Die Nachrichten über die Fälle sexueller Belästigung und Gewalt im Filmgeschäft und in der Politik haben in den letzten Monaten viele Menschen weltweit bewegt. Auch in einem meiner Seminare brachte eine junge Teilnehmerin das Thema ein, das wir in Form einer systemischen Aufstellung erforschten. Sehr schnell entstand zwischen allen Repräsentanten des Feldes ein polarisierendes Muster von Opfer-Täter und das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken. Jenseits von Wut und Verletzung waren Ratlosigkeit und Ohnmacht spürbar.
Das allgegenwärtige menschliche Erleben von Gewalt in all ihren dysfunktionalen und zerstörerischen Ausdrucksformen macht vor unserer modernen und post-modernen Welt nicht halt. Wenn wir nach Ursachen forschen, kommen wir stets auf Macht als Hauptantrieb. Diese wiederkehrenden, schmerzhaften Erfahrungen sehe ich als einen dringlichen Aufruf und eine Chance, uns dem zugrunde liegenden Thema der Macht im kollektiven Bewusstsein offen, differenziert und kreativ zu stellen.
In unserer kollektiven Erfahrung scheint ein ungesunder bis pathologischer Ausdruck von Macht vordergründig zu sein, und zwar Macht verstanden als »Macht über«. Wenn ich in Workshops die Frage stelle, womit die TeilnehmerInnen Macht verbinden, assoziieren sie sie fast einstimmig mit einer negativen Energie, die Angst auslöst, und die es gilt, in sich und anderen zu verdrängen und zurückzuweisen. Oder sie spüren eine starke Ambivalenz zwischen Anziehung, Faszination und Ablehnung, Abscheu. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir verstehen, dass unsere kollektive Erfahrung von Machtausdruck auf einem 7000 Jahre alten patriarchalischen Verständnis von »Macht über« gründet. Entsprechend wird Macht im allgemeinen Sprachgebrauch meist dem Wortfeld des Begriffs Herrschaft zugeordnet.
Dieser einseitige und reduzierte kollektive Blick auf Macht steht in Wechselwirkung mit unseren individuellen Erfahrungen mit Erziehungspersonen. Im Alter von zwei Jahren spüren wir zum ersten Mal unsere Macht, wir entwickeln ein Gefühl dafür, dass wir unser Umfeld beeinflussen können. Wir sehen, dass wir durch unseren Willen eine Wirkung erzeugen können. Wie oft haben wir in dieser hochsensiblen Lernphase im Umgang mit unserer Macht erlebt, dass diese Impulse des Selbstausdrucks sofort unterdrückt werden? Wir lernen, dass Machtausdruck unerwünscht bzw. gefährlich ist. Interessant, dass Erwachsene diese Zeit als »Trotzphase« bezeichnen.
Wie wäre es, wenn wir gemeinsam ein neues Narrativ zur Macht kreieren?
Wie wäre es, wenn wir gemeinsam ein neues Narrativ zur Macht kreieren? Eine erweiternde Perspektive, die uns ermöglicht, Räume für einen kraftvollen, gesunden und schöpferischen Ausdruck dieser Kraft zu gestalten? Was würde es verändern, wenn wir »Macht für und mit« leben, anstatt »Macht über«?
Damit würden wir uns auf die Etymologie des Begriffes zurückbesinnen, die Macht als »den Umfang der physischen und psychischen Handlungsmöglichkeiten einer Person oder Personengruppe« definiert (Wikipedia). Die zwei indogermanischen Wurzeln weisen auf die Wörter »formen, bilden« und »machen, vermögen« hin. Viele von uns erleben glücklicherweise diese Form von »Macht für«, vielleicht ohne dieses Erfahren mit Macht zu verbinden.
Einige meiner kraftvollsten Machterlebnisse hatte ich als Tänzerin und Choreografin auf der Bühne. Wenn es uns nach monatelangen Proben gelingt, durch unsere Darstellung das Publikum zu berühren, Emotionen auszulösen und durch einzelne Gesten auf die Zuschauer zu wirken, stellt sich ein Gefühl von Macht ein. Wir werden gewahr, dass wir Einfluss nehmen können, wobei unser Wirken aber immer nur als Einladung verstanden werden soll. Das Publikum hat die Freiheit zu entscheiden, ob es sich be-ein-fluss-en lassen will. Die Künstlerin eröffnet in diesem Moment Räume, wo die Zuschauer sich ebenfalls als machtvoll erleben können, indem sie deren eigene innewohnende schöpferische Kraft spiegelt.
Auch im Bereich Leadership gibt es ein enormes Potenzial für das Ausleben von »Macht für und mit«. Führungskräfte, welchen ich diese erweiterte Perspektive vorstelle, reagieren meist sehr positiv, nahezu befreit. Darin erkennen sie die Möglichkeit, eine neue Identität als Leader zu bilden, jenseits des Paradigmas des Herrschers. Sie nutzen ihre Macht, um die Bedingungen zu schaffen, die es braucht, damit ihre Mitarbeiter ihr Höchstpotenzial im Dienste der gemeinsamen Vision ausdrücken. Sie erkennen, dass sie nicht auf Macht verzichten müssen, sondern dass sie sie anders verkörpern können: Meine Macht ermöglicht mir, andere zu ermächtigen.
Zurück zu unserer Aufstellung. Als der Repräsentant der »integralen Perspektive« anregte, die Präposition »über« durch »für« zu ersetzen, löste sich unmittelbar die Ohn(e)Macht in der Gruppe auf, und die Energie kam wieder in Fluss. Ein kleines Wort mit großer Wirkung.