Ein Tanz, der verbindet

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 17, 2023

Mit:
Euvie Ivanova
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AUSGABE:
Ausgabe 38 / 2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Was die Seele wachsen lässt

Euvie Ivanova will Psychotechnologien – Praktiken, die uns bei der Entwicklung von Weisheit unterstützen – wiederbeleben und im Kontext unserer Zeit neu erschließen. Ein Gespräch über Seelenhandwerk, ekstatischen Tanz und die verkörperten Ströme des Lebens.

evolve: Du sprichst von der Heilung unserer selbst, der Heilung unserer Beziehungen zueinander und der Heilung unserer Beziehung zur Natur als dem einzigen Weg, um durch dieses Zeitalter des Zusammenbruchs zu kommen. Was hat das mit Weisheit zu tun?

Euvie Ivanova: Zunächst sollten wir Weisheit definieren. Wissen kann zu Informationen verdichtet werden. Man kann Wissen in ein Buch schreiben und jemand kann es lesen. Weisheit ist etwas anderes. Sie ist verkörpert und lebendig. Sie ist nicht nur Information. Es geht darum, wie du die Welt wahrnimmst und darin handelst. Man kann Weisheit nicht vortäuschen. Sie lebt in deinem Körper, sie ist kein Konzept, das nur in deinem Kopf existiert. Wenn wir Weisheit so definieren, dann hat auch die Heilung der Beziehung zu uns selbst, zueinander und zur Natur mit Weisheit zu tun.

In der modernen westlichen Gesellschaft konzentrieren sich die Menschen auf Informationen, auf Objekte, die voneinander getrennt und abgeschlossen sind. Aber ich versuche, auf den aktiven Prozess hinzuweisen, der in einem Gewebe von Verbindungen existiert. Das ist eine andere Art, die Welt zu betrachten.

Psychotechnologien

e: Du weist auf bestimmte Psychotechnologien hin, die mit Weisheit zu tun haben. Was sind Psychotechnologien? Und wie schaffen sie die Weisheit, die wir jetzt brauchen?

EI: Der Begriff Psychotechnologie ist aus dem Griechischen herzuleiten: aus psyche, Seele, Atem, Leben, Lebenskraft, aus téchne, Kunst, Geschick, Handwerk und logos, in der antiken Rhetorik auf Verstehen angelegte Rede, Sprache. Es bedeutet also so etwas wie ein Seelenhandwerk, das man anderen vermitteln kann. Auch wenn es ein unbeholfenes Wort ist, passt der Ursprung des Wortes gut zum Sinngehalt, den ich ansprechen möchte.

Ich habe einige der gängigen Psychotechnologien auf meine Weise kategorisiert. Wie diese Kategorisierung beschaffen ist, ist nicht so wichtig, denn ich versuche, auf etwas hinzuweisen, was noch nicht definiert ist, was noch im Entstehen begriffen ist. Das ist nicht die Art von Weisheit, die man artikulieren kann, es geht vielmehr um einen Prozess, in dessen Zentrum die Beziehung steht. Wenn wir Psychotechnologien als Praktiken betrachten, können sie unsere Beziehungen – mit uns selbst, miteinander und mit der Natur – stärken, durch die wir in dieser Phase der Geschichte überleben und uns entfalten können.

e: Du unterscheidest zwischen Psychotechnologien, die in der Kultur bereits gut entwickelt sind, und solchen, die noch entwickelt werden müssen. Kannst du etwas zu den Praktiken sagen, die deiner Meinung nach noch entwickelt werden müssen?

»Individuation und Verbundenheit existieren gleichzeitig.«

EI: Ich interessiere mich für die Psychotechnologien, die sich entwickeln. In meiner Kategorisierung bezeichne ich dieses lebendige Neuland als Collective Sapiens, die Weisheitspraktiken des gemeinsamen Menschseins. Meiner Ansicht nach müssen einige ­dieser ­Psychotechnologien vor die Achsenzeit von 800 bis 200 ­v. u. Z. zurückgehen, also in die Zeit vor der Entstehung der modernen Großreligionen, die tendenziell dualistischer Natur sind. Der gemeinsame Nenner ­dieser modernen Religionen ist die Spaltung zwischen der physischen und der spirituellen Welt. Dies zeigt sich in vielen verschiedenen Formen, in denen die Menschen den Körper und den Geist als zwei getrennte Dinge ­betrachten. Das schlägt sich in zahlreichen Ausdrucksformen nieder, die zeigen, dass wir das verbindende Gewebe zwischen den lebendigen Wesen aus dem Blick verlieren. Deshalb glaube ich, dass wir spirituelle Praktiken wiederbeleben müssen, die aus der Zeit stammen, bevor diese dualistischen Konzepte in den Köpfen der Menschen Wurzeln schlugen.

Individuation und Verbundenheit

e: In gewisser Weise sprichst du auch von Individuation, denn in der Achsenzeit erfolgte mit der Trennung des Selbst von der Natur und des Selbst vom Anderen auch ein Individuationsprozess. Müssen wir zu einer vorindividuierten Seinsweise zurückkehren oder sollten wir uns in eine Richtung bewegen, die unsere Fähigkeit zur Individuation transzendiert und einschließt?

EI: Ganz sicher können wir nicht mehr zurück. Wir haben diese Reise bereits abgeschlossen. Ich habe gerade eine Pflanzenmedizin-Zeremonie hier in Ecuador gemacht. Eines der Themen war die Energie der Schlange, und die Schamanin sagte, dass die Schlange sich nur vorwärts bewegen kann, sie kann sich nicht rückwärts bewegen. In dieser Erkenntnis steckt Weisheit: Es gibt kein Zurück für die Menschheit, nur ein Vorwärts. Im Sinne der integralen Theorie ist es ein Prozess des Transzendierens und Einbeziehens. Es geht um Integration, um Heilung, um Wiederherstellung, um Gleichgewicht, um Rückkehr in die Ganzheit. Individuation und Verbundenheit können gleichzeitig existieren und müssen notwendigerweise zusammen existieren.

e: In der Achsenzeit wurden bestimmte Arten von Weisheit abgelehnt. Wir wollten unser Denken von den Naturgewalten befreien. Wie ist hier eine Reintegration möglich?

EI: Ich bin von Natur aus ein sehr offener Mensch. Daher neige ich dazu, mit sehr unterschiedlichen Gemeinschaften in Kontakt zu treten. In Ecuador gibt es ein so vielfältiges Spektrum von Menschen. Es gibt traditionelle Christen. Es gibt Naturheilkundler und Menschen, die sich für Pflanzenmedizin und Körperarbeit interessieren. Alle diese Gruppen haben unterschiedliche, wertvolle Ansichten, aber sie reden nicht wirklich miteinander. Das hat ideologische Gründe, denn sie glauben, dass die Konzepte der anderen Gruppen falsch sind.

Vielleicht kann ein Pluralismus entstehen, bei dem die Menschen akzeptieren können, dass ihre Weltanschauung für sie funktioniert, dass sie aber von Natur aus unvollständig ist, da sie auf Konzepten beruht. Die Welt aber ist nicht konzeptionell, sie ist verkörpert, sie ist physisch. Die Versöhnung zwischen dem Geist und dem Körper bedeutet, zum Körper zurückzukehren und zu erkennen, dass dort alles lebendig ist. Sogar die Konzepte, die wir haben, leben im Körper, weil sie mit Erinnerungen, Emotionen und körperlichen Reaktionen verbunden sind.

Für mich hat es etwas Heilendes, sich in einem physischen Raum in einer physischen Gemeinschaft zu treffen, die im Kontext der Natur existiert. Menschen, die um das Feuer sitzen, wie es unsere Vorfahren seit tausenden von Jahren getan haben, die singen und miteinander reden, die ihr Essen teilen, von herumlaufenden Kindern und Tieren umgeben. Solche Erfahrungen sind von Natur aus heilsam und helfen uns, unsere Unterschiede zu überwinden und einfach gemeinsam Mensch zu sein.

Verkörperung neu erfahren

e: Du sprichst von der Fähigkeit, unser Menschsein aus der Verkörperung zu leben. Wir sind alle in der Wirklichkeit, im Leben, auf der Erde und atmen dieselbe Luft. Hier liegt das Potenzial für eine Verbundenheit, die in der Lage sein könnte, Unterschiede in Ganzheit zu halten. Denn die Frage ist: Wie können wir die Verbundenheit mit einer Vielzahl von Standpunkten oder Perspektiven aufrechterhalten? Wie können wir diese Pluralität zulassen, sie aber in einem tief empfundenen Zusammengehörigkeitsgefühl verankern?

»Es gibt Lebens­ströme, die durch uns und um uns herum fließen.«

EI: Danke für diese Frage, ich erkenne darin so viel wieder. Ich bin hier in Ecuador, und zum ersten Mal in Südamerika. Ich bin seit Langem in intellektuellen Kreisen tätig und komme aus einer nördlichen Kultur, in der wir unseren Schwerpunkt mehr im Kopf haben. Hier in Ecuador leben die Menschen viel mehr aus dem Herzen. Sie verbinden sich von Herzen, sie schauen einander in die Augen und es gibt eine sofortige menschliche Verbindung und Wärme.

Ich gebe dir ein Beispiel. Ich habe hier viele Erfahrungen mit ekstatischem Tanz gemacht. Ekstatischer Tanz ist eine uralte Psychotechnik. Unsere Vorfahren haben getanzt. Sie kamen zusammen, schufen ein energetisches Gefäß und tanzten dann ihr ganzes Wesen ins Leben. Sie tanzten ihr Fest, sie tanzten ihren Kummer. Sie tanzten, um Einsichten zu erhalten. Sie tanzten, um sich zu verbinden. Sie tanzten, um ihre Gefühle loszulassen oder sich mit ihren Gefühlen zu verbinden. Sie tanzten für die Geburt und den Tod und das Leben und alles, was dazwischen liegt. Wenn man unter der Anleitung von jemandem tanzt, der den Raum halten kann, ist das extrem transformativ. Es ist erstaunlich, vor allem für Menschen, die viel Zeit in ihrem Kopf verbringen, weil sich eine nonverbale, intuitive, verkörperte Dimension ihres ­Wesens öffnet. Es ist transformativ, weil wir buchstäblich neue Wege des Seins in die Wirklichkeit tanzen und unsere eigenen konzeptionellen Grenzen verlassen können.

Durch diese Art von Praktiken können wir zu unserem Körper zurückkehren, weil die Weisheit unserer Vorfahren noch in unserem Körper vorhanden ist. Wir haben sie nicht verloren. Wir haben vielleicht keinen konzeptionellen Zugang dazu, aber sie existiert noch in unserem Körper, und so können wir uns wieder damit verbinden.

e: Was ist deiner Meinung nach die Folge davon, dass diese Praxis so kraftvoll ist? Gibt es auch eine Integrationsmöglichkeit auf einer eher mentalen Ebene?

EI: In der westlichen Kultur haben wir diese sehr gut entwickelten intellektuellen Fähigkeiten und wir müssen sie nutzen. Aber ich denke, dass dies mit dem Körper beginnen sollte. Wenn der Körper es jedoch erst einmal verstanden hat, können wir unsere intellektuellen Modelle aktualisieren und erkennen, dass der konzeptionelle Verstand nicht das Steuer in der Hand hat. Er denkt das gerne, aber es ist nicht so. Unser verkörperter Verstand ist derjenige, der am Steuer sitzt. Er ist viel älter, viel leistungsfähiger und neurologisch viel effizienter bei der Verarbeitung von Informationen und Signalen. Und das ist übrigens auch die Erkenntnis der Neurowissenschaften. Unsere verkörperte Wahrnehmung ist viel leistungsfähiger, sie hat nur nicht die Worte dafür.

Im Strom des Lebens

e: Siehst du auch Praktiken, bei denen Potenziale zwischen Menschen emergieren in einem Dialog, der verkörpert ist und zugleich die Sprache nutzt? Spielen solche Praktiken eine Rolle bei der Entstehung der Weisheit, die wir brauchen?

EI: Ich sehe diese Integration als sehr wichtig und schwierig an, weil bei verschiedenen Gruppen unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen. Die Gruppe, die ekstatischen Tanz macht, ist wirklich gut auf der verkörperten Ebene und weniger entwickelt auf der intellektuellen Ebene. Aber Gruppen, die sich mit der intellektuellen Entwicklung des Bewusstseins beschäftigen, haben vielleicht weniger Erfahrung mit der verkörperten Ebene. Wir müssen also integrieren.

Eine Erfahrung, die mit dieser Integration zu tun hat, war ein Frauenkreis, den ich kürzlich erlebt ­habe. Wir saßen in einem Kreis. Viele Frauen haben sich umarmt und an den Händen gehalten. Es wurde viel geweint und Emotionen wurden freigesetzt, es wurde gesungen und gesprochen. Wir verbanden uns mit allen Aspekten des Seins, nicht nur mit Konzepten im Verstand. Aber wir sprachen auch darüber, wie wir das Erlebte konzeptionell verstehen können. Diese verkörperten Praktiken und das intellektuelle Gewahrsein dessen, was geschieht, sind eine neue wirkungsvolle Entwicklungsmöglichkeit. Etwas wird zu einer Psychotechnologie, wenn man tatsächlich weiß, was man tut, und wenn man es wiederholen kann, wenn man es anderen mitteilen kann.

e: Wie siehst du das Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Formen von Praktiken?

EI: Wenn wir unsere Individualität völlig aufgeben und Teil des undifferenzierten Ganzen werden, ist das nicht wirklich hilfreich. Ja, es gibt ein Gefühl des Einsseins und das ist manchmal glückselig, aber der Schatten davon ist, dass wir manipulierbar sein können. Wenn Menschen hyper-individualistisch sind, sind sie mit nichts verbunden. Dann haben wir all die Probleme der westlichen Mentalität, bei der die Menschen nicht erkennen, dass alles miteinander verbunden ist, und sie fügen sich gegenseitig, sich selbst und der Erde Schaden zu. Was ist also das Gleichgewicht? Wir müssen Souveränität und Grenzen bewahren und gleichzeitig miteinander verbunden sein.

Auch in dieser Hinsicht ist der ekstatische Tanz eine interessante Methode, denn er schöpft aus unserem verkörperten Selbst und unserer verkörperten Wahrnehmung von Beziehungen. Wie beziehe ich mich auf andere in meinem Raum, auf die Menschen, Pflanzen, Tiere an einem Ort. Die Entwicklung dieser verkörperten Fähigkeit, mit allem verbunden zu sein und gleichzeitig die inneren Grenzen zu wahren, ist eine kraftvolle Psychotechnologie.

Es gibt Lebensströme, die durch uns und um uns herum fließen, unabhängig davon, was wir über sie denken. Und wir können unseren Platz in ihnen einnehmen, aber in unserem konzeptuellen Verstand vergessen wir das manchmal. Wir haben unsere eigene Souveränität und unsere eigenen inneren Prozesse. Und diese Prozesse sind Teil von etwas Größerem.

Es gibt eine interessante Übung, bei der wir uns darauf konzentrieren, dass der Prozess das Erste ist und die Wesen und Objekte das Zweite sind, das aus diesen Prozessen hervorgeht. Die Ströme des Lebens sind primär und die verschiedenen Dinge, die wie Objekte aussehen, tauchen vorübergehend auf und lösen sich dann wieder im Strom auf. Wenn wir diese neue verkörperte Seinsweise praktizieren und mit anderen teilen können, dann leben wir Weisheit.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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