Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 17, 2017
Vrin, ein unscheinbares Bergdorf in den Schweizer Alpen, hat sich in den letzten Jahren zu einem »Pilgerort« für Architekturinteressierte entwickelt. Zu verdanken hat es der Ort dem Architekten Gion A. Caminada, der in Vrin aufgewachsen ist und dort Schreiner lernte, bevor er Architektur studierte und den Ort mit seiner Interpretation der Baukunst formte: Er greift traditionelle lokale Bauweisen auf, versucht, die Eigenheiten des jeweiligen Ortes zu erfassen und so eine Integration von Bewährtem und Modernem zu schaffen, die kulturbildend und identitätsstiftend wirkt. Wir sprachen mit Gion A. Caminada über das Bauen, das Leben und die Würde der Orte.
evolve: In Ihrer Architektur ist es Ihnen wichtig, nicht nur Einzelobjekte, sondern ganze Lebensorte zu schaffen. Können Sie beschreiben, warum Ihnen das so wichtig geworden ist?
Gion A. Caminada: Das Einzelobjekt ist wichtig, bedeutender ist jedoch der Ort. Ich möchte Räume schaffen, die dem Menschen und dem Ort zugleich dienen. Das höchste Ziel sind dabei die Bedeutungen, die aus dem Wechselspiel zwischen idealer Vorstellung und realer Welt zu gewinnen sind. Solche Orte sind identitätsstiftend und erfüllen ein tief menschliches Bedürfnis. Ich selbst komme aus einem Bergdorf in den Schweizer Alpen: Vrin – das Dorf hat eine solche Wirkung. Diese Orte sind aus einer Beschränktheit entstanden. Früher gab es an diesen peripheren Lagen nur bestimmte Ressourcen im Hinblick auf Material, Handwerker und technische Möglichkeiten. Die entstandenen Bauten sind jedoch nicht gleich, sie sind nicht kongruent, aber sie sind ähnlich. Dieses Quantum des Fast-Gleichen hat Kraft und erzeugt Identität. Heute haben wir beim Bauen eine große Auswahl an Möglichkeiten. Wir müssen entscheiden. Mich bewegt die Frage, ob es auch heute möglich ist, Orte eines solchen Zusammenhanges zu schaffen, die eine starke Identität vermitteln. Ich glaube fest daran, dass die gemeinsam getragene Idee etwas Ähnliches bewirken könnte. Ich mag differenzierte Orte, unterschiedliche Sprachen und unterschiedliche Kulturen. Das Thema der Differenz ist in meiner Arbeit wichtig. Differenz bedeutet für mich, die spezifischen Qualitäten eines Ortes zu verstärken. Ich versuche, Differenzen zu produzieren, die möglichst nicht beliebig sind, sondern sich aus den Eigenschaften und Möglichkeiten des Ortes, aus dem Klima, aus der Topografie, aus dem Material und aus den kulturellen Verhältnissen ergeben. Das Indifferente muss natürlich auch sein, damit bei jedem Teilhaber an diesem Ort die geistige Freiheit gewährleistet ist.
e: Sie versuchen also, die Kraft des Ortes zu verstärken?
GC: Ja, zuerst einmal die Besonderheiten eines Ortes zu erfassen. Das ist eine Frage der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist immer auch von eigenen Interessen und Vorannahmen geprägt. Bei der Betrachtung eines Ortes ist darum eine Art der Urteilsenthaltung besonders wichtig. Ich distanziere mich möglichst von Vorurteilen, aber auch von Vorlieben. Schlussendlich muss ich natürlich urteilen und entscheiden. Kultur fordert stets Entscheidungen. Auch wenn wir die Eigenschaften eines Ortes in unsere Projekte einbeziehen, die Entscheidung ist unerlässlich. Auch Potenziale sind nicht gegeben, Potenzial ist das, was man sieht.
¬ Eine Trennung zwischen Natur und Kultur versuche ich stets zu verhindern. ¬
In diesem kulturellen Akt sind für mich zunehmend die Deckungsgleichheiten wichtig. Eine Trennung zwischen Natur und Kultur versuche ich stets zu verhindern. Aus Subjekt und Objekt eine Einheit zu schaffen – als etwas Gesamtes zu verstehen. Früher hat man beispielsweise den Begriff der Natur nicht gekannt. Für den Bauer, der einen Acker bestellt, gab es nur die Direktheit und Unmittelbarkeit dieser Landschaft. In meiner Kindheit habe ich das erlebt und trauere dem etwas nach.
e: Um diese Besonderheit eines Ortes zu erfassen, ist auch eine Verfeinerung der Wahrnehmung nötig?
GC: Ja, damit fängt es an. Wir haben soeben eine Studie abgeschlossen, die sich mit den physikalischen Phänomenen in der Architektur beschäftigt: Wie lüftet man einen Raum, welche Wirkung haben Masse oder Verdunstung auf die Raumqualität etc.? Diese physikalischen Fragen sind im Zeitalter der Technologie völlig irrelevant – man nimmt einfach ein technisches Gerät, das für Frischluft sorgt. Wir sind überzeugt, dass diese Phänomene im Entwurf einen schöpferischen Prozess entfalten können. Zudem entstehen Differenzen. Damit diese Befreiung gelingt, muss Architektur sowohl über einem Widerstand gegen das Vorherrschen von Technik als auch über einer Technikverneinung stehen. Wir wollen Räume für sinnliche Qualitäten und für Leiberfahrungen schaffen.
e: Sie sind bekannt geworden durch die Gestaltung Ihres Heimatortes Vrin, eines kleinen Dorfes in den Schweizer Alpen, bei der Sie diese Prinzipien angewendet haben. Was hat Sie bei dieser Neugestaltung bewegt?
GC: Das Ziel war nicht eine Neugestaltung, sondern ein Weitertragen des Ortes – außerhalb von Modeerscheinungen. Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels war kürzlich zu einem Gespräch bei uns an der ETH. Wir haben sein Buch »Sinnesschwellen« diskutiert. Darin schreibt er, dass es eine vor-ästhetische Zeit gab. Orte wie Vrin sind ein Ausdruck davon. Ästhetik war nicht das Thema. Die Bilder sind aus den Möglichkeiten der Konstruktion und aus den Bedürfnissen der Menschen entstanden. Dann kam die ästhetische Zeit und damit die Trennung von Funktion und Bild. Waldenfels plädiert nun für eine nach-ästhetische Zeit, in der Ästhetik und Funktion wieder vereint werden. Wir haben mit unseren Projekten in Vrin stets versucht, diese Trennung zu verhindern. Wenn ich weiß, was ich mit Holz, Beton oder Stahl konstruieren kann, und auf die Eigenschaften des Materials eingehe, kann ich die Dialektik zwischen Ästhetik und Funktion neu fassen. Das interessiert mich. In Vrin ging es zuerst einmal darum, soziale, ökonomische und kulturelle Existenzformen zu schaffen, damit die Menschen an diesem Ort überhaupt weiter existieren können und das Dorf nicht verlassen oder auf touristische Großprojekte setzen.
¬ Lokal bedeutet für mich, ganz nah bei den Dingen zu sein. ¬
e: Die Architektur dient also dem kulturellen Umfeld?
GC: Ja, und sie prägt ihrerseits den Kontext. Bei mir fängt der Entwurf bei der Kultur an. Kulturelles Entwerfen fordert andere Fragestellungen.
e: Wie sehen Sie das Verhältnis von Häusern und ihren Bewohnern?
GC: Ich behaupte, ein Haus ist kein gutes Haus, wenn darin nur die Bedürfnisse der Menschen gedeckt sind. Es braucht beides; den Bedürfnissen muss entsprochen werden, aber ein gutes Haus hat auch ein eigenes Wesen, eine Autonomie, es sagt: »Ich bin auch jemand«. Denn nur so bleibt das Haus langfristig spannend und vermag den sich stets wandelnden Vorstellungen seiner Bewohner zu genügen. In Spannung bleiben und Spannung erzeugen gelingt nur, wenn wirklich ein Gegenüber da ist, das eine starke Position hat. Das ist wie bei den Menschen – ich kann nur mit jemandem eine Beziehung eingehen, wenn er oder sie mich nicht nur nachahmt, sondern dem, was ich sage, auch etwas entgegensetzt, eine eigene Sicht zum Ausdruck bringt. So entstehen wahrhafte Beziehungen. Diese sind auch zwischen einem Haus und dem Menschen als Bewohner erstrebenswert.
e: Wie sehen Sie das Spannungsfeld zwischen der Hinwendung zum Lokalen und dem globalen Kontext, in dem wir stehen?
GC: Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Globalismus und Kosmopolismus. Im Kosmopolismus ist der Fokus auf das Spezifische gerichtet. Im Hier und Jetzt ist der Blick stets auf die Welt gerichtet. Die Berücksichtigung möglicher globaler Einwirkungen ist bei Projektentwicklungen wichtig. Es reicht nicht, wenn ich mich auf das Lokale beschränke. Ich muss wissen, was für Kräfte von außen einwirken. Wir sind Teil dieses globalen Systems und auch ein Ort wie Vrin bleibt davon nicht verschont. Aus meiner Erfahrung reagieren Orte mit spezifischen Kulturen und gewachsenen Landschaften viel sensibler auf diese globalen Einflüsse als die Städte.
Das Kosmopolitische betrachte ich als eine Haltung, die Differenz als Arbeitsmethode und die Zuwendung zum Lokalen ist mir in der Umsetzung wichtig. Das sind die drei wichtigsten Grundsätze meiner Arbeit. Sie sind überall anwendbar. Lokal bedeutet für mich, ganz nah bei den Dingen zu sein – sie zu verstehen und zu begreifen. Somit ist lokales Bauen auch in der Stadt möglich. Aus meiner Erfahrung wird durch die Berufung auf das Lokale eine größere Verantwortung für den Ort wachgerufen. Es ist wichtig, den Menschen das Gefühl zu geben, Teil des Prozesses zu sein. Damit erhöht sich das Selbstwertgefühl. Ich versuche, diese besonderen Fähigkeiten und das zu erfahren, was ein Mensch am besten kann. Die Verstärkung des Vorhandenen führt zu Differenzen. Diese Methode ist auch im baulichen Kontext anwendbar.
Zudem interessiert mich der Begriff der Bricolage, den Claude Lévi-Strauss verwendet hat. Der Bricoleur erschafft etwas aus seinen beschränkten und eingeschränkten Möglichkeiten. Er arbeitet mit dem, was ihm direkt gegeben ist. So wie ein Alchemist, der aus einfachen Materialien Gold macht. Die Herausforderung, mit dem Vorhandenen etwas Sinnvolles und Schönes zu machen, ist groß. In der Bricolage findet sich ein Ansatz, der die Grenzen zwischen Kunst und Architektur, zwischen Laien- und Fachwissen oder Ökologie und Ökonomie überwinden kann.
Ich versuche, möglichst wenig Material von außen zuzuführen. Damit reduzieren sich die Kosten für die Vorfabrikation. Zudem entsteht Kultur – das Handwerk und das Wissen, wie man mit diesen Materialien arbeitet, wird gestärkt. Mit dieser Haltung schaffen wir zudem Arbeit am Ort – für periphere Lagen nicht unwichtig.
e: Wie gehen Sie an neue Projekte heran?
GC: Den Ort zuerst einmal wirken lassen und spüren, was kräftig und spezifisch ist, und verstehen, warum das so ist. Dann interessiert mich selbstverständlich, was der Auftraggeber will. Mit diesen Eindrücken entwickle ich eine erste Idee. Zurzeit planen wir ein Gasthaus an einem Wallfahrtsort. In diesem Zusammenhang habe ich mich grundsätzlich mit dem Pilgern auseinandergesetzt. Früher hatte beim Pilgern das Ziel die höchste Priorität, z. B. Santiago de Compostela. Heute ist der Weg und damit die Befindlichkeit – das Spüren des Leibes – wichtig. Menschen sind nach wie vor auf der Suche nach Religiosität. Wir haben uns also mit der Frage auseinandergesetzt: Was ist ein Pilgerort in der heutigen Zeit?
So nehme ich ein spezifisches Thema auf, das etwas mit dem Ort zu tun hat oder in Zukunft haben könnte, und versuche, eine Idee zu bilden. Die Idee ist wie eine Metapher. Sie hält alles zusammen und lässt doch genügend Spielraum. Bei der Ideenentwicklung sind zuerst Fragen wichtig. So wie beim Totenhaus in Vrin: Wie fühlen sich die Menschen in der Zeit der Trauer? Was mögen sie oder was ist schwierig in dieser Zeit? Durch diese Fragen wurde mir klar, dass nur die Lebenden trauern können, deshalb musste das Gebäude außerhalb der Topografie des Friedhofes sein.
¬ Wir wollen Räume für sinnliche Qualitäten und für Leiberfahrungen schaffen. ¬
Das sind grundsätzliche kulturelle Themen, um die herum dann die Architektur entsteht, mit der wir einen Beitrag leisten können – sozial, ökonomisch und architektonisch. Im kleinen Bergdorf Valendas haben wir ein Gasthaus gebaut. Die wichtige Frage war: Kann ein Haus die Gemeinschaft zusammenbringen? Gasthäuser waren die wichtigsten Häuser für die Gemeinschaft des Dorfes. In Valendas hatten wir auch Glück, dass wir einen wunderbaren Koch fanden, der das Gasthaus führt. Das Ereignis stand im Vordergrund des Entwurfes. Eine ganz andere Idee verfolgten wir in der Klostergemeinschaft Disentis, wo wir für die Klosterschule ein Mädchenhaus gebaut haben. Dort sahen wir die Landwirtschaft als einen wesentlichen Ort des Wissens und wollten sie ins Bildungsprogramm einbeziehen. Entstanden ist aus dieser Idee ein besonderer Klosterstall. So entstehen bei jedem Projekt Ideen entlang der spezifischen Möglichkeiten.
e: Sie haben also bei jedem Projekt eine Art der Vorstellung, die Sie dann konkret mit den Gegebenheiten vor Ort verwirklichen?
CG: Handeln wir nur in der Realität, dann wird sich nicht viel verändern. Der utopische Gedanke, das Unabwägbare, die ideelle Vorstellung muss ebenfalls im Raum sein. Die ideelle Vorstellung und die reale Wirklichkeit stehen eng beieinander. Wenn ich nur realistisch bin, wird sich nicht viel verändern, und wenn ich nur in der Utopie lebe, dann bin ich schnell arbeitslos. Es braucht bei jedem Projekt diese höhere Stufe, wo sich beides einpendeln kann.
Die Beschäftigung mit den Gegebenheiten und mit dem, was die Menschen beschäftigt, ist unglaublich wichtig. Genauso bedeutend ist aber auch die Vorstellungskraft, die darüber hinausreicht, sozusagen in einen transzendenten Bereich. Immanenz und Transzendenz decken sich beim ganzheitlichen Projekt. Ein interessantes Haus hat etwas Unsagbares in sich. Wie Giuseppe Tomasi di Lampedusa sagte: »Ich möchte ein Haus bewohnen, in dem ich nicht alle Räume kenne.«
e: Wie würden Sie diesen transzendenten Bereich beschreiben?
GC: Die Suche nach einer bestimmten Atmosphäre ist dabei wichtig. Bei einer Atmosphäre weiß man nicht, ob sie von mir ausgeht oder ob sie auf mich zukommt. Wenn etwas zu eindeutig ist oder zu viel Aufmerksamkeit erfordert, entsteht wenig Atmosphäre. Atmosphäre ist etwas, das da ist, was real ist. Eine starke Atmosphäre hat aber auch etwas Unsagbares, etwas Abwesendes.
e: Wo sehen Sie in Ihrer Arbeit weitere Utopien?
GC: In der Regel beim jeweiligen Projekt. Stets kommt eine weitere Erfahrungsstufe dazu. In diesem Sinne entwickelt sich etwas, ohne dass ich bestimmte Ziele anvisieren muss. Wichtig ist, dass man die Leidenschaft hochhalten kann. So wie Giacometti sagte: »Dieses Mal bin ich ganz nahe dran.«. Diese Zuversicht und der Glaube, dass es gelingen könnte, sind die größte Motivation in meiner Arbeit.
Das Interview führte Mike Kauschke.