Zum Tode von Hans-Peter Dürr
Gerne denke ich an meine Begegnungen mit Hans-Peter Dürr zurück, der am 18. Mai 2014 gestorben ist. Ich traf ihn zu einem Interview für meinen Film „Das kreative Universum“, dessen Berliner Premiere er mit einer feurigen Ansprache beehrte sowie bei einer gemeinsamen Podiumsdiskussion zum Film im Hamburger Rudolf Steiner-Haus. Dürr war ein aufregender Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Spiritualität, der nicht in abstrakten Begriffen sprach, sondern in Wortkaskaden und Metaphernströmen, die eher nach Kunst als nach Naturwissenschaft klangen. Man musste auf diesen Wellen mitsurfen, es akzeptieren, dass dieser unermüdlich suchende Geist auch seinen Sprachstil an seine Einsichten aus der Quantenphysik angepasst hat. Danach gibt es keine Grenzen, nichts Festes, Abgetrenntes, Gegenständliches, sondern nur Beziehungen, Kraftfelder, letztlich nicht zergliederbare Zusammenhänge zwischen allen nur denkbaren Phänomen.
Dürr beschenkte mich mit vielen Metaphern, etwa der Einsicht, dass die Welt eigentlich so wenig aus Materieklumpen bestehe, wie das Meer aus einzelnen Tropfen. Nur unser Verstand, von der Evolution zum Überleben auf das ständige „Apfelpflücken“ trainiert, tue so, als gäbe es überall Greifbares. In Wirklichkeit sei dies eine Fiktion, die uns immer weiter von der eigentlichen Wirklichkeit, dem „großen Unaufgetrennten“, entferne. Dürr unterschied „Wirklichkeit“ von „Realität“. Realität, abgeleitet von „res“ (lat. Ding), sei die Welt der materiellen Objekte, die wir uns bis in die Atome hinein wie „immer kleinere Äpfel“ vorstellten. Wirklichkeit aber komme von Wirken, und Wirkung sei – um mit Meister Eckhart zu sprechen – das, was sich ewig wandelt. Eben keine Apfel- oder Billiardkugelwelt, sondern das Reich der Beziehungen, Gestalten, Wirkverhältnisse und Kräfte, für die wir eigentlich eine neue Sprache bräuchten.
Hans-Peter Dürrs Denken hatte ausgreifende Konsequenzen, die weit über Physik und Philosophie hinausgingen.
Wenn er seiner Frau sage, so erzählte er, dass es keine Materie gäbe, würde die nur mit ihrem gesunden Menschenverstand sagen: „Jetzt bist du endgültig übergeschnappt. Heute wäre ich beinahe gegen einen Laternenpfahl gelaufen und dann hätte ich sehr wohl die schmerzhafte Erfahrung von Materie gemacht.“ Dürr schmunzelte bei diesem Beispiel, aber er meinte mit diesem Statement, dass ja unsere eigentliche Wirklichkeit nicht der „langweilige“ und „dumme“ Stuhl oder Laternenpfahl sei, sondern das Meer von Ideen, Gefühlen, Plänen, Stimmungen, Assoziationen und Bildern in unseren Köpfen. Ein „Dazwischen“, das viel eher ein vages und vibrierendes Kräftespiel, als präzise messbar sei. Hoffnung, Liebe, Vertrauen, Mut, aber auch das Glitzern des Meeres oder die Schönheit eines Schmetterlingsflügels sind in diesen flüchtigen Sphären angesiedelt und nicht durch die definitorische „Apfelpflücksprache“ zu fassen. Eher durch die Sprache der Kunst, für die Dürr eine große Faszination hegte.
Dürrs Denken hatte ausgreifende Konsequenzen, die weit über Physik und Philosophie hinausgingen. Das von ihm 1987 gegründete „Global Challenges Network“, an dem Wissenschaftler, Ökonomen, Medienleute und Bürgerinitiativen mitarbeiten, versucht seine Philosophie der Vernetzung auch auf Umweltschutz, globale Politik und nachhaltiges Wirtschaften auszudehnen. Doch Dürr wurde eher von Esoterikern, Buddhisten und spirituellen Gruppen gehört, als von Politikern oder Philosophen. Vielleicht nahmen diese Dürr nicht ernst, weil er in ihren Augen kein echter Philosoph war oder in spirituelle Sphären hineinreichte, die für sie immer noch tabu sind. Dabei mochte er selbst den Begriff Spiritualität nicht besonders, da er „zu verbraucht“ sei.
Der Urgrund von allem, so sagte Dürr in der Sprache der Mystiker, sei die totale Lebendigkeit, ein instabiles offenes Etwas, ein Reich von Potentialitäten, die uns aufforderten, kreativ mitzugestalten, ohne dass ein Gott über allem wache oder schon alles im Voraus wisse. Eine euphorische und gänzlich undogmatische Erkenntnis, die jede Begegnung mit ihm so aufregend und anrührend machte.