Editorial 38/2023

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Editorial
Published On:

April 17, 2023

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Ausgabe 38/2023
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April 2023
Unsere Weisheit
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Woran denken Sie beim Wort Weisheit? An alte, erfahrene Menschen, die Ihrer Ansicht nach weise sind? An besondere Menschen, die durch ihr Sein und Tun Weisheit ausstrahlen? Und wann haben Sie zuletzt daran gedacht, wie Sie selbst weiser werden könnten?

Weisheit spielt in unseren Leben und auch in gesellschaftlichen Debatten kaum eine Rolle. Sie ist uns irgendwie fremd, wie aus einer anderen Zeit. Die einzigen Weisen, die öffentlich so genannt werden, sind die »Wirtschaftsweisen« – das allein sagt schon viel über unsere Kultur. Aber in einer Zeit, in der wir immer mehr Informationen erhalten können, immer mehr wissen können, in der wir uns in multiplen Krisen befinden, scheint ein weiser Umgang mit uns selbst, miteinander, mit dem Lebendigen und unseren technologischen Fähigkeiten dringend geboten. Denn man könnte sagen, dass alle unsere Krisen darauf zurückzuführen sind, dass es unserem Denken und Handeln an Klarheit, Weitsicht, Mitgefühl, Verbundenheit, Demut mangelt – all das Qualitäten, die mit Weisheit assoziiert werden.

Deshalb wollen wir mit dieser Ausgabe fragen, wie eine zeitgemäße Weisheit aussehen könnte, wie das Gespräch über die Qualitäten der Weisheit und der Praktiken, die zu ihr führen können, von den Rändern in die Mitte unserer Kultur finden kann. Dabei wurde uns in unseren Redaktionsdialogen klar, dass es hier nicht nur um eine individuelle Kultivierung geht, sondern auch um eine Kultur, in der Weisheit leben kann – eine Weisheitskultur. Sie wird die Schätze der Weisheitstraditionen, der Weisheitsliteratur und der Weisheitspraktiken aufnehmen, steht aber auch in einer besonderen Zeit. Was bedeutet es heute, weise zu sein oder besser: weiser zu werden?

In seinem Leitartikel zeigt Thomas Steininger auf, dass uns in unserem wissenschaftlichen Blick Wesentliches der Wirklichkeit verloren geht. Er legt dar, dass heute aber in Disziplinen wie der Kognitionswissenschaft auch ein neues, weises Sein in der Welt angesprochen wird. Das könnte zu einer Wiederentdeckung der Weisheit beitragen. Für den Philosophen und TV-Journalisten Gert Scobel hat Weisheit auch damit zu tun, in einer immer komplexer werden Welt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Er fragt, welche inneren Haltungen wir dazu entwickeln und welche Rolle dabei Meditation und andere Praktiken spielen können. Die Einsichten der Entwicklungsforscherin Bonnitta Roy über die Rolle der jüngeren Generationen regen zu einer tieferen Betrachtung darüber an, wie eine intergenerationale Weisheitskultur gestaltet werden könnte. Euvie Ivanova, Podcasterin und Zukunftsforscherin, untersucht sogenannte Psychotechnologien und fragt nach der Möglichkeit einer kollektiven Weisheit – Collective Sapiens, wie sie es nennt.

Dieser Spur folgt auch der Zen-Meister Soryu Forall mit seiner Gemeinschaft in den USA, der Monastic Adademy. Dort wird ganz praktisch erprobt, wie in einem kulturellen Raum Weisheit kultiviert werden kann. Dabei fokussiert sich die Gemeinschaft auf die Ausbildung junger Führungskräfte, die in die weitere Kultur hineinwirken können. Auch der Berater und Dialogbegleiter Rainer von Leoprechting sucht in der Gemeinschaft, die er mitbegründet hat, und in seiner Arbeit mit Teams und Organisationen, nach der Weisheit, die sich in einem kollektiven Feld zeigen kann. Wenn wir meinen, wir hätten etwas über Weisheit verstanden, dann erinnert uns der Psychologe, Dichter und Vordenker der Dekolonisation Bayo Akomolafe daran, dass wir Weisheit nie besitzen können. Er öffnet die Tür zu einem Verständnis von Weisheit, das tiefer geht als bloßes Wissen.

Wir hoffen, dass wir durch diese vielen Perspektiven die Relevanz von Weisheit ansprechen können: »unsere Weisheit« und damit auch Wege, wie wir sie kultivieren können. Da es uns hier nicht um abstrakte Gedanken, sondern gelebtes Leben geht, haben wir diese Ausgabe mit den eindrucksvollen Porträts des Malers und Philosophen Marcos Beccari gestaltet. Seine Aquarelle zeigen Gesicht und Gestalt des Menschen in seiner Schönheit, Brüchigkeit und Lebenstiefe, in der immer wieder auch Weisheit aufleuchten kann.

Mit dieser Ausgabe möchten wir einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Weisheit wieder zum Thema unserer Gespräche und unseres Lebens wird. Unsere evolve-Salons sind eine Möglichkeit dieses Gespräch zu beginnen. Wir sind gespannt, wie sich der Dialog weiter entfalten wird.

Weitere Möglichkeiten zum Dialog bietet unser neues Web-Netzwerk evolve World, an dessen Fertigstellung wir arbeiten. In den nächsten Monaten werden wir damit online gehen, mit speziellen Angeboten für unsere Abonnentinnen und Abonnenten. Wir möchten uns ganz herzlich bei allen bedanken, die uns hierfür auch finanziell unterstützen! Und für die nächste evolve-Ausgabe haben wir ganz besondere Pläne … Lassen Sie sich überraschen!

Herzlichst,

Mike Kauschke
Redaktionsleiter

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Author:
Mike Kauschke
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