Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 17, 2017
Die Digitalisierung dringt immer mehr in alle Bereiche unseres Lebens und Denkens vor. Viele erleben das als Bedrohung. Aber wächst momentan vielleicht auch eine neue Generation von Digital Natives heran, die eine sinnvolle, kreative Integration von realer und virtueller Welt schon vorlebt?
Mein Nachdenken über die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser Menschsein wurde in den letzten Wochen durch eine Reise inspiriert, bei der ich mit dem Autor Amir Ahmad Nasr als Übersetzer durch Deutschland reiste. Amir gab Vorträge zu seinem Buch »Mein Isl@m: Bloggen für die Freiheit«, das ich übersetzt habe. Schon beim Übersetzen des Buches hatte sich für mich ein neuer Blick auf das Internet, Blogs und soziale Medien geöffnet. Für Amir, der im Sudan geboren und in Katar und Malaysia aufgewachsen ist und in Schule und Moschee mit radikal-islamistischem Gedankengut indoktriniert wurde, war das Internet die Rettung. Hier konnte er Fragen stellen und Zweifel äußern, die ihn im »realen Leben« seiner Gesellschaft in Schwierigkeiten gebracht hätten. Er konnte mit Menschen direkt interagieren, von denen ihm gesagt wurde, sie seien des Teufels: Juden und amerikanische Soldaten im Irak-Krieg. Er konnte sich mit anderen jungen Bloggern austauschen, die meisten nutzten Pseudonyme, um sich zu schützen. Sie wurden Teil einer Bewegung, die später als der Arabische Frühling von Blogs und sozialen Medien auf die Straße schwappte. Kein Wunder, dass Amir heute sagt, sein Leben in der virtuellen Realität war damals realer als in der realen Wirklichkeit, weil er online viel mehr er selbst sein konnte.
Die Geschichte von Amir und seiner Generation junger Menschen in oppressiv regierten Ländern zeigt eine Seite des Internets, die wir in den westlichen Gesellschaften fast vergessen haben. Die Freiheiten, die wir als selbstverständlich nehmen, sind dort im realen Leben undenkbar, aber online erreichbar. Amir sieht diese Online-Vernetzung als Triebkraft, die auch künftig in diesen Ländern zu nachhaltigen kulturellen Veränderungen führt. Die politische Bewegung des Arabischen Frühlings sei zwar weitgehend gescheitert, aber eine kulturelle Bewegung ist in der jungen Generation weiterhin lebendig.
Generation global
In Malaysia arbeitete Amir mit seinen online erworbenen Fähigkeiten bei einem Start-up namens Mindvalley, das heute ein 100-Millionen-Dollar-Unternehmen ist und weltweit 10 Millionen Menschen erreicht. Mindvalley nutzt das Internet zu einer anderen Form von kultureller Revolution und bietet Apps und Online-Kurse mit führenden Motivationstrainern und spirituellen Lehrern an. Die Angebote versprechen den Zugang zum tiefsten Potenzial des eigenen Wesens, finanziellen Erfolg, ein aufregendes Leben (inklusive ebensolcher Beziehungen), spirituelles Erwachen und eine positive Wirkung in der Welt. Mindvalley veranstaltet auch Konferenzen an »paradiselocations« in Costa Rica, der Dominikanischen Republik, Kroatien, Griechenland, Bali, Mexiko oder Jamaika – Kostenpunkt für die Teilnahme: 4000 Dollar.
Auf den »A-Fests« (A steht für Amazing) treffen sich etwa 350 – 400 vornehmlich junge »Change-Maker und Visionäre, die von großen Ideen angetrieben werden, um die Welt zu verändern« und erhalten »kraftvolle Trainings, erleben tiefe Veränderungen ihrer Denkweise, lernen Techniken des Bio-Hackings, erfahren tiefe Verbundenheit, unglaubliche Abenteuer und einzigartige Möglichkeiten, um die eigene Wirkung zu vervielfachen und der Menschheit etwas zurückzugeben.« Zu jedem A-Fest gehört auch ein »Give Back Day«, an dem die Teilnehmer sich ehrenamtlich in einem lokalen Projekt engagieren.
Die Broadway-Schauspielerin und Meditationslehrerin Emily Fletcher sagt: »Ein A-Fest ist so, als würden Vorträge auf der Ebene der TED-Talks, Partys wie beim Burning Man und Unternehmer wie bei der Summit Series ein Kind bekommen … Jeder ist so sehr im Flow und so präsent, dass sich sehr schnell neue Dinge manifestieren und Verbindungen entstehen.«
Auch Amir war schon auf einem A-Fest und auf unserer Reise trafen wir einen jungen Start-up-Unternehmer, der keinen dieser Events auslässt. Er hat mit einer Start-up-Idee ein Online-Unternehmen aufgebaut, das heute Millionenumsätze erbringt und erzählte uns, dass er nur einmal die Woche in seiner Firma vorbeischaut. Sein Unternehmen hat er in selbstführenden Strukturen aufgebaut, wie sie durch »ReinventingOrganizations« von Frederic Laloux populär geworden sind. So hat er sich selbst (fast) überflüssig gemacht. Das gibt ihm die Freiheit, an neuen Geschäftsideen zu tüfteln, oder an Konferenzen und Seminaren teilzunehmen und mit seiner Familie Traumziele zu bereisen (12 Wochen im Jahr). Er berichtete uns auch von seinem langjährigen Interesse an Meditation, die er regelmäßig übt.
¬ Mit der »Generation Global« scheint eine Generation heranzuwachsen, die die digitale Welt und die reale Welt in neuer Weise verbinden will. ¬
Unser Gespräch mit dem vollkommen unprätentiös wirkenden jungen Mann war für mich so etwas wie der Blick in eine andere Welt. Ich war beeindruckt von dem positiven Spirit der eigenen Potenzialentfaltung, den ich in ihm und den Erzählungen über das A-Fest spürte. Und auch von dem Wunsch, etwas zu tun, was die Welt als Ganzes voranbringt. Andererseits fragte ich mich, ob hier eine junge globale Elite heran wächst, die in der Start-up-Welt erfolgreich ist und nun noch Meditation und Selbstverwirklichung hinzunimmt, um noch erfolgreicher zu sein und noch besser (amazing) zu leben? Und was ist mit den offenkundigenWidersprüchen, wie globalem Umweltbewusstsein und einem riesigen ökologischen Fußabdruck, wenn man auf der Suche nach Inspiration und tollen Erfahrungen ständig durch die Welt jettet? In meinen Gesprächen mit Amir erkannte er diese Widersprüche an, und sah seine Generation auf der Suche, sie zu einer neuen Integration zu bringen. Aber wie?
Die A-Fest-Community ist in vielem wohl ein Spiegel einer größeren Bewegung unter jungen Menschen. Das Zukunftsinstitut bezeichnete sie in einer kürzlich veröffentlichten Studie als »Generation Global«. Durch die digitale Vernetzung weiß diese Generation von der negativen Auswirkung des Konsums, von Massentierhaltung und Billigproduktion in Fernost. Deshalb wird achtsamer Konsum großgeschrieben, fast neun Prozent der unter 30-Jährigen sind Vegetarier. Sie haben vom Burn-out ihrer Elterngeneration gelernt und wollen nicht ins Hamsterrad normaler Beschäftigung einsteigen. Achtsamkeit, Meditation, Yoga gehören zu ihrem Lebensstil. Die Studie fand bei dieser Generation drei grundlegende Eigenschaften: »Sie ist gebildet und digital vernetzt; strebt nicht-materialistische Werte an; denkt global und handelt lokal«. Und sie nutzt die digitale Vernetzung, um »NeoTribes« zu bilden, globale Communities, die durch Werte verbunden werden, sich online oder bei Festivals wie dem Burning Man und Fusion treffen oder sich in Intentional Communities und Ökodörfern zusammenfinden, die ihrerseits global vernetzt sind im Global Ecovillage Network.
Solch einen global vernetzten Lebensstil suchen auch die Digitalen Nomaden. Vor Kurzem trafen sich 1000 Lifehacker, wie sie sich auch gern nennen, zu einer Konferenz in Berlin, der DNX. Auch hier verbinden sich Selbstmotivation, digitale Freiheit, Achtsamkeit, selbstständiges Unternehmertum in einem Ethos, der dem Individuum verspricht, die eigenen finanziellen und örtlichen Grenzen zu überschreiten und die eigene Selbstverwirklichung und eine sinnvolle und lukrative Selbstständigkeit mit der globalen Vernetzung zu verbinden.
Ein anderes Forum dieser »Generation Lifehaking« mit einem auch stark politischen Anliegen ist die Re:publica, die größte Veranstaltung zur digitalen Gesellschaft in Europa mit etwa 900 Sprechern und 8000 Teilnehmern. In diesem Jahr war das Motto bemerkenswerterweise »Love Out Loud«. In Zeiten von Fake-News und Hate-Speech wollte man ein Zeichen setzen, das der Mit-Organisator Markus Beckedahl so beschreibt: »Wir wollen damit unsere Besucherinnen und Besucher motivieren, … einzutreten gegen den Hass, … der vor allem online von einer kleinen Minderheit artikuliert wird. Und quasi dem etwas entgegenstellen, nämlich Liebe, Empathie.«
New Work
Einige junge Leute aus der »Generation Global« traf ich bei einem Dialog, an dem ich mit Amir in Berlin teilnahm. Diese Gruppe von etwa 20 Menschen multikulturell zu nennen, wäre eine Untertreibung. Ein Programmierer aus Palästina, ein Künstler aus Chile, ein Computerspielentwickler, dessen Vater aus Algerien stammt, eine junge Frau, deren Eltern aus China kommen und andere aus Lettland, Weißrussland, den USA und England. An dem Nachmittag gab es verschiedene Kurzvorträge, über die dann diskutiert wurde. Besonders interessant für mich war ein Vortrag über »New Work«, das sich als Synonym für ein neues Arbeiten eingebürgert hat: Immer mehr Menschen verlassen geregelte Jobs mit festen Arbeitsverträgen und klaren Hierarchien. Ihr Ziel ist es, eine Arbeit zu finden, in der sie ein eigenes tiefes Interesse, Talent und Potenzial zum Ausdruck bringen können. Die Website »Humansof New Work« gibt Beispiele für diese neue Arbeitswelt. Bei vielen verbindet sich das Interesse an Selbstausdruck und innerer Entwicklung mit dem Wunsch, in selbstgeführten Teams zu arbeiten, ohne starre Hierarchien, oder freiberuflich in ko-kreativen Projekten. Dabei ist die Kombi Laptop+W-Lan immer dabei, wenn sich diese Online-Entrepreneure mit Vorliebe in den »Hubs« und anderen »Co-Working Spaces« treffen. Vor einiger Zeit konnte ich im ImpactHub Wien die kreativ-offene und menschlich warme Atmosphäre solch eines Arbeitsplatzes spüren, wo jeder Unternehmer an seinen Projekten arbeitet, es aber viele Möglichkeiten der Verbindung und Kooperation gibt.
Aber nicht nur äußerlich hat hier die Digitalisierung die Arbeitswelt verändert, sie wandelt auch das Nachdenken über die Form der Zusammenarbeit. Innovative Führungsmodelle wie Agiles Management oder Holacracy sind auch durch die vernetzte, anpassungsfähige Organisation von Computern und Internet inspiriert. Kein Wunder, dass für viele Fürsprecher der »New Work« die Ideen von Frederic Laloux, dem es darum geht, Raum für individuelle Entfaltung und Erfüllung, Ganzheit und den evolutionären Sinn eines Unternehmens zu schaffen, keinen Widerspruch bilden zu den exponentiellen Wirtschaftsideen des Silicon Valley poweredby Transhumanismus. In dem Buch »Exponentielle Organisationen« wird erklärt, wie die großen Player Google, Amazon oder Facebook Algorithmen und Daten nutzen, um Geschäftsideen exponentiell zu erweitern und zu unanfechtbaren Marktführern zu werden. Diese Idee geht einher mit einem anderen Modewort der digitalen Wirtschaft: Disruption. Das bedeutet so viel wie »kreative Zerstörung«; die digitale Transformation verändert Märkte und Unternehmen radikal. So wie die Arbeitswelt durch Disruption »kreativ zerstört wird«, steht unser gesamtes Leben vor solch einer völligen Umwandlung. Im Gespräch mit der Gruppe Digital Natives in Berlin fiel mir auf, dass sie schon recht heimisch geworden sind in dieser schnellen neuen Welt.
Computerdenken
Mit dieser Generation Global scheint eine Generation heranzuwachsen, die die digitale Welt und die reale Welt in neuer Weise verbinden will – und das mit dem Anspruch, ein sinnvolles, erfülltes, bewusstes und global verantwortliches Leben zu führen. Oder ist dies eine innerlich und äußerlich entwurzelte Generation, die dem neoliberalen Hype grenzenlosen Wachstums folgt und ihn auf das eigene Selbst und das eigene Leben anwendet? Hat sich die Logik des Internets, alles sei immer und überall für jeden verfügbar, schon so tief in sie eingeprägt, dass sie zur zweiten Natur geworden ist? Haben sie die Ausbeutung, die früher durch andere aufgezwungen wurde, nun in die eigenen Hände genommen, und nennen sie Selbstverwirklichung und konkurrieren auf dem globalen Markt der Selbstverwirklicher? Mit den Worten des Philosophen ByungChul-Han: »Das heutige Subjekt ist ein Unternehmer seiner selbst, der sich selbst ausbeutet. … Als selbstausleuchtendes, selbstüberwachtes Subjekt führt es ein Panoptikum mit sich, in dem es Insasse und Aufseher zugleich ist. Das digitalisierte, vernetzte Subjekt ist ein Panoptikum seiner selbst.« Oder sind das nur die Bedenken einer Generation, die die nachfolgende nicht mehr versteht? Kommen die Kontroversen zwischen Natur und Technologie, zwischen Hyperindividualismus und globaler Verantwortung, zwischen Freiheit und Vernetzung, zwischen virtuellem Leben und realem Leben, zwischen finanziellem Erfolg und spiritueller Entwicklung bei ihnen zu einer neuen digitalen Integration?
¬ Innovative Führungsmodelle sind auch durch die vernetzte, anpassungs-fähige Organisation von Computern und Internet inspiriert. ¬
VishenLakhiani, der Gründer von Mindvalley, nutzt die Logik der digitalen Wirtschaft explizit für unsere persönliche Entwicklung. Als Computerwissenschaftler wendet er einen »algorithmischen« Ansatz, den er als »computationalthinking« bezeichnet, auf »Personal Growth« an und nennt es »Personal Disruption«. Er meint, dass wir auch unser Leben disruptiv verändern können, also kulturell Gewohnheiten und Prägungen »kreativ zerstören«, um wirklich unser tiefstes Potenzial zu finden und in der Welt auszudrücken, um einen (großen) positiven Beitrag zu leisten. Dabei meint er auch, dass Bildung oder Spiritualität »gehackt« werden können und dass es weitaus schnellere Wege zu Erleuchtung oder Wissen gibt, als ein tagelanges Retreat oder ein jahrelanges Studium. Es gibt exponentielle Technologien und vernetzte künstliche Intelligenz, die hier nachhelfen können. In seinem Ansatz ist ein maschinelles Denken schon tief ins Innerste des Menschen vorgedrungen. Und damit auch die Logik, dass auch innerliche Prozesse schneller, effektiver, effizienter und reibungsloser ablaufen können. So mitreißend dieser Zukunftsoptimismus und die Umarmung technologischer Möglichkeiten sind, mir scheint die Frage gerechtfertigt, ob wir uns hier als Menschen nicht auch verfehlen können. Vielleicht haben wir unsere kulturellen Konditionierungen »kreativ zerstört«, sind aber plötzlich in einer neuen Konditionierung gefangen, die uns sagt, wir müssten grenzenlos sein, uns selbst verwirklichen, einen möglichst großen positiven »impact« haben und dabei ein »awesomelife« leben.
Was VishenLakhiani, Amir Nasr und viele Digital Natives, die ich auf unserer Reise getroffen habe, verbindet, ist die Sehnsucht nach Freiheit – Freiheit von unterdrückerischen politischen Systemen oder von den Begrenzungen und Denkmustern ihrer Erziehung und Kultur. Die Freiheit, das eigene Potenzial zu entfalten und die Welt zum Besseren zu verändern. Der Cyberspace ist der Ort, wo diese Freiheit einen Gestaltungs- und Kommunikationsraum findet: persönliche, örtliche, unternehmerische, finanzielle, spirituelle Freiheit. Aber wie gehen wir mit diesem Freiraum um, wo wir doch sehen, dass er auch zur Verbreitung von Hass und Lügen oder zur Manipulierung von Konsumwünschen und Wahlverhalten genutzt werden kann?
Und wie frei sind wir in diesem Freiraum wirklich? Ist das, was wir Freiheit nennen, vielleicht eher die Instrumentalisierung von Freiheit? Wir reden viel über zukünftige Cyborgs, aber indem wir die digitalen Werkzeuge und sozialen Medien nutzen und auch unser Denken über das Wirtschaften und sogar über Selbstverwirklichung und Spiritualität einer Computerlogik anpassen, sind wir vielleicht schon Cyborgs geworden, ohne es zu merken. Dabei sind die Logik und die Algorithmen, die wir nutzen, nicht neutral. Byung-Chul Han ist der Ansicht, dass selbst unser Gefühl der Freiheit, uns selbst grenzenlos verwirklichen zu können, die subtile, verinnerlichte Wirkung einer neoliberalen Wachstumsideologie sein könnte. Begeben wir uns freiwillig in ein Hamsterrad und eine selbst verschuldete Unmündigkeit, indem wir versuchen, unser Leben nach Werten wie Vernetzung, Effizienz, exponentielles Wachstum oder grenzenlose Möglichkeiten zu leben, die uns Computer suggerieren? Wo liegt eigentlich der Ursprung der Freiheit? Rudolf Steiner sagte einmal: »Frei ist der Mensch, insofern er in jedem Augenblick seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist.« Die befreiende, beschwerliche, beglückende, begeisternde Suche nach diesem »sich selbst« kann uns kein Computer, keine digitale App und keine logische Methode abnehmen. Nur aus der Verbundenheit mit der erhabenen Tiefe des Lebens in uns sind wir in der Lage, die technologischen Möglichkeiten in unser Leben zu integrieren, anstatt unseren Horizont von Algorithmen bestimmen zu lassen.