Die sieben Todsünden

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April 30, 2024

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Ausgabe 42/2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Versuch einer Neuinterpretation

Ich erinnere mich an eine Zeit in meinem Leben, als ich das Konzept von Sünde für komplett überholt hielt. Ich assoziierte es mit verstaubten Moralvorstellungen, die lediglich dazu führten, dass Menschen wichtige Anteile von sich abspalten und es versäumen, das Leben ganz auszuschöpfen. Ich war jung, rebellisch, unangepasst und mir gehörte die Welt. Und natürlich war ich mit dieser Einstellung nicht alleine. Der viel kommentierte Werbespruch »Geiz ist geil« ist nur eines von unzähligen Beispielen dafür, dass es fast schon zum guten Ton gehört, sich der Sünden nicht mehr zu fürchten, sondern sie möglichst ungehemmt zu zelebrieren. Und es lässt sich nicht leugnen, dass unser ganzes Wirtschaftssystem mit seinem unbändigen Wachstumszwang ohne diese Triebkräfte in seiner jetzigen Form nicht funktionieren kann.

In letzter Zeit hat sich ein neuer Blick auf das Konzept von Sünde entwickelt. Es begann mit der Erkenntnis, dass wir Menschen die Möglichkeit haben, in einem Zustand der inneren Anbindung zu sein oder nicht. Diese innere Anbindung immer wieder herzustellen war die ursprüngliche Funktion von Religion, buchstäblich eine Rückverbindung. Wenn wir in einem solchen Zustand sind, erleben wir uns im Einklang mit den Bewegungen des Großen Ganzen. Wir erleben ein stilles Wissen, was in jedem Moment zu tun ist. Und wir sind mit den Geschehnissen in einem Dialog, der immer wieder durch Erfahrungen von Synchronizität erfahrbar wird.

Zugleich ist es offensichtlich, dass wir Menschen regelmäßig aus diesem Zustand herausfallen, beziehungsweise in einer Gesellschaft leben, in der viele Menschen nie eine bewusste Erfahrung innerer Anbindung hatten und sich dieser Möglichkeit noch nicht einmal bewusst sind. Ich habe mittlerweile den Verdacht, dass es zwischen den weit verbreiteten Sünden und diesem Verlust von Anbindung einen unmittelbaren Zusammenhang gibt. Und natürlich spielt auch der Verlust von wirklich kraftvollen Ritualen, die genau diese innere Anbindung immer wieder herstellten, hier eine zentrale Rolle.

»Wir haben die Möglichkeit, in einem Zustand der inneren Anbindung zu sein oder nicht.«

Auf die Idee, hier einen Zusammenhang zu sehen, brachte mich der kanadische Kognitionswissenschaftler und Psychologieprofessor John ­Vervaeke. Er definiert Sünden als jene Handlungen, die nicht der inneren Anbindung entspringen. Tugend ist im Umkehrschluss, wenn wir im Einklang mit unserer Essenz und dem Heiligen Kern des Lebens handeln. Sünde hat also nichts mit Moral im althergebrachten Sinne zu tun. Was für ein radikaler Gedanke!

Aber was hat das mit den sieben Todsünden zu tun: Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Hochmut, Trägheit und Zorn? Könnte es sein, dass sie lediglich Triebkräfte beschreiben, die in jedem Menschen angelegt sind und deren ungehemmtes Ausleben zu einem Verlust unserer inneren Anbindung führen kann? Und ist das die Hölle, in der wir dann landen – die der Trennung oder des Abgeschnittenseins von unserem göttlichen Wesenskern? Und welche Konsequenzen könnte diese Betrachtungsweise für den konkreten Umgang mit diesen Sünden haben? Zumal wir ja aus der Psychologie wissen, dass ein bloßes Unterdrücken, Abspalten oder Ausblenden dieser Kräfte nicht gut für uns ist.

Der Schlüssel liegt meines Erachtens in einem bewussten Umgang. Indem wir lernen, diesen unreifen Anteilen, Triebimpulsen und Suchtstrukturen zwar innerlich Raum zu geben, ohne sie jedoch ungehemmt auszuagieren, entsteht eine neue Möglichkeit für einen ehrlichen Selbstkontakt, der unsere tiefsten Schatten und unser höchstes Licht beinhalten kann. In diesem Prozess – und nicht in der Abspaltung – wird Heilung, Ganzwerdung und damit auch ein heiliges Leben möglich. Es geht dann nicht mehr darum, einen bestimmten Moralkodex zu erfüllen, der oftmals tatsächlich überholt ist, sondern ein neues Gespür dafür zu entwickeln, welche Auswirkungen bestimmte Verhaltensweisen auf unser Innenleben und unsere innere Anbindung haben. Je bewusster und feinspüriger wir das wahrnehmen, desto deutlicher erkennen wir, dass das, was früher Sünde genannt wurde, schlicht das ist, was unserer eigenen, innersten Verbindung zur Heiligkeit des Lebens schadet.

Author:
Vivian Dittmar
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