Die Gesellschaft des Lebens

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

February 2, 2024

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Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Über das Buch »Wie Wälder denken« von Eduardo Kohn

Wenn künftig darüber diskutiert wird, wann und wo unser Verständnis von »Natur« einer radikal gewandelten Idee Platz machte, dann verrate ich hier schon einmal die Antwort: bei Eduardo Kohn, Seite 135, dritter Absatz. »Mein Buch heißt ›Wie Wälder denken‹, nicht ›Wie Ureinwohner über Wälder denken‹«, schreibt dort der US-amerikanische Anthropologe. Denn Wälder denken, geradeso wie Menschen es tun, behauptet Kohn. Alle Wesen, die in ihnen leben und aus denen sie bestehen, die Bäume, die Papageien, die schillernden Schmetterlinge, die wilden Schweine und die Jaguare, sind lebende Selbste wie wir Menschen, so der Anthropologe. Sie sind Personen.

Damit legt Kohn ab, was seine Wissenschaft von ihrem Anbeginn bis um die letzte Jahrhundertwende definiert hat: die eiserne Regel, niemals etwas über die Welt, wie sie ist und vielleicht sein könnte, zu behaupten, sondern allein die Aussagen und Verhaltensweisen der Menschen zu protokollieren. Wäre Kohn dieser Regel gefolgt – und für seine Karriere bestand ein gewisses Risiko darin, mit ihr zu brechen –, hätte er ein pflichtbewusstes Werk darüber vorgelegt, wie die Menschen des Amazonasregenwaldes ihre Welt zu sehen glauben. Kohn aber geht einen Schritt weiter, ja er macht einen riesigen Sprung: Er übernimmt die Kosmologie der Amazonas-Indigenen, um deren Welt wirklich zu sehen. Und er erblickt in dieser Welt die Tiefe seines eigenen Menschseins – seine eigene Wirklichkeit und damit auch unsere.

Die Welt, die Kohn sieht, lebt. Sie ist kein Ding mehr, keine Ansammlung toter Materie, sondern eine Gesellschaft des Lebens, in der alle Mitspieler gleich welcher Spezies das universelle Begehren nach Leben, Verbundenheit und Sinn haben, das ihr und unser Handeln bestimmt. Es ist – wie der von ­Alexander Weber ins Deutsche übertragene Text leider etwas hölzern-akademisch beschreibt – das »Bedürfnis, mit semiotischen Selbsten als Selbste und in all ihrer Diversität zu interagieren«.

Alle Wesen erfahren die sie umgebende Welt angesichts ihrer existenzi­ellen Bedürfnisse als fundamental mit Bedeutung durchzogen. Das meint der Begriff »semiotisch«. Diese Erfahrung – ich erlebe mich als existenziell, Wert und Bedeutung, schrecklich und heilsam ausgesetzt – gehört fundamental zur Existenz. Alle – Schmetterlinge, Bäume und Jaguare – durchleben sie in ihrem inneren Zentrum, erfahren sie in Schmerz und Glück auf eine bewusste und ausdrucksvolle Weise, genau wie wir das von uns selbst kennen. Die Natur ist in diesem Bild keine maschinenhafte Szenerie scheinlebendiger Zombies und organischer Maschinen, die nur so scheinen, als erführen sie ihr Sein als emotionales Anliegen. Im Gegenteil: Alle, von der Larve eines Baumfrosches bis zur Orchidee im Kronendach, sind wie wir. Kohn sagt es so: »Jenseits des Menschlichen existieren noch andere Arten lebendiger Selbste.«

Damit findet der Anthropologe unfreiwillig – aber keinesfalls zufällig – Anschluss an eine ganz woanders liegende wissenschaftliche Disziplin: die Kognitionsforschung – oder jedenfalls deren ganzheitlich ausgerichtete Avantgarde. Schon in den 1990er-Jahren hatte der chilenische Biologe, Systemtheoretiker und Philosoph Francisco Varela zu zeigen versucht, dass jedes Lebewesen der beständige und von innen als bedeutungsvoll erfahrene Prozess ist, ein eigenes Selbst herzustellen. Ja, Varela definierte Leben geradezu als das, was ein Selbst herstellt, in Form eines dauernd vom Zerfall bedrohten und sich beständig in seiner Identität wieder bestätigenden Körpers. Natur wäre dann eine unüberschaubare Multitude solcher Selbstprozesse – ein unendlich verästelter Ozean des Empfindens, des Spürens, Wollens, Begehrens und Verstehens. Alles fühlt, weil jedes Leben die Selbsterschaffung einer fühlenden Perspektive ist.

»Jenseits des Menschlichen existieren noch andere Arten lebendiger Selbste.«

Das ist die natürliche menschliche Perspektive – automatisch und angeboren. Wir erfahren die Welt nicht nur als belebt, sondern als von lebenden Anderen beseelt. Solange den Menschen nicht von der Kultur des globalen Westens beigebracht wurde, dass die Spuren solchen Fühlens, die wir dauernd an anderen Lebewesen wahrnehmen – die beglückten Spatzen beim Sandbad, das ekstatisch sich ins Mailicht entfaltende Buchenlaub, der in Geborgenheit auf dem Sofa ruhende Pudel – bloß unsere eigenen Projektionen auf letztlich leblose und maschinenhafte Bioautomaten seien, sind wir Akteure einer durchseelten Wirklichkeit. Kinder erfahren alle Wesen als »lebendige Selbste« – bevor wir sie umprägen. Und eben auch die einst sogenannten »Wilden«, die Angehörigen animistischer Kulturen, die sich dadurch definieren, dass sie die Welt als einen Reigen von Personen, nicht als einen Haufen von Dingen ansehen.

Der Westen reagiert seit der Kolonialzeit bis heute auf eine solche Haltung mit Ablehnung. Die Zurückweisung kommt als ein Spektrum zwischen tödlicher Gewalt und leicht gönnerhafter Milde (Unsere Sichtweisen sind kulturabhängig, das haben wir gelernt, aber allein, dass wir uns dessen bewusst sind, gibt uns die Gewähr, dass wir es letztlich ja doch besser wissen. Und sagt nicht die Wissenschaft, dass alles aus Materie besteht? Und die ist per Definition tot).

Eduardo Kohn bricht mit dieser Selbstzufriedenheit. Stattdessen kehrt er den Spieß um: Er beschließt, bei den Bewohnern des Urwaldes in die Lehre zu gehen. So lernt er neu zu sehen, dass, was wir bislang »Natur« nannten, ein hochemotionaler Schauplatz des persönlichen Ausdrucks und des gegenseitigen Verstehens ist, auf dem man nur dann mit Anmut unterwegs sein kann, wenn man die Protokolle lernt, die einen höflichen Umgang mit anderen Selbsten ermöglichen.

Anders gesagt: Wer weiß, dass Leben sich immer, in jeder Spezies, als Personen manifestiert, die Anliegen haben wie wir, hat keine Möglichkeit mehr zu einer Kahlschlagpolitik. Er muss sich den Raum zu seiner eigenen Existenz durch vorsichtiges Aushandeln erarbeiten. Das ist in der Tat die Hauptbeschäftigung animistischer Kulturen: durch behutsames, die Bedürfnisse aller Wesen/Selbste einbeziehenden Tun den Raum für das Leben aller offen zu halten.

Eine »Anthropologie jenseits des Menschlichen« nennt Kohn seine im englischen Original zuerst 2013 erschienene Studie. Sie ist ein Schlüsseltext dafür, was heute »Posthumanismus« heißt: Der Abschied vom Dogma, dass allein der Mensch Sinn und Bedeutung erfahren und erzeugen könne. Ohnehin galt im Glaubenssatz, aus dem die westliche Wissenschaft erwächst, als Mensch unausgesprochen eigentlich nur der weiße, männliche, akademische und »rational« denkende Angloeuropäer.

Für Kohn ist klar, dass die Befreiung aus dem Ghetto des Irrationalen, Irrelevanten und Minderwertigen nicht nur die kolonialisierten Menschen betreffen darf, sondern sich auf alle Bedeutung erfahrenden – also fühlenden – Wesen erstrecken muss. Auch deshalb, weil alles menschliche Vermögen zu symbolischer Weltaneignung – Sprechen, Denken, Bilden, Schaffen – auf einem geteilten Urgrund beruht. Von diesem aus erzeugt sich Leben in Form von fühlenden und Bedeutungen erfahrenden Personen.

Von dieser Warte gesehen, sind wir Amazonasbaum und Jaguar, Bienenstock und Dschungelfluss. Die Bedeutungen tragenden Prozesse, aus denen sich all diese Entitäten – und auch wir – hervorbringen und verstehen, sind die gleichen. Erst so können wir wieder verstehen, dass die Welt kein fremdes Gefängnis ist, sondern zu uns spricht. Wir selbst bestehen aus ihrer Sprache. Letztlich vertritt Kohn einen modernen, philosophischen Animismus: Die Welt ist lebendig, und lebendig sein heißt, sich selbst zu erfahren, die Perspektive einer Person zu haben.

Während der Posthumanismus – und die Gesten des Dekolonialen allemal – in Seminarräumen gerade dabei sind, einen neuen Mainstream zu formieren, ist das ihnen zugrunde liegende Selbstverständnis noch lange nicht im Westen angekommen. Darum liest sich Kohns Buch (freilich tragisch gehindert durch die mit Jargon aufgeladene und viel zu sehr an der englischen Idiomatik klebende Übersetzung) auch nach zehn Jahren frisch und revolutionär. Jedem Käfer auf der Wiese den gleichen personalen Status zuzugestehen wie uns selbst und ihn entsprechend zu behandeln, das geht den in unserer anthropozentrischen Kultur Aufgewachsenen schwer bis gar nicht herunter.

Viel leichter fällt es vielen dagegen, selbst den Anthropozentrismus-Vorwurf gegen Autoren wie Kohn zu erheben. Wenn er behauptet, ein Jaguar habe ein »lebendiges Selbst«, projiziert er dann nicht das eigene, menschliche Ich auf ein anderes Wesen, das er gar nicht kennt? Ist das nicht respektlos und übergriffig?

Zunächst freilich muss, wer einen Animisten wie Kohn des Anthropozentrismus bezichtigt, diesen Vorwurf auch gegenüber seinen Mentoren, den Indigenen des Amazonas, erheben. Aber genau das haben die Kolonialisierer aus der Alten Welt jahrhundertelang getan, gerade das war eines ihrer schärfsten Abwertungsinstrumente. »Primitive« projizierten ihre naiven Vorstellungen in eine in Wahrheit unbelebte Welt hinein, war die gängige Position, sie seien heillos anthropozentrisch – aber »wir Gebildeten« wüssten, dass die Wirklichkeit in Wahrheit aus toter Materie besteht, die sich sinn- und ziellos zu Galaxien verklumpt und dann wieder zusammenzieht.

Was aber, wenn das Zentrum des »Anthropos« nicht das kleine menschliche Selbst ist, das alles besser zu wissen glaubt, sondern eben dieses gefühlte Begehren, am Leben zu sein und dieses Leben mit allen anderen Mitspielern zu teilen – also eine Existenz in »Beziehungen« zu führen, wie Kohn immer wieder betont? Dann ist das, was ergraute rationale Herren und manche »Posthumanity«-Vertreter*innen in seltsamer Geschwisterlichkeit als »Anthropozen­trismus« abtun, gar keine Fähigkeit oder Eigenschaft des Menschen. Es ist das Mehr-als-Menschliche, das dem Leben selbst Eigentliche, das auch durch uns zur Sprache kommt und ein Echo von tausend Mündern erfährt.

»Wir sollten uns nicht selbst unterschätzen«, schrieb der norwegische Tiefenökologe Arne Naess schon in den 1980er-Jahren. Für ihn ist unser eigentliches, »tiefes« Ich ein »ökologisches Selbst«. Dieses besteht aus den Flüssen und Wäldern, den Kranichzügen und Mückenschwärmen der Landschaft, mit der wir atmen. Wie Kohn erfand Naess mit dieser Haltung nichts Neues, sondern erinnerte uns bloß an die Quelle unserer lebendigen Wahrheit. Gehütet wird sie seit Jahrzehntausenden von den Menschen, die dem Anthropologen Kohn am Amazonas seine Lebendigkeit zurückschenkten.

Author:
Dr. Andreas Weber
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