Die documenta 15
Erstmals kuratiert ein Kollektiv die documenta. Ruangrupa gründete sich im Jahr 2000 in Jakarta und bedeutet im Indonesischen so viel wie »Raum der Kunst« oder auch »Raum-Forum«. Neun Monate vor der Eröffnung der Kunstausstellung gibt das Kollektiv die Namen der 14 Künstler in dem lokalen Straßenmagazin »Asphalt« bekannt. Der Erlös kommt Menschen in Not zugute. Sie wollen damit einerseits den Blick auf lokale Phänomene richten und beziehen das Interaktive und Naheliegende ein, andererseits ist das Kollektiv aber auch global vernetzt.
Dass die Frage nach »guter« und »schlechter« Kunst eher weniger interessiert, haben die Kuratorinnen im Vorfeld bereits des Öfteren klargemacht. Stattdessen zielt ihr zentraler kuratorischer Ansatz auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen. Die Bereitstellung von Raum wie das ruruHaus in Kassel schafft einen Ort, wo Ideen gesammelt und erkundet werden und eine gemeinsame Entscheidungsfindung und kollektive Arbeitsweisen erprobt werden können. »Wie in einer Familie«, so beschreibt es ein Mitglied, wird hier miteinander gearbeitet. Die Auflösung von Zentralisierung durch Zusammenkünfte in kleinen Arbeitsgruppen, den sogenannten majelis, ermöglicht den Beteiligten, sich bereits im Vorfeld der Eröffnung kennenzulernen und einander ihre Praxis und ihre für die documenta 15 geplanten Projekte vorzustellen, Fragen zu diskutieren oder sich gegenseitig im künstlerischen Prozess zu beraten. Die Kunst-Einheiten setzen sich aus internationalen Kreativen zusammen und organisieren sich größtenteils selbst. Die majelis sind auf langfristigen Austausch und nachhaltige Verbindungen auch über die documenta 15 hinaus ausgerichtet. Das Kollektiv hat den Anspruch, nachhaltige Prozesse für die gesamte Ausstellungsorganisation zu denken und dort, wo es möglich ist, umzusetzen – sowohl auf soziale Aspekte bezogen als auch in Umweltfragen.
Den Auftakt des Begleitprogramms der d15 bildete eine Gesprächsreihe lumbung calling von April bis Oktober 2021. Lumbung ist in Indonesien die Bezeichnung für eine kollektiv verwaltete Reisscheune, in der die Ernteüberschüsse als Gemeinschaftsgut gelagert werden. Die gemeinsamen Ressourcen und die gegenseitige Fürsorge dienen dem längerfristigen Wohl der Gemeinschaft. Ein lumbung wird als metaphorischer Raum für eine alternative Wirtschaft verstanden und basiert auf Werten wie Kollektivität, Solidarität, lokale Verankerung, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration. Eingeladen wurden zur Gesprächsreihe Aktivisten, Forscherinnen, Fischer usw. – allesamt Akteurinnen, die sich großen Herausforderungen stellten und durch ihr Handeln bedeutsame Veränderungen anstießen. Jede Ausgabe der siebenteiligen Reihe ist im Netz nachzuhören.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen zeigt sich das Konzept von lumbung mit seinen Werten von größerer Bedeutung und Relevanz denn je. In Zeiten, in denen so viele Menschen die Ungleichheit und Ungerechtigkeit der herrschenden Systeme zu spüren bekommen, kann lumbung (neben vielen anderen Denkansätzen) zeigen, dass die Dinge auch anders betrachtet werden können.
Die documenta 15 fordert die klassische Kunstwelt und ihr Verständnis von Relevanz im besonderen Maße heraus. Kunst und Aktivismus sind hier nicht mehr zu trennen. Was bedeutet dies für die globalisierte Kunstwelt? Was ändert sich dadurch? Wohin geht die Reise? Inwiefern werden Kuratoren der Kunstwelt eher gerecht, wenn sie sich ihr kollektiv widmen? Sicher ist: Es wird ein Festival der Vielfalt. Nichts ist so wie bisher auf der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst. Die documenta beginnt am 18. Juni 2022 und endet am 25. September 2022. Karten sind seit September 2021 erhältlich.