Die innere Wirklichkeit

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Essay
Publiziert am:

August 1, 2014

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Ausgabe 03 / 2014
|
August 2014
Maschinen meditieren nicht
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Werte und Bewusstseinskultur

Philosophie und Meditation erfreuen sich heute neuer Popularität. Könnte eine kreative Verbindung beider Erkenntnis-Wege eine neue Bewusstseinsforschung begründen?


Vor zehn Jahren waren führende deutsche Neurowissenschaftler in einem „Manifest der Neurowissenschaft“ überzeugt, dass eine Erklärung des Bewusstseins durch das Verstehen der zugrundeliegenden neurologischen Prozesse nur noch eine Frage der Zeit sei. Heute räumen viele Hirnforscher jedoch ein, dass eine solche Erklärung des Bewusstseins in immer weitere Ferne rückt. Gleichzeitig lässt sich in unserer hochtechnologischen Kultur eine zunehmende Sehnsucht nach tieferen Erfahrungen des eigenen Bewusstseins feststellen, die sich im wachsenden Interesse an Achtsamkeit und Meditation zeigt. Auch die Philosophie findet wieder mehr populären Anklang; Bücher, Magazine und Konferenzen zu philosophischen Themen sind im Aufwind. Und anerkannte Philosophen wie Thomas Nagel oder Ronald Dworkin treten mit Beiträgen an die Öffentlichkeit, in denen sie die Bedeutung unserer eigenen Erfahrung von Bewusstsein zum Thema machen. Vielleicht kündigt sich in der Konvergenz dieser aktuellen Strömungen die Entstehung einer Bewusstseinskultur an, in der die innere Erfahrung, Erforschung und Entwicklung von Bewusstsein neuen Raum bekommt. Dazu müssen wir aber zunächst zulassen, dass innere Erfahrungen uns tatsächlich einen Bereich der Wirklichkeit erschließen, der nicht auf materiell-physikalische Prozesse reduzierbar ist.

Meditation und Äpfel

Achtsamkeitsmeditation und verwandte Übungen eröffnen vielen Menschen einen Weg, um sich ihrem Inneren in bewusster Weise zuzuwenden. Zu diesem Interesse hat auch die Wissenschaft beigetragen, weil gezeigt werden konnte, dass Meditation messbare Veränderungen im Gehirn bewirkt, zum Beispiel in den Hirnströmen, aber auch in der neuronalen Struktur des Gehirns durch Neuroplastizität. Dass Menschen, die Meditation üben, einen positiven Wandel ihrer Stimmung, Lebensqualität oder Kreativität feststellen, wird damit erklärt, dass entsprechende Hirnreale, die für diese Empfindungen zuständig sind, stärker aktiviert werden. Die inneren Zustände, die in der Meditation erfahren werden können, wie Stille, innerer Frieden, Gelassenheit oder Verbundenheit, werden letztendlich auf Veränderungen im Gehirn zurückgeführt. Doch das ist, wie so oft, wohl nur die halbe Wahrheit.

Angesichts einer technisierten Welt wollen wir uns unseres Inneren vergewissern und die Qualitäten und Werte entwickeln, die wir darin gewahr werden.


In spirituellen Traditionen war Meditation immer auch ein Weg, um uns mit einer geistigen Dimension der Wirklichkeit in Berührung zu bringen. Der integrale Philosoph Ken Wilber fasst die Fragestellung so: „Wenn wir einen Apfel wahrnehmen und sagen, ‚Ich sehe einen Apfel‘, und das Gehirn in einer bestimmten Weise aktiviert wird, folgern wir üblicherweise daraus nicht, ‚Der Apfel existiert als ein Hirnstrommuster; darüber hinaus hat es keine Realität.‘ Nein, wir folgern daraus, dass der Apfel ein reales Objekt in der realen Welt ist, und wenn das Gehirn ihn wahrnimmt, wird es in bestimmter Weise aktiviert.“
Wenn ein Mönch über Mitgefühl meditiert und dabei bestimmte Hirnareale aktiviert werden, ist ein geistig wahrgenommener Wert wie Mitgefühl, Liebe oder Empathie vielleicht genauso real und damit Teil unserer Wirklichkeit, wie ein Apfel und nicht etwa nur eine subjektive Konstruktion oder eine kulturell erlernte Haltung. Hier stellt sich also die Frage: Wenn wir in spirituellen Erfahrungen, in künstlerischer Inspiration, in der Betrachtung der Natur, im Berührtsein von der Würde eines Menschen den Eindruck haben, mit ewigen Werten und einem tieferen Geheimnis des Lebens verbunden zu sein, werden dann einfach nur bestimmte Hirnströme aktiviert oder kommen wir mit einer geistigen Wirklichkeit des Lebens selbst in Berührung?

Spiritueller Atheismus

Spirituelle Traditionen würden diese Frage natürlich zugunsten des Wirklichkeitsgehalts spiritueller Erfahrungen beantworten. Sie haben in vielen Fällen ein eigenes System entwickelt, wie diese tieferen Dimensionen der Wirklichkeit erfahren werden können – und Kriterien, wie authentische Erfahrungen von Einbildungen unterschieden werden können. In diesem Sinne beschreibt der Wissenschaftstheoretiker Harald Walach Übungen wie Meditation als eine Form der Erkenntnis: „Das, was wir als Meditation bezeichnen, ist eigentlich das Programm der Kultivierung einer Innerlichkeit im Dienste von Erkenntnis, und zwar einer Erkenntnis der Welt von Innen her. Und diese Erkenntnis der Welt von Innen führt uns zur inneren Struktur der Welt, nämlich, unter anderem, der Werte. So ähnlich wie atomare Kräfte oder Strukturen das materielle Gefüge der Welt garantieren, das wir von außen erkennen, so ähnlich sind Werte die inneren Strukturen der Welt, behaupte ich, die wir von innen erkennen.“

„Das, was wir als Meditation bezeichnen, ist eigentlich das Programm der Kultivierung einer Innerlichkeit im Dienste von Erkenntnis.“
Harald Walach


Diese Frage nach der Natur unserer inneren Erfahrung hat in jüngster Zeit zu einigen interessanten Beiträgen namhafter Philosophen geführt. Thomas Nagel, einer der bekanntesten analytischen Philosophen der Gegenwart, hinterfragt in seinem kontroversen Buch „Geist und Kosmos“ die materialistisch-neodarwinistische Annahme, dass Bewusstsein, menschliche Erkenntnisfähigkeit und Werte sozusagen Nebenprodukte eines materiellen Universums sind. Für ihn muss die Wirklichkeit von Grund auf mehr umfassen als materielle Prozesse, biologische Funktionen und zufällige Mutationen, damit in diesem Kosmos bewusste Wesen wie wir entstehen – die diesen Prozess betrachten können. Eine angemessenere Sichtweise der Wirklichkeit müsse „Geist und Vernunft als grundlegende Aspekte einer nichtmaterialistischen Naturordnung erkennbar machen“. Der materiellen Außenseite des evolutionären Prozesses wohne also ein Potenzial inne, das Leben und Bewusstsein möglich macht.
Der kürzlich verstorbene Philosoph Ronald Dworkin argumentiert in seinem posthum veröffentlichten Buch „Religion ohne Gott“ in eine ähnliche Richtung. Er geht davon aus, dass wir diese geheimnisvolle Wirkkraft im Universum erleben können: in Erfahrungen der Erhabenheit, des Schönen im Universum und der Würde des Menschen, die auf eine Dimension der Wirklichkeit hinweisen, die sich nicht nur dem wissenschaftlichen Verstehen entzieht, sondern unserem Leben auch Sinn verleiht. Diese Dimension „ist nicht Teil der Natur, sondern etwas jenseits von ihr, das wir selbst dann nicht werden erfahren können, wenn wir noch die Gesetze der Physik endlich verstanden haben. Einstein glaubte fest daran, dass das Universum von einem objektiven Wert durchdrungen ist, der weder ein Naturphänomen noch eine subjektive Reaktion auf ein Naturphänomen ist.“ Diese Erfahrungen unterscheidet Dworkin von den metaphysischen Interpretationen religiöser Traditionen, die solche Urerfahrungen des Erhabenen mit einem bestimmten Gottesbild verbinden. Der „Spiegel“ griff pünktlich zu Pfingsten Dworkins Ideen auf und titelte „Ist da jemand? Die Zukunft der Religion: Glaube ohne Gott“.

Bewusstseinskultur

Für Dworkin  hat die Verständigung über solche Erfahrungen des Erhabenen auch eine kulturelle Bedeutung. Seine Hoffnung war, dass es die Konflikte zwischen Gläubigen und Atheisten und auch zwischen den Religionen entschärfen könnte, wenn wir anerkennen, dass wir alle in je eigener Weise EINE „Macht des Wunderbaren“ erfahren.
Dworkins Argumentation bekommt zusätzliche Relevanz durch einen kulturellen Schatz, den wir gerade erst zu heben beginnen. Spirituelle Traditionen und die darin vermittelten Übungen bieten systematische Wege zur Erfahrung dieser geheimnisvollen Dimension des Erhabenen. Mehr noch, heute sind wir durch die globale Kommunikation in der außerordentlichen Lage, dass sich diese Traditionen untereinander und mit anderen Disziplinen über das Wesen und die Struktur, die Werte und ethischen Implikationen der inneren Dimension des Bewusstseins auf einer ganz neuen Ebene austauschen können. Die Stärke der Philosophie war es immer, uns die Interpretation innerer Erfahrungen zu ermöglichen. Philosophisches Fragen trägt auch dazu bei, innerhalb der spirituellen Traditionen entstandene, vielleicht unzeitgemäße Kontextualisierungen dieser tieferen Erfahrungen unter Einbezug des heutigen Erkenntnisstandes neu zu deuten.
Was damit als Möglichkeit aufscheint, ist eine erweiterte Form der Bewusstseinsforschung im Dialog von Philosophie, Spiritualität, Kunst, Religion, Psychologie, Ethik und anderen Disziplinen, die in Ergänzung zur Außenperspektive der Neurowissenschaft die inneren Räume unserer Erfahrung erhellt. Es sind vor allem auch die Entwicklungen der Technik, die die Notwendigkeit einer solchen integralen Bewusstseinskultur nahelegen. Der Stress, der durch ständige Vernetzung mittels Computern und Smartphones allgegenwärtig ist, dürfte mit ein Grund dafür sein, warum immer mehr Menschen einen Ausgleich in Meditation und Achtsamkeit suchen. Ja, vielleicht noch mehr als einen Ausgleich: Angesichts einer technisierten Welt wollen wir uns unseres Inneren vergewissern und die Qualitäten und Werte entwickeln, die wir darin gewahr werden, wie Freiheit, Mitgefühl oder Verbundenheit mit allem Leben. Spirituelle Wege bieten Übungen, um diese innere Welt zu erkunden. Heute brauchen wir den Erfahrungsraum, den sie uns eröffnen, vielleicht dringender denn je. Denn wir brauchen neben den atemberaubenden Möglichkeiten der Technik, die heute vorangetrieben werden, auch eine Besinnung auf die nicht weniger atemberaubenden Möglichkeiten unseres Bewusstseins.

Author:
Mike Kauschke
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