Die Welten verweben

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 11, 2022

Featuring:
Hannah Close
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Issue:
Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
Bewusste Netzwerke
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Alles beginnt mit Beziehungen

Hannah Close ist eine Grenzgängerin zwischen gesellschaftlichem Wandel, Ökologie, Körperbewusstsein und Kunst. Wir sprachen mit ihr über den schöpferischen Raum, der sich zwischen diesen verschiedenen Erfahrungswelten eröffnen kann.

evolve: Was ist der Hauptfokus deiner Arbeit?

Hannah Close: Ich möchte Menschen auf schöpferische und lebensbejahende Weise zusammenbringen, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Dabei steht das Thema Beziehung im Mittelpunkt. Beziehung ist die Wurzel von allem. Es gibt kein Leben ohne Beziehung. Auf der biologischen wie auch auf der metaphysischen Ebene kann Leben nicht ohne Beziehung existieren. In unseren modernen Zeiten sind unsere Beziehungen sehr fragmentiert. Wir müssen diese Beziehungen heilen. Zusammengehörigkeit ist eine spezielle Art von Beziehung, welche auf Gegenseitigkeit, Achtung, Anerkennung sowie der sinnlichen und intuitiven Wahrnehmung beruht. Viele indigene Kulturen werden in ihrem Innersten durch verwandtschaftliche Systeme zusammengehalten und gedeihen infolgedessen. Wir täten gut daran, von ihnen zu lernen, auf achtsame Weise, ohne uns ihr Brauchtum zu eigen zu machen. Wir müssen noch so viel darüber lernen, wie wir gute Beziehungen pflegen, statt uns gegenseitig auszunutzen.

e: Wie ist dieses Interesse für tiefere Beziehungen in deinem eigenen Leben entstanden?

HC: Ich habe Erfahrungen mit verschiedenen Gemeinschaften gemacht und mit Menschen, die in einem Umfeld leben, das gesellschaftlichen Wandel und gesündere Formen des Zusammenlebens anstrebt. Und ich habe die negativen Auswirkungen zu spüren bekommen, die unvermeidlich entstehen, wenn Menschen, die in individualistisch geprägten Kulturen aufgewachsen sind, unter der Vorgabe von »Strukturen« und bestimmten »Absichten« zusammenkommen. Ich habe Verletzung und Frustration miterlebt, die infolge solcher restriktiven und dogmatischen Umfelder auftreten können. Ich wollte herausfinden, warum es uns so schwerfällt, uns aufeinander zu beziehen. Was hält uns davon ab, auf gesunde Weise Beziehungen zu knüpfen?

e: Wie beschäftigst du dich in deinen Projekten mit Beziehungen?

HC: Die Experimental Thought Co. initiierte ich im Jahr 2018, bis Covid es unmöglich machte, sich persönlich zu treffen. Damals waren in London Gruppierungen wie Rebel Wisdom, die Psychedelic Society, ­Perspectiva, der London Philosophy Club, ­Extinction ­Rebellion im Wachstum begriffen. Mir wurde klar, dass all diese Gruppierungen dasselbe Ziel anstrebten, aber jeweils von einem etwas unterschiedlichen Ansatz ausgingen. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn wir versuchten, uns gegenseitig zu befruchten und diese Menschen zusammenzubringen, um ein wechselseitig verbundenes Netzwerk zwischen all diesen verschiedenen Knotenpunkten zu schaffen. Wenn du die anderen findest, fühlst du dich ermächtigt und erkennst, dass du nicht allein bist. Ich organisierte mehrere eigene Events, bei denen ich die Perspektiven von Intellektuellen, Aktivistinnen, Künstlern und Körpererfahrung in einem Schmelztiegel als eine neu emergierende Bewegung gesellschaftlichen Wandels vereinen wollte.

e: Warum ist für dich diese wechselseitige Befruchtung so wichtig?

HC: Wir leben in einer Zeit, in der wir die Vielfalt von Perspektiven kultivieren müssen, ebenso wie die Fähigkeit, scheinbar dissonante Narrative und Lebensformen zuzulassen. Es besteht ein falscher Zwiespalt zwischen Intellekt und Intuition, die sich doch in Wirklichkeit ergänzen. Ich glaube zwar, dass die Konzentration auf eine Tätigkeit mit vielen Menschen in einer bestimmten Gruppe, die bereits gut funktioniert, durchaus von Wert ist. Wir brauchen aber zugleich Menschen, die die Dinge verweben und darauf achten, welche Muster sich zeigen. Unsere Organisationen müssen die größere ökologische Realität widerspiegeln, indem sie tatsächlich kooperativer werden.

e: Du erforschst auch diese Wechselbeziehungen in deiner wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet der Engaged Ecology am ­Schumacher College. Was ist Engaged Ecology?

HC: Wenn ich Leuten erzähle, dass ich mich mit Engaged Ecology beschäftige, denken sie sofort an wissenschaftliche Ökologie, wie zum Beispiel das Erforschen von Mikroben oder biologischen Prozessen. Tatsächlich handelt es sich hier um ein radikal neues pädagogisches Experiment. Es besteht zu 50 Prozent aus Theorie und zu 50 Prozent aus Praxis. Die Hälfte der Zeit untersuchen wir ein weites Spektrum von Themen wie Phänomenologie, Animismus, indigene Kosmologie, Gaia-Theorie, Systemtheorie, Komplexitätsforschung etc., und die anderen 50 Prozent der Zeit verrichten wir praktische Arbeit wie Löffel schnitzen, Körbe aus regionalem Holz flechten oder lernen, wie man durch Reibung Feuer erzeugt. Manch einer mag denken, dass es sich dabei um irregeleitete Nostalgie oder Romantizismus handelt, aber was wir lernen, gründet sich auf der Realität des ökologischen Planeten, auf dem wir leben. Wenn wir durch das lernen, was wir berühren und greifen können, verbinden wir uns mit der mehr-als-menschlichen Welt und ebenso mit anderen Menschen.

¬ WIR LEBEN IN EINER ZEIT, IN DER WIR DIE VIELFALT VON PERSPEKTIVEN KULTIVIEREN MÜSSEN. ¬

e: Durch deine Arbeit stehst du mit vielen jungen Menschen in Verbindung, denen Nachhaltigkeit ein Anliegen ist und denen es darum geht, ein neues Verhältnis nicht nur zu unserem Planeten, sondern auch zueinander und zum Leben selbst zu finden. Was hältst du für die größten Herausforderungen innerhalb dieser Bewegung? Und was ist deiner Wahrnehmung nach im Wachstum begriffen?

Bei einer Veranstaltung der Human Nature Series.

HC: Es ist immer sehr leicht, sich gleich auf die Probleme zu stürzen und zu sagen: »Das fehlt und jenes ist falsch«, aber ich glaube tatsächlich, dass in diesem Feld Veränderung stattfindet, ich glaube, dass es den Menschen ernst damit ist. Ich vertraue darauf, dass die Menschen sich wirklich Veränderung wünschen. Zugleich spüre ich, dass sehr viele nicht bereit sind, sich einer Situation auszusetzen, in der sie verletzlich sind. Auch im Bereich des gesellschaftlichen Wandels gibt es korrupte Hierarchien und Machtspiele, denn wir bewegen uns in dem Spannungsfeld: Wir begeben uns zwar in ein neues Paradigma hinein, zugleich aber müssen wir weiterhin das alte Spiel spielen, wenn wir einer Arbeit nachgehen und unseren Lebensunterhalt verdienen, indem wir Zeit gegen Geld tauschen.

Ich glaube, dass viele Menschen in diesen Netzwerken ein Gefühl von Verbundenheit und Erleichterung empfinden würden, wenn wir alle, ich selbst eingeschlossen, lernen würden verletzlich zu sein und mit dieser Situation offen umzugehen. Verletzlichkeit birgt echten Mut, das ist das Paradoxe an der Verletzlichkeit, und das bringt mich auch dazu, über den Tod nachzudenken. Es hat den Anschein, dass Körperbewusstsein uns Angst einflößt, denn wenn wir uns in die Körpererfahrung hineinbegeben würden, kämen wir in Kontakt mit der Natur unseres eigenen Organismus. Die moderne Kultur hat uns aber gelehrt, dass der Körper das unselige Omen unserer Sterblichkeit ist. Stellen wir uns der Verletzlichkeit, wird es uns hingegen deutlich bewusst, wenn wir die korrupten Muster des alten Paradigmas reaktivieren im Hinblick auf Status, Macht und Anerkennung. Alle Menschen sind in irgendeinem Bereich ihres Lebens unsicher, und ich denke, wenn wir das einander eingestehen, uns zu unserem unvollkommenen Menschsein bekennen, dann würde uns der Wandel wohl besser gelingen.

Author:
Mike Kauschke
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