Die Schönheit der Dissonanz

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview|Profile
Published On:

July 18, 2022

Featuring:
Patricia Kopatchinskaja
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Patricia Kopatchinskaja zählt zu den gefragtesten Violinistinnen weltweit, und wenn man sie sieht und hört, explodieren Virtuosität und Spielfreude. Eine unbändige Neugier führt sie zu ungewöhnlichen Kooperationen, zum Beispiel mit dem Tanzensemble von Sasha Waltz oder der Sitar-Spielerin Anoushka Shankar. Daneben wurde sie bekannt für ihre programmatischen Konzerte, in denen sie alte, klassische und neue Musik verbindet und Themen wie die Klimakrise aufgreift. Zwischen ihren vielen Terminen nahm sie sich die Zeit, per E-Mail unsere Fragen über ihr Leben in und mit der Musik zu beantworten

evolve: Wie kamen Sie dazu, sich für Musik zu interessieren und sich der Violine zu widmen?

Patricia Kopatchinskaja: Ich bin ganz einfach aufgewachsen in einem kleinen Dorf. Vielleicht kommt von dort meine Vorliebe für das Ursprüngliche – auch in den Klängen – und die Abneigung gegen das künstlich Geglättete.

Alle in meiner Familie sind Musiker, es ist unsere Muttersprache, wir können ­ohne Musik nicht überleben – es würde sonst ein seelisches Verhungern drohen. Es gehört zum elementaren Bedürfnis unserer selbst – genauso wenig kann ich erklären, wieso ich mich für das Atmen oder Essen interessiere.

e: Können Sie eine Kindheitserfahrung schildern, in der für Sie der Zauber der Musik besonders spürbar wurde?

PK: Zum Beispiel als meine Großmutter sang, während sie an ihrer Singermaschine nähte – das war schon sehr interessant polyrhythmisch. Einerseits die schöne natürliche, ungeschulte Folklore-Stimme mit der freien Melodie oben und andererseits die maschinelle Regelmäßigkeit der Nähmaschine, immer wieder unterbrochen vom Pedal.

e: Sie stammen aus Moldawien, wie prägt Sie diese Herkunft heute und vielleicht auch in Ihrer Musik?

PK: Ich bin überall fremd – und das ist mein Zuhause geworden. Diese Fremdheit macht mich stärker. Die moldawische Herkunft ist auf immer verloren, meine Wurzeln schöpfen aus der Fantasie und aus keiner geografischen Ortschaft oder Nationalität.

e: Sie sind nach Wien gezogen, wie hat Sie diese Erfahrung der Emigration geprägt?

PK: Sie hat meine Sinne geschärft, alles wurde zur Inspiration – Armut und die Angst um die Zukunft, neue Sprache und Mentalität, neue visuelle Eindrücke. Ich habe gelernt zu überleben und unter allen Umständen glücklich zu sein.

Dissonanz erweckt Aufmerksamkeit

e: Sie sind nicht nur Violinistin, sondern konzipieren programmatische Konzerte zu Themen wie Tod und Endlichkeit (Der Tod und das Mädchen), Umweltzerstörung (Dies irae), unseren Umgang mit dem Leiden der Welt (Krieg & Chips) oder Zeit und Ewigkeit (Time and Eternity). Was fasziniert Sie an solch einem programmatischen Umgang mit der Präsentation von Musik?

PK: Ich weiß nicht, wie lange ein Klassik­betrieb, wo Orchester, Dirigenten und Solisten um die halbe Welt fliegen, um die immer gleichen Programme zu spielen, also wie lange dieser Betrieb das Interesse seines Publikums und seiner Geldgeber noch halten kann. Mein Interesse dafür ist jedenfalls erloschen.

¬ WIR KÖNNEN OHNE MUSIK NICHT ÜBERLEBEN. ¬

Und so sucht man Zugänge, die einen selbst und das Publikum vielleicht erneut und vermehrt interessieren könnten. Zum Beispiel kann man ein Werk beleben, indem man seinen Sinn und seinen Sinnzusammenhang für damals und für heute in einem programmatischen Konzert herausarbeitet, ähnlich wie ein Museumsdirektor seine Bilder so kombiniert, dass sie einen Sinnzusammenhang ergeben.

Wenn man zum Beispiel das Thema von »Dies irae« nimmt – nicht nur Ustwolskaja hat sich damit beschäftigt, sondern es gibt dazu eine lange Tradition von der Gregorianik bis zu Ysaye und der Gegenwart. Pure Neugier treibt mich, die Manifestationen des Themas durch die Geschichte zu verfolgen, und ich bin glücklich, wenn ein Publikum dieser Neugier folgt. Und so kann es mit jedem Thema gehen. Es gibt keinen Baum ohne Wurzeln.

e: Sie spielen auch häufig Stücke der neuen Musik, was fasziniert Sie daran?

PK: Alles. Angefangen vom Kontakt mit dem Komponisten bis zur Entdeckung meiner eigenen Beziehung mit dem Stück. Die Wiedergabe – wie erzähle ich diese neue Geschichte dem Publikum, sodass es verstanden wird, dass die Leute es liebhaben und wieder hören wollen.

e: Die Musik der Gegenwart mit ihren Dissonanzen und Brüchen ist oft eine Herausforderung für unsere Hörgewohnheiten. Warum finden Sie es wertvoll, sich auf diese Hörerfahrung einzulassen?

PK: Weil es uns alle angeht. Wenn wir nur in die Vergangenheit schauen, haben wir keine Zukunft und spüren auch nicht die Gegenwart.

Und Dissonanz erweckt besondere Aufmerksamkeit. Solche Knoten sind auch im Leben sehr wichtig – Verzweiflung, Schmerzen, Dunkelheit. Vielleicht um zu verstehen, wie zerbrechlich man ist und um sich nach der Auflösung zu sehnen. Wenn man durch die Schwierigkeiten kommt, wird man stärker. Ohne Konflikte gäbe es jedenfalls keine große Kunst, sondern nur Plattitüden, Kitsch und Banalitäten.

Kunst war immer politisch

e: In Konzerten spielen Sie manchmal andere Instrumente wie ein Schlagzeug oder Sie singen auch, Sie beziehen Elemente aus Theater oder Performance mit ein. Was reizt Sie an diesen Grenzgängen?

PK: Haydn spielte Tasteninstrumente, Geige, das Baryton (und damit wohl auch das Cello). Mozart spielte Klavier und Geige, Schumann Klavier und Cello. Heinz Holliger ist Komponist, Oboist und Dirigent. Soweit meine Möglichkeiten reichen, habe ich deshalb keine Scheu, andere Instrumente oder auch die Stimme einzusetzen. Gerade der Sprechgesang im »Pierrot lunaire« hat mir unglaublich viel für mein Geigenspiel beigebracht.

e: Sie setzen sich immer wieder mit der Aktualität oder Relevanz klassischer Musik in der heutigen Zeit auseinander. Wie können wir diese Musik in der Gegenwart lebendig werden lassen?

PK: Da gehorchen wir der Not und nicht dem eigenen Triebe: Wenn wir für die Klassiker keine Relevanz mehr aufzeigen können, dann werden wir aufhören sie zu spielen und bleiben brotlos – eine Überlebensfrage. Und wie man das machen könnte, versuche ich in meinen Projekten zu zeigen, zum Beispiel in »What´s Next Vivaldi?« mit Il Giardino ­Armonico und Giovanni Antonini.

Tradition ist nicht Bewahrung der Asche, sondern Weitergabe des Feuers. Ich bin neugierig und versuche einfach alle Wege zu öffnen, die ich öffnen kann.

e: Ihr programmatischer Umgang mit Musik scheint auch ein Empfinden für die soziale oder politische Dimension der Kunst zu zeigen. Haben Kunst und Musik solch eine politische Dimension, um die Menschen vielleicht für bestimmte Themen zu sensibilisieren?

PK: Kunst war immer politisch, sie blüht dort, wo die Reichen und Mächtigen sich mit ihr zu schmücken belieben. Fidelio und die Befreiungsopern aus der Revolutionszeit waren politisch, genauso das Forellengedicht, das Schuberts Lied und Quintett zugrunde liegt.

¬ ICH BIN ÜBERALL FREMD – UND DAS IST MEIN ZUHAUSE GEWORDEN. ¬

Ich bin nicht jemand, der meint, sich bei jeder Gelegenheit und zu jeder Zeitfrage äußern zu müssen. Aber nachdem wir in der Klimaerhitzung bewusst den kollektiven und globalen Selbstmord gewählt haben, kann es schon vorkommen, dass mir darüber bei Gelegenheit eine Äußerung entwischt.

Aber ich spiele immer für das Publikum, ich spüre es genau. Was dann ausgelöst wird, kann ich weder definieren noch beurteilen. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass das Musikstück im Kopf des Hörers entstehen und wirken muss. Ohne Hörer ist es nichts. Der ist eigentlich der letzte Interpret. Aber wie das geht, weiß ich nicht, ich bin keine Wissenschaftlerin, und selbst die werden es wohl nicht wissen.

e: Wie gehen Sie an das Einüben eines ­neuen Stückes heran? Wie ist dabei das Verhältnis von technischer Ausführung und innerlicher Einstimmung?

PK: Üben und das Material studieren versteht sich ja von selbst. Aber die wirklich tiefgreifende Arbeit geschieht die ganze Zeit irgendwo auf einer Ebene, die man nicht beschreiben kann. Man wird selbst zum Stück, alle Stimmen müssen in einem innerlich Platz finden, erklingen, jedes Wort in der Seele ausgesprochen werden.

e: Haben Sie eine Empfehlung für unsere ­Leser, wie sie Musik vielleicht noch intensiver hören, sich tiefer darauf einlassen können?

PK: Nichts erwarten, Neugier und bei schwierigen Stücken wiederholtes Hören. Und selber Musik machen ist der beste Schlüssel zum Verständnis.

Zusammenspiel ist wie die Liebe

e: Wenn man Ihnen beim Musizieren zuschaut, scheinen Sie ganz ins Spiel versunken, scheinen ganz darin aufzugehen, Ihr ganzer Körper scheint mitzuschwingen. Wie ist die Erfahrung des Musizierens für Sie?

PK: Das ist schon so, man muss eigentlich ganz zum Stück werden. Dazu muss man sich ganz einbringen. Und das Zusammenspiel ist wie die Liebe, es funktioniert selten. Wenn es funktioniert, ist das Ganze größer als die Summe der Teile. Dazu braucht es Respekt, Liebe, Wertschätzung und ein unerklärliches gegenseitiges Hochschaukeln.

e: Sie wagen immer wieder Experimente wie in Projekten mit Tanzensembles wie dem von Sasha Waltz oder in der Begegnung mit indischer Musik in dem wunderschönen Zusammenspiel mit Anoushka Shankar. Sie scheinen eine sehr experimentierfreudige Musikerin zu sein. Woher kommt das?

PK: Die Kooperationen mit anderen Künstlern ist eine Begegnung mit sich selbst aus anderen Augen gesehen. Je interessanter ­der Blickwinkel ist, desto mehr Dinge erfährt man über sich selbst. Deshalb ist ­eigentlich jedes Stück und jeder Auftritt eine neue Konstellation von sich selbst. Der Dirigent ­Teodor Currentzis gehört zu den mutigsten und ­öffnendsten Partnern auf der Bühne, er ­öffnet einen, bietet eine Plattform, die zu einem fliegenden Teppich und Zauberstab werden oder sich in ein Wunderland verwandeln kann – wenn man es auch zu nutzen weiß. ­Die Pianistin Polina Leschenko ist auch ein ­wildes, gefährliches Bühnentier, das ein ­Tempo draufhat, in dem auch ich in einen Wirbel kommen kann. Fazil Say ist ein Vulkan, immer heiß und wahrhaftig, unerschütterlich authentisch. Ich spiele eigentlich nur mit solchen Leuten. Ich ­suche keine Begleitung, ich suche Abenteuer.

e: Sie haben zusammen mit der Cellistin Sol Gabetta eine CD aufgenommen und Konzerte gegeben. Wie haben Sie dieses Zusammenspiel erlebt?

PK: Es ist das schönste auf der Welt – mit einer Freundin im Geiste und im Leben zu spielen. Wir haben so viel Gemeinsames, ich bewundere und liebe sie – und das hört man auch in der Musik. Auf der Bühne ist keine Angst, sondern nur pure Freude. Das ist sehr viel wert.

Jeder Moment ist heilig

e: Vor einiger Zeit haben Sie in einer SWR-­Sendung mit dem Theologen, Yoga- und Zen-Lehrer Michael von Brück über die Sehnsucht nach dem Absoluten gesprochen. Welchen Bezug haben Sie zur Spiritualität?

PK: In diesem Gespräch war mir ­nicht recht wohl. Was will man schon ­darüber sagen, ­außer Plattheiten? Es gibt ­heilige Momente, nicht nur in der Musik, und ­die ­wahrzunehmen und zu ehren, ist ein ­wichtiges ­Lebensziel. Jeder Moment ist ­heilig, im Leben und ­in der Musik.

Jeder Klang in der Natur ist Musik, das ist für mich immer noch so. Aber auch die Klänge der Zivilisation sind Musik: Müllabfuhr, Motorräder, die Stimmen auf der Straße. Alles ist Musik.

¬ JEDER MOMENT IST HEILIG, IM LEBEN UND IN DER MUSIK. ¬

e: Sie haben in einem Interview über die Bemerkung berichtet, die ein Fremder in Indien Ihnen gegenüber machte: »So viele Pläne und so wenig Zeit.« Welche Pläne haben Sie im Moment? Was sind die nächsten Projekte, die Sie verwirklichen möchten? Und wie gehen Sie mit dieser Spannung zwischen sprudelnder Kreativität und zeitlicher Begrenztheit um?

PK: Wir haben drei aufgenommene CDs in der Pipeline, mehrere neu inszenierte Projekte stehen an, ebenso mehrere Uraufführungen von Violinkonzerten, ich möchte vermehrt komponieren und demnächst erste Sachen veröffentlichen.

Und die zeitliche Begrenztheit: Die Musikgeschichte seit Palestrina hat 500 Jahre gedauert. Wenn die Klimaerhitzung so weitergeht, bleiben unserer Kultur nicht mehr hundert Jahre. Und falls die CO2- und Methanlager aus dem Permafrost entweichen, kann es noch viel schneller gehen, im schlimmsten Fall nur einige Jahre.

e: Sie sind sich unserer ökologischen Krise sehr bewusst, strahlen gleichzeitig einen tiefen Optimismus aus. Was gibt Ihnen Hoffnung und Zuversicht?

PK: Nein, ich bin hier nicht optimistisch. Leider.

Author:
Mike Kauschke
Share this article: