Die Kunst aufzuhören

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Kolumne
Publiziert am:

February 2, 2024

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Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Vor einigen Wochen gönnte ich mir eine entspannende Massage. Und dann – als der Therapeut das Tuch zum Ausruhen über mich legte – war mir plötzlich, als ­läge ich auf meinem Totenbett. In den Klängen der begleitenden Musik hörte ich die Totenglocke läuten. Und die große Frage stand vor mir: Wofür wird es sich gelohnt haben, wenn es dann aufhört, das Leben?

Wie würden wir also unser Leben leben, wenn uns dessen Aufhören bewusst wäre? Worauf würden wir hören, wenn wir in dem Bewusstsein lebten, dass alles jederzeit aufhören kann?

Dieses mehrdeutige Aufhören ist wirklich eine hohe Kunst. Eine Kunst, die wir in unserer krisengeschüttelten Zeit dringend brauchen. Wir ahnen dunkel, dass wir nicht imstande sind aufzuhören mit so vielem, was »eigentlich« notwendig wäre. Wir sitzen in der Falle der selbstgemachten Umstände und geben uns meist mit kleinen Kurskorrekturen zufrieden, von denen wir uns die kleine Beruhigung in der großen Beunruhigung erhoffen.

Doch seien wir ehrlich, unsere Welt ruft nach radikalem Aufhören. Die Frage ist nur: Wie gelingt es uns, diese Kunst auch angemessen in die Praxis umzusetzen? Die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer meint dazu: »Um aufzuhören, muss man sich nicht abwenden, sondern gerade zuwenden, muss man ganz Ohr werden.«


»Die oberflächlichen schnellen Reparaturen genügen nicht mehr.«

Dieses Zuwenden braucht all unseren Mut, so beschreibt es auch der Systemwandel-Forscher Otto ­Scharmer in seiner Theorie U. Denn wenn wir wirklich in der Tiefe etwas Neues in die Welt bringen wollen, braucht es zuerst den Mut, das »Alte« loszulassen (»letting go«) – nicht nur Verhaltensweisen an der Oberfläche verändern, sondern auch Strukturen, Überzeugungen und Weltbilder in der Tiefe »sein lassen« und dann dem lauschen, was da kommen könnte.

Das »Sein-Lassen« enthält wie das Auf-Hören eine Doppeldeutigkeit: denn beim Sein-Lassen geht es nicht um ein bloßes Weghaben-Wollen, sondern um »Sein-Lassen«. Das bedeutet, sich dem, was ist, zuzuwenden, es in der Tiefe anzunehmen, damit es sich dann wandeln kann. »Was ist, darf sein, sonst bleibt’s«, so beschrieb es Carl Rogers. Oder mit den Worten von Otto ­Scharmer: »make the system see and sense itself« – das System dazu bringen, sich selbst zu sehen und zu spüren – als Basis für tiefe Transformation.

Diese Form des Annehmens kann ganz schön wehtun: Turbokapitalismus – annehmen? Himmelschreiende Ungerechtigkeit – annehmen? Die Zerstörung der Artenvielfalt – annehmen?

Ja. Denn nur so kommen wir aus dem oberflächlichen »Kampf gegen« heraus und lassen das, was ist, wirklich an uns heran – auch die damit verbundenen Gefühle von Ohnmacht, Schmerz, Wut, Trauer. Und was sich dann einstellt, ist Nicht-Wissen.

Denn wir wissen dann nicht mehr, was wir wirklich tun sollen. Die oberflächlichen schnellen Reparaturen genügen nicht mehr. Und genau das führt uns noch tiefer im Prozess des Sein-Lassens. Denn es bedeutet auch eine Art »Sterben«. Es darf unser Ego »zugrunde gehen«: Wir dürfen die Idee loslassen, dass das, was geschieht, nur durch unser Tun entsteht. Stattdessen dürfen wir warten, auf das, was kommen mag. Warten, bis aus der Tiefe der Stille der Impuls für etwas Neues kommt. Diese Qualität des Seins ist im zyklischen Welt- und Naturverständnis im Winter verankert. Es ist die Zeit, wo alles in der Natur scheinbar »stirbt«, sich aus dem Äußeren zurückzieht und im Inneren transformiert, so dass daraus neues Leben entstehen kann. Die Kraft für das äußere Tun bekommen wir aus diesem Sein, das warten kann.

Angesichts der vielen Jahrzehnte des Nicht-Handels und Zögerns, zum Beispiel in der Klimapolitik, mag dieser Aufruf zum Nichtstun fast zynisch klingen. Aber vielleicht ist diese Rückbesinnung auf die zyklische Qualität allen Lebens schlicht eine Notwendigkeit und die Basis für unsere Handlungsfähigkeit!

Denn wir könnten die Erfahrung machen: »Das, was wir tun, entspringt nicht in uns, sondern wir sind getragen vom viel größeren Gewirk des Lebens.« So beschreibt es die Ethnologin und Naturmystikerin Ursula Seghezzi. Aus diesem Getragen-Sein heraus ist unser Tun vielleicht langfristig kraftvoller und wirksamer als im Getriebe des rasenden Stillstands.

Author:
Hemma Rüggen
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