Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 18, 2022
In seinem neuen Buch »Europas Zweite Renaissance: Mensch, Natur und Kunst im Anthropozän« entfaltet der Hamburger Komponist und Musikphilosoph Wolfgang-Andreas Schultz eine aufrüttelnde und zugleich inspirierende Verlustgeschichte unseres Kontinents. Es geht um die Frage, wie die Krise der modernen Kunst und das täglich zunehmende ökologische Desaster unserer Welt zusammenhängen. Kann es sein, so fragt Schultz, dass das moderne Ich sich in den letzten Jahrhunderten in seiner Tendenz zu Autonomie und Rationalität so stark von der Natur und von allem »Göttlichen« abgespalten hat, dass es nun schlimme Folgen davon erleiden muss? In einem vorangehenden Buch hatte der Autor gar von einem »verlorenen Ich« gesprochen, welches der dringenden Heilung bedürfe, wenn es nicht in Depression, Kälte und Selbstzerstörung untergehen wolle. Im neuen Buch nun wird in ausführlichen historischen Exkursen dargelegt, wie es dazu kommen konnte.
Schultz beginnt bei der Entstehung des Monotheismus, der sowohl in der jüdischen wie in der christlichen Tradition die Ablösung von vielen Naturgöttern forderte, hin zu dem EINEN abstrakten und entrückten Gott. Dadurch sei es zu einer »Entweihung der Natur« und zur »Trennung des Schöpfergottes von seiner Schöpfung« gekommen, beides dramatische Einschnitte im spirituellen Leben Europas, die bis heute negative Auswirkungen zur Folge hätten. Bei diesen Analysen stellt der Autor spannende Fragen: Bedeutete das Wort »Geist« nicht ursprünglich in seiner aramäischen Bedeutung auch »Atem« und »Wind«, schwang darin früher nicht auch eine »naturhaft-körperliche Ebene« mit? Und lassen die von Jesus Christus überlieferten Heilkünste eventuell darauf schließen, dass er auch schamanische Fähigkeiten besaß?
Durch die Vorherrschaft vor allem des christlichen Monotheismus kam es zur Verdrängung, ja Vernichtung vieler älterer spiritueller Traditionen, was zu einer großen Verarmung des geistig-kulturellen Lebens in Europa führte. Alles, was in antiken Mysterienkulten, Mythen und naturphilosophischen Weltbildern über Jahrhunderte gedacht und praktiziert worden war, verfiel dem Verdikt des »Heidnischen« und wurde z. T. mit Gewalt verfolgt und ausgelöscht. Doch Schultz argumentiert differenziert, er verherrlicht keineswegs die archaisch-polytheistischen Kulte der alten Griechen, Kelten oder Germanen, versäumt aber nicht, auf ihr unterschwelliges Nachwirken in diversen europäischen Geistesströmungen hinzuweisen.So führte etwa das »keltische Christentum« Irlands gewisse naturspirituelle Vorstellungen der Vorzeit in sublimierter Form weiter, ebenso Denker wie Johannes Scotus, Giordano Bruno, Jakob Böhme oder alchemistische Autoren des Mittelalters. Zwar hatte Galileo Galilei großen Einfluss mit seiner Maxime, wonach das »Buch der Natur« in »mathematischer Sprache« geschrieben sei und man »die lebendige Kreatur entfernen« müsse, um zum wahren Verständnis des Kosmos zu kommen, aber ältere Vorstellungen einer beseelten Natur ließen sich nicht vollständig beseitigen. Spinoza, Beethoven, Mozart, Hölderlin, Novalis und Goethe etwa hielten daran fest und gaben diesem »Kosmotheismus« in ihren Partituren und Texten viel Raum. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte eine allmähliche Ablösung von mystischen Traditionen und pantheistischen Naturkonzepten hin zu einem modernen Kunstbegriff, der für Schultz von Abstraktion, Gottesferne und einer gewissen Kälte bestimmt ist. Autoren wie Byron, Mallarmé, Valéry und Baudelaire huldigten dem Dunklen, Morbiden, »Bösen« und »Satanischen«, Maler und Architekten wie Kasimir Malewitsch und Le Corbusier verhöhnten die »Gefühlsduselei« und »Naturseligkeit der alten Generation« und favorisierten eine kühle abstrakte Gegenwartskunst, die sich endlich von Gott und überkommenen Traditionen abgelöst hatte. Einflussreiche Kunstphilosophen wie Theodor W. Adorno befestigten diese neue Anschauung und machten sich nur noch lustig über Komponisten wie Jean Sibelius, die alte Mythen und Naturgötter in ihre Kompositionen einzubinden versuchten: »Der große Pan, je nach Bedarf auch Blut und Boden«, so schimpfte der Frankfurter Philosoph, »stellt prompt sich ein. Das Triviale gilt fürs Ursprüngliche, das Unartikulierte für den Laut der bewusstlosen Schöpfung.«
¬ FÜHRTE DIE ELIMINIERUNG ÄLTERER SPIRITUELLER TRADITIONEN AUS DEM MODERNEN GEISTESLEBEN ZU EINEM ÖDLAND? ¬
Doch war diese von Kulturtheoretikern und Künstlern im 20. Jahrhundert propagierte »Fortschrittsgeschichte« – so fragt Schultz – nicht auch eine des Verlustes und der Verarmung, die heute durch eine »zweite Renaissance« korrigiert werden müsste? Führte die Eliminierung älterer spiritueller Traditionen aus dem modernen Geistesleben nicht sowohl ökologisch als auch in der Kunst zu einem Ödland, zu einer Austrocknung von kulturellen Räumen, die uns heute schwer zu schaffen macht?
So berechtigt die Anklagen dieses Buches sind, so spart es doch leider Ausnahmen und Lichtblicke innerhalb der desolaten Situation der »Moderne« aus. Neben Arnold Schönberg und Kasimir Malewitsch gab es auch einen Franz Marc und Paul Klee, neben Barnett Newman und Jackson Pollock einen Joseph Beuys und Anselm Kiefer, die alle mythologische und naturspirituelle Traditionen in ihrer Kunst beerbten. Im Kino konnte man nicht nur das asketische »Cinéma vérité« bewundern, sondern auch den Mystiker Andrei Tarkowski, und in zeitgenössischer Dichtung und Musik herrschten neben »atheistischen« und naturfeindlichen Stimmungen auch noch ganz andere Farben. Davon künden etwa die Lyrik von Sarah Kirsch und Peter Huchel, die poetischen Hymnen eines Peter Handke oder die Werke der baltischen Komponisten Arvo Pärt und Pēteris Vasks, um nur wenige herausragende Beispiele zu nennen.
Dazu kommen noch ganz neue kulturelle Bereiche, über die »seriöse« Wissenschaftler und Philosophen leider noch zu wenig sprechen. Gerade im Internet und in der Esoterikszene ist eine gewaltige Renaissance all des »rejected knowledge« (Wouter J. Hanegraaff) zu bemerken, das Schultz als verdrängt und verloren ansieht: Magie, Hexenwissen, Schamanismus, Naturreligion, Neuheidentum, die Weisheit der Großen Göttin, die Welt der Kelten und Germanen, Hildegard von Bingen, die Mythen indigener Völker feiern hier geradezu »fröhliche Urständ«, unbekümmert darum, was naserümpfende Theologen und Kulturphilosophen dazu sagen. Verdrängtes schießt gewaltig empor, was noch nicht heißt, dass hier immer auf hohem geistigen Niveau gearbeitet wird. Vor allem der künstlerische Ausdruck dieser quasi aus dem Untergrund hochgeschwemmten Inhalte lässt zu wünschen übrig: ein neuer Rainer Maria Rilke, Joseph Beuys, Gustav Meyrink oder Andrei Tarkowski ist hier nicht in Sicht. Aber die riesigen digitalen Räume lassen immerhin neue anarchische Freiheiten und spielerische Ausdrucksformen zu, die sich von keiner Dogmatik mehr einschränken lassen, sich aber auch keiner ästhetischen Evaluierung beugen werden. Hier tut sich ein geradezu wildes und labyrinthisches Feld der Forschung auf, das unbedingt mehr von Kunsthistorikern, Medien- und Religionswissenschaftlern bearbeitet werden müsste.
Auch wenn Schultz’ brillante Analysen solche aktuellen Phänomene auslassen, so führen seine Gedankengänge doch zwangsläufig in diese Richtung und regen zumindest weitere Forschungen an, um noch genauer benennen zu können, wie »Europas Zweite Renaissance« denn konkret aussehen könnte.