, Natur in ihrer technischen oder äußerlichen Bestimmtheit zu verstehen, als auch der Ansatz, Natur als aus sich selbst heraus bestimmt zu sehen, bedarf der Verifikation durch eine naturwissenschaftliche Methode, um wirklich zu sagen: »Ja, es ist so. Es scheint nicht nur so.«

e: Du bist Waldorflehrer. Ist dieses Verständnis von Schönheit auch irgendwie wichtig für deine Arbeit?

AZ: Gewiss. Natürlich erstmal in dem Sinne, dass ich unter anderem Naturwissenschaften unterrichte und meine Schülerinnen und Schüler mit diesem ästhetischen Blick auf Natur vertraut machen möchte. Aber diese ästhetische Dimension meiner Arbeit reicht für mich noch viel tiefer. Nicht umsonst bezeichnete Rudolf Steiner die von ihm begründete Pädagogik als eine »Erziehungskunst«. Und auch das meint nicht nur und noch nicht einmal vorrangig, dass in Waldorfschulen in einer schönen Umgebung viel gemalt, plastiziert, rezitiert und geschauspielert wird. Viel wichtiger ist für Waldorfpädagogik die Orientierung an den inneren Entwicklungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen. Es kommt nicht darauf an, Kinder mit Wissen vollzustopfen, ja es kommt nicht einmal in erster Linie darauf an, sie mit Kompetenzen für ihr späteres Leben auszustatten – was ja eine durchaus begrüßenswerte neue Orientierung der staatlichen Pädagogik ist. Es kommt uns darauf an zu fragen, was genau dieses Kind in genau diesem Alter für seine individuelle Entwicklung braucht. Das heißt nicht, dass die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen für das spätere Leben unwichtig wären. Doch wann und in welchem Umfang sie vermittelt werden, sagen uns die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes und Jugendlichen. Es geht also auch hier nicht um den »schönen Schein«, sondern um wesenhafte Schönheit. Genau in dem Sinne kann Pädagogik Kunst sein. Und in dem Sinne gibt es für mich nichts Schöneres als einen Menschen, der sich nach seinen tiefsten inneren Bedürfnissen entfalten kann.

Das Gespräch führte Thomas Steininger.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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