Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 6, 2020
Vor mehr als einem Jahrhundert, im Jahr 1913, veröffentlichte der später hoch berühmte Theologe Albert Schweitzer seine »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«. Darin zeichnet er die historisch-kritischen Versuche des 19. Jahrhunderts nach, den »echten« Jesus zu fassen. Er kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, alle Wissenschaftler, die sich an diesen Versuch gemacht haben, seien nicht etwa dem historischen Jesus begegnet, sondern lediglich der Projektion ihres eigenen vorgefassten Bildes von Jesus. Schweitzer nimmt damit die postmoderne Erkenntnis vorweg, dass jede Forschung von einem bestimmten Interesse geleitet ist und das Ergebnis deshalb sehr viel mit der Perspektive zu tun hat, aus der die jeweilige Forscherpersönlichkeit ihren Gegenstand betrachtet. Insofern ist der Untertitel von Cynthia Bourgeaults wunderbarem Werk »Jesus. Meister der Weisheit – was er wirklich lehrte« allenfalls unter Marketing-Gesichtspunkten akzeptabel. Was der historische Jesus wirklich lehrte, wird auch Cynthia Bourgeault nicht mehr herausbekommen.
Wir dürfen uns aber – das ist die positive Kehrseite – die Freiheit nehmen, die Quellen (sprich: die Evangelien) aus unserer jeweils eigenen Perspektive zu betrachten. Aus diesem Blickwinkel ergibt sich ein Dialog mit den Quellen – und was wir in ihnen lesen, kann unsere Perspektive wiederum beeinflussen. So kommt ein Regelkreis der Erkenntnis zustande und, wenn es gut geht, auch spirituelles Wachstum.
Cynthia Bourgeault ist Priesterin der Episkopalkirche, hat sich ausführlich mit dem Mittelalter beschäftigt, aber auch mit den Orthodoxen Kirchen und ihrer spirituellen Theologie, mit den Lehren Gurdjieffs, dem Sufismus und nicht zuletzt mit Ken Wilber und der integralen Theorie. Die Perspektive, aus der sie auf Jesus blickt, ist also transkonfessionell, weitherzig, offen für unterschiedliche Traditionen. Und so versteht sie Jesus in erster Linie nicht als den Erlöser, der die Menschen von Sünde, Tod und Teufel befreit habe, sondern als Weisheitslehrer. Er lebte in und aus der »Sophia perennis«, der »immerwährenden Weisheit«, die, so Bourgeault, »tatsächlich das Quellgebiet aller großen religiösen Traditionen der heutigen Welt ist«.
Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil zeichnet Bourgeault die Weisheitslehre Jesu nach. Als Quellen stützt sie sich dabei nicht nur auf die »klassischen« Evangelien, die in die christliche Bibel aufgenommen wurden, sondern auch auf andere, nicht-kanonische Schriften, allen voran das Thomasevangelium. Aber auch weitere Schriften, die jahrhundertelang verschollen und teilweise gänzlich unbekannt waren und dann im Jahr 1945 zusammen mit dem Thomasevangelium in Nag Hammadi in der ägyptischen Wüste entdeckt wurden, bezieht sie mit ein. Eine besondere Rolle nimmt gerade in diesen außerkanonischen Evangelien Maria Magdalena ein, die zwar vielleicht nicht die Geliebte Jesu war, sicher aber die erste Zeugin der Auferstehung und damit »Apostelin der Apostel«. Borgeault sieht sie als »ziemlich sicher sogar die fortgeschrittenste unter seinen Schülerinnen und Schülern«, die erst im frühen Mittelalter vom männlichen Klerus zur »großen Sünderin« gemacht wurde.
Zentral ist für die Autorin der Begriff Metanoia, traditionell mit »Buße« übersetzt. Doch diese Übersetzung führt in die Irre. Für die Autorin bedeutet Metanoia »über den Verstand hinaus«, gar »in den großen Verstand oder Geist gehen«. Es geht also nicht um einzelne Vorschriften oder Verhaltensweisen, sondern darum, sich auf ein gänzlich neues Betriebssystem einzulassen, das »Betriebssystem des Herzens« – das Herz verstanden als »Organ der spirituellen Wahrnehmung«. Wer aus diesem neuen System lebt, überwindet die Trennung, das binäre Denken des egoischen Bewusstseins. So ergeben manche der Gleichnisse Jesu, die oft als anstößig empfunden werden, einen ganz neuen Sinn, etwa das Gleichnis von den »klugen Jungfrauen«, die den weniger klugen nichts von ihrem Ölvorrat abgeben, oder das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, die alle denselben Lohn erhalten, unabhängig davon, ob sie den ganzen Tag geschuftet haben oder nur eine Stunde lang. Ausführlich wendet sich Bourgeault dann dem Thomasevangelium zu, das möglicherweise tatsächlich von dem Apostel Thomas stammt, der nach Indien gereist sein und dort Gemeinden gegründet haben soll. Manche der Lehren dieses Evangeliums vermitteln den Eindruck, der Verfasser habe die »östlichen« Ansichten über die Vereinigung des Bewusstseins gekannt. Doch anders als etwa der Advaita-Vedanta legen die Worte Jesu nach dem Thomasevangelium »eine Sicht von Ganzheit dar, in der diese unsere physische Ebene weder ein Trugbild noch eine Falle ist, sondern vielmehr ein integraler Teil der Göttlichen Wirklichkeit mit einer einzigartigen und unverzichtbaren Rolle« (S. 73). Damit ist der Grundtenor von Cynthia Bourgeaults Sicht auf Jesus benannt: Ähnlich wie bei einem ihrer Weggefährten, dem Franziskaner Richard Rohr, ist auch bei ihr das zentrale Motiv die Inkarnation, die Mensch- oder besser noch: Welt-Werdung Gottes.
Es geht nicht um einzelne Vorschriften oder Verhaltensweisen, sondern darum, sich auf ein gänzlich neues Betriebssystem einzulassen.
Dieses Motiv spinnt Bourgeault im zweiten Teil des Buches weiter aus. Nicht allein, was Jesus gelehrt hat, ist von Bedeutung, sondern sein ganzes Leben. Es ist Vorbild und zugleich mehr als Vorbild: Die Autorin bezeichnet das Leben Jesu als »Sakrament« und meint damit »ein Mysterium, das uns tief in sich hineinzieht und uns bei richtiger Annäherung eine echte spirituelle Energie vermittelt, die uns befähigt, dem Pfad zu folgen, den uns die Lehren weisen« (S. 113). Die Menschwerdung, nicht die Kreuzigung sei »das wirklich Schwierige« für Jesus gewesen, denn sich auf die beschränkte, endliche Welt mit ihren »schroffen Kanten« einzulassen bedeutet automatisch, Leid und Tod auf sich zu nehmen: Was geboren wird, muss sterben. Doch gerade dieser Vorgang der Kenosis, der »Entäußerung«, ist typisch für das christliche Verständnis von Gott. Im Konzert der Weltreligionen steht das Christliche für die Stimme, die »Gott als mit der geschaffenen Welt vollkommen verbunden« präsentiert, »völlig zu Hause innerhalb der Bedingungen der Endlichkeit« (S. 116). Gerade die scharfen Kanten und Begrenzungen dieser Welt rufen »einige der auserlesensten Dimensionen von Liebe hervor«. Leiden ist mit Gott nicht inkompatibel. Es ist die tiefe mystische Erfahrung der Autorin, »dass die Göttliche Liebe dort besonders erstrahlt, wo Leiden existiert und bewusst angenommen wird« (S. 123). Bei allem Respekt und aller Wertschätzung gegenüber den Religionen des Ostens zeigt sich hier doch ein sehr eigener Akzent, den die christliche Tradition setzt.
In einem dritten Teil stellt Cynthia Bourgeault »Christliche Weisheitsübungen« vor, spirituelle Praktiken, die ins Herz der mystischen Erkenntnis führen, aus der heraus die Autorin die Lehre und die Mysterien Jesu skizziert hat. Grundlegend ist das Gebet der Sammlung (Centering Prayer), eine Form der gegenstandslosen Kontemplation, der reinen Intentionalität, entwickelt von Thomas Keating, dem 2018 verstorbenen Trappistenmönch und Abt aus Kentucky. Hinzu kommen die Lectio Divina, eine traditionelle Weise der meditativen Bibellektüre, das Chanten, das »Willkommensgebet« als Übung zum Umgang mit schwierigen und schmerzhaften Erfahrungen sowie schließlich die Eucharistie als christliche Weisheitspraxis.
Mit den mystischen Strömen der anderen Weltreligionen teilt Cynthia Bourgeault das Anliegen, sich auf ein Einheitsbewusstsein jenseits der egoischen Trennungen auszurichten, und dabei bringt sie das besondere Geschenk der christlichen, auf Jesus bezogenen Mystik überzeugend ein. So leistet sie in großer Offenheit einen dezidiert christlichen Beitrag innerhalb der großen Gemeinschaft der Weltspiritualität.