Die Grenzen sind überschritten

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Essay
Publiziert am:

January 23, 2023

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AUSGABE:
Ausgabe 37 / 2023
|
January 2023
Re-Generation
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Wiederherstellung oder Bewusstseinssprung?

Wir haben unsere planetaren Grenzen überschritten, die ökologische Krise macht sich an vielen Stellen bemerkbar. Deshalb setzen viele Akteure und Initiativen auf eine Wiederherstellung unserer Lebensgrundlagen. Aber reicht das, um wirklich zukunftsfähige Lösungen zu finden?

Der Ruf nach Wiederherstellung oder Regeneration, der heute angesichts der ökologischen Krisen laut wird, ist für mich verständlich. Ich vermute aber, dass die in Regeneration gelegte Hoffnung für die Landwirtschaft aus einer Projektion unserer menschlichen Erfahrung kommt. Wir schließen von uns auf die natürliche Mitwelt. In der Tat ist das Regenerieren für jeden Menschen, der unter starkem Stress leidet, eine mit vielen Sehnsüchten, Erwartungen und Idealen verbundene Notwendigkeit. Ohne tiefe Erholung, Wiederherstellung einer gesunderhaltenden Balance zwischen Ruhe und Aktivität, nehmen Erschöpfung, Krankheitsanfälligkeit und Fehlerhäufigkeit zu. Die Anpassungsfähigkeit dagegen nimmt ab. Die Kreativität ebenfalls. Nur ein Mensch, der in der Lage ist, sich körperlich und psychisch zu regenerieren, verfügt über die notwendige Resilienz, um durch die stürmischen Wellen von Klimakrise, Krieg, Covid-Pandemie, Biodiversitätskrise zu navigieren. Er kann den Folgen der zunehmenden Zerstörung der ihn einbettenden, überlebenswichtigen Ökosysteme mit Lebensmut und ohne Depression entgegentreten. Und darum wissend, investieren mehr und mehr Menschen in ihre persönliche Regeneration. In einer anthropozentrischen Welt liegt dann der Schluss nahe, auch die natürliche Mitwelt und ihre Ökosysteme regenerieren zu wollen.

Praktiker, die in der Landwirtschaft in lebendigen Zusammen­hängen denken, wollen deshalb mit organischem Landbau, Permakultur und anderen sanften, agrar-ökologischen Verfahren und unter Einsatz mittlerer, fehlerfreundlicher Technologie die Böden, Gewässer und Landschaften mit und ohne Tierhaltung regenerativ kultivieren, so dass die Lebensfunktionen erhalten bleiben. Menschen, die an die technische Machbarkeit und maschinelle Bearbeitung von lebendigen Systemen und an die innovative Gestaltung von lebensfähigen Räumen mittels High-Tech glauben, setzen auf Geo-Engineering, Gentechnik, die Herstellung tierischer Produkte aus Zellkulturen, beschleunigte Digitalisierung und Nahrung aus dem Bioreaktor.

Beides greift vom Weltbild her zu kurz. Denn beides scheint häufig weiterhin vom Geist des Instrumentellen, des technisch Machbaren, der methodischen Manipulation geprägt zu sein. Und dieser wird den vielfältigen, hochgradig vernetzten Stoffwechselprozessen und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Atmosphäre, Geosphäre, Biosphäre, Soziosphäre und Technosphäre nicht gerecht.

¬ ES GEHT UM DIE GESTALTUNG ANPASSUNGSFÄHIGER SOZIO-ÖKOTOPE IN VERNETZTEN REGIONALEN KREISLÄUFEN. ¬

Was es also wirklich, wirklich bräuchte, wäre ein Bewusst­seinssprung mit einem neuen Welt- und Selbstverständnis des Menschen. Dieser Entwicklungssprung könnte im breiten Auf­greifen eines sich abzeichnenden neuen Paradigmas bestehen, dem der Planetaren Gesundheit. »The Lancet«, eine der ältesten und renommiertesten medizinischen Zeitschriften hat diesen Ansatz erstmalig 2014 veröffentlicht. Es geht um ein Verstehen und um neue Verfahren der Gesundung des gesamten Ökosystems, das aus vielfältigen natürlichen (biologischen, chemischen, geophysikalischen etc.) Faktoren und ihren Wechselwirkungen mit menschlicher Zivilisation und der Vielfalt der Kulturen und Kulturtechniken besteht. Hier wird, nach den Vorläufern der Gaia-Theorie von James Lovelock und Lynn Margulis, ein Ganzes des Lebens auf dem Planeten und seiner nachhaltigen Weiterentwicklung angenommen. Die vielfältigen Bemühungen holistischer und/oder integraler Ansätze, Leben in seiner dynamischen Selbstorganisation zu begreifen, finden im Paradigma der Planetaren Gesundheit derzeit einen Kulminationspunkt. Wenn dieses Paradigma weltweit Leitbildcharakter bekäme, dann würde die co-evolutionäre Gestaltung, Pflege und Hege von verletzten Ökosystemen Hand in Hand mit der Genesung gestresster Menschen und Zivilisationen gehen, die allesamt im Feuer des planetaren Burnouts stehen.

In den noch zu findenden bzw. weiter auszubauenden landwirtschaftlichen Verfahren gemäß dem Leitbild der Planetaren Gesundheit – dazu gehören z. B. Mischfruchtanbau, Agroforst, Wiedervernässung von Mooren, Renaturierung von Gewässern und vieles mehr – geht es um die Ermöglichung biologisch ­resilienter Ökosysteme. Und zwar im engsten Austausch mit psychischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Erneuerung. Hauptziele der Rekultivierung von Ökosystemen sind Biotope der Naturlandschaft, die traditionelle Kulturlandschaft, aber auch städtische Biotope, die sich unter den Kriseneinflüssen und dem Fortschritt in Wissenschaft und Technik langsam herausbilden. Hauptziel der Kultivierung menschlicher und wirtschaftlicher Systeme im Paradigma der One Health, wie die Planetare Gesundheit auch bezeichnet wird, ist die Schaffung von Randbedingungen, unter denen die Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde für möglichst viele gerade durch kooperative Entwicklung erhalten bleiben. Es geht um nicht weniger als die Gestaltung integrer und zugleich anpassungsfähiger Sozio-Ökotope in vernetzten regionalen Kreisläufen. Eine neue öko-soziale und kulturelle Stabilisierung des planetaren Lebenssystems wird dabei evolvieren.

Der Bewusstseinssprung hin zu Planetarer Gesundheit ist groß. Neben einer neuen Verortung im Raum im Sinne des bioregionalen Ansatzes braucht es vor allem ein neues Verständnis von Zeit. Die Zeitgestalten der Veränderung sind vielfältig: Kurzfristige Veränderungen sind eingebettet in langfristige Entwicklungen. Leben verläuft gleichzeitig, aber nicht alle Prozesse mit gleicher Geschwindigkeit. Nichts ist dauerhaft, alles wandelt sich in seiner individuellen Dynamik. Es gibt Abbruch und Umbruch, lineare und nicht-lineare, sprunghafte Entwicklungen. Organismen haben ihre Eigenzeit und stimmen sich auf die für sie überlebenswichtigen Zeiten anderer Organismen ab. Die Rhythmen der Stadt sind anders als die des Lands oder der Gewässer. Mal braucht es Beschleunigung, mal Verlangsamung, mal Verstetigung seitens des menschlichen Gestaltens der Zeit. In der derzeitigen Zivilisationskrise wird zu viel Zeitdruck auch beim »Retten des Planeten« mit regenerativen Ansätzen gemacht und zu wenig auf die Zeitökologie geachtet. Planetare Gesundheit bedeutet deshalb in einer neuen Raum-Zeit anzukommen und in diesem Bewusstsein das Not-Wendende zu tun.

Author:
Prof. Franz-Theo Gottwald
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