Ein Virus zeigt uns unsere Grenzen

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Essay
Publiziert am:

February 2, 2021

Mit:
Lonny Jarrett
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 29 / 2021:
|
February 2021
Wissenschaft
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Die Pandemie und ihre Fragen an die westliche Medizin

Die westliche Medizin kann auf immense technologische Errungenschaften verweisen. Es gibt aber auch eine andere, eine östliche Medizin. Was sie auszeichnet, ist ein ganzheitlicher Blick, den wir in der Moderne weitgehend verloren haben. In der Pandemie zeigen sich die Schwächen, aber auch die Stärken zweier sehr unterschiedlicher Perspektiven. Lonny Jarrett, ein weltweit anerkannter Experte der Chinesischen Medizin, setzt sich dafür ein, dass beide Traditionen ihre Beschränkungen erkennen und überwinden. Seine Vision ist ein synergetisches Miteinander aus West und Ost, das es Mensch und Welt gleichermaßen erlaubt zu gesunden.

Die globale Pandemie stellt die Medizin vor enorme Herausforderungen. In den vergangenen Monaten mussten Ärzte auf Intensivstationen immer wieder durchleben, dass sie trotz modernster Geräte und fortschrittlichster naturwissenschaftlicher Erkenntnisse vielen ihrer Patienten nicht helfen konnten. Auch alternative Methoden wie die Chinesische Medizin stießen in der Pandemie an ihre Grenzen. Chinesischen Ärzten, die westliche Behandlungen mit individuellen Kräuterrezepturen, Akupunktur und Bewegungsübungen aus dem Tai Chi und Qigong verbanden, gelang es in vielen Fällen, besonders schwere Krankheitsverläufe zu verhindern. Und mit ihren ganzheitlichen Ansätzen konnten sie die Genesungsrate ihrer Patienten steigern, die Sterblichkeit senken, Schlafstörungen und Ängste lindern sowie die Rekonvaleszenz verbessern. Aber auch hier waren die medizinischen Möglichkeiten angesichts des neuen Virus beschränkt. In Anbetracht der so umfassenden Bedrohung der menschlichen Gesundheit wird besonders deutlich, wo die Grenzen der entwickeltsten medizinischen Systeme aus West und Ost liegen.

Verengungen erkennen

»Wir sollten das Virus nicht als ein isoliertes Phänomen betrachten. Wir leben in der Realität einer globalen Welt und brauchen ganzheitliche Systeme und eine integrale Perspektive, die diese umfassende Realität adressieren. Mit Blick auf die Natur der Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, ist eine medizinische Perspektive nicht umfassend genug, solange sie nicht die Behandlung von Individuen in einen Kontext stellt, der gleichzeitig eine sich entfaltende Integrität von Kultur, Umwelt und Kosmos umfasst, welche ein Synonym für Gesundheit ist«, meint Lonny Jarrett. Der amerikanische Neurobiologe versucht, zwischen westlicher und östlicher Medizin neue Synergien entstehen zu lassen. Seit 40 Jahren praktiziert er Akupunktur und Pulsdiagnose und wurde in den letzten Jahrzehnten zu einem weltweit führenden Experten für Chinesische Medizin. Sein erstes Buch »Nourishing Destiny: The Inner Tradition of Chinese Medicine« ist längst ein Klassiker der Fachliteratur. Und sein im Frühjahr erscheinendes drittes Buch könnte zu einer Medizin beitragen, die auch die Komplexität erschließt, die zur aktuellen Pandemie geführt hat. Jarretts tiefstes Anliegen ist es, den westlichen Impuls steter Perfektionierung, der gegenwärtig vor allem in einem technokratischen Verständnis von Medizin seinen Ausdruck findet, organisch zu verbinden mit der östlichen Kompetenz eines ganzheitlichen Erfassens und eines tieferen Verständnisses von Harmonie.

Die Unterschiede beider Zugangsweisen zur Gesundheit sind auf den ersten Blick immens. »Die westliche Medizin ist eine streng quantitative Wissenschaft und betrachtet Ursache-Wirkungs-­Beziehungen in einer linearen Zeit. Die Chinesische Medizin ist ebenfalls wissenschaftlich und beruht auf der qualitativen Beobachtung von qualitativen funktionalen Beziehungen, basierend auf dem buddhistischen Prinzip des bedingten Entstehens. Das bedeutet: Alles, was zusammen erscheint, ist funktional verbunden und miteinander verknüpft. Chinesische Medizin betrachtet die Gesundheit eines Individuums als Ausdruck der funktionalen Beziehungen zwischen Organsystemen, die sich in zwischenmenschlichen Beziehungen spiegeln. Patient, Biosphäre und Kultur sind niemals voneinander getrennt«, erklärt Jarrett. Mit dieser östlichen »Wissenschaftlichkeit« tut sich die Schulmedizin schwer, denn ihre Anschauungen sind aus der Naturbeobachtung abgeleitet und klingen recht mythologisch. Und eine Lebenskraft wie Qi lässt sich mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erfassen. Doch in den mehr als 2.500 Jahren, die die Chinesische Medizin besteht, haben sich ihre Erkenntnisse immer wieder in der Behandlungs­praxis bestätigt. Es ist paradox: Die westliche Wissenschaft kann mit ihren rationalen Ansätzen in Studien beweisen, dass Akupunktur in der Schmerztherapie genauso effektiv ist wie eine schulmedizinische Behandlung. Aber sie kann nicht erfassen, wie sich durch das Setzen der Nadeln der Qi-Fluss im Meridiansystem harmonisiert. Während sich Schmerzimpulse und Nervenleitbahnen mit bildgebenden Verfahren objektiv darstellen lassen, entzieht sich das feinstoffliche Qi dem materialistischen Blick. Und die westliche Medizin ist kaum dazu bereit, anders hinzuschauen. Vielleicht auch, weil die subtilen Wirkzusammenhänge, die hier zum Vorschein treten, ihr die Einseitigkeit ihres wissenschaftlichen Weltbildes vor Augen führen.

DIE WESTLICHE WISSENSCHAFT KANN BEWEISEN, DASS AKUPUNKTUR WIRKT, VERSTEHT ABER NICHT IHRE WIRKPRINZIPIEN.

Lonny Jarrett geht es um mehr als eine Begegnung beider Ansätze auf Augenhöhe. Er sieht eine Notwendigkeit, dass sich die Disziplinen ihrer Schwächen bewusst werden, um über sie hinauszuwachsen. Die westliche Medizin mit ihrem Fokus auf die moderne Naturwissenschaft habe zwar in der Notfallmedizin bahnbrechendes zu bieten, aber gleichzeitig ihren Blick auf das verengt, was mit Geräten messbar ist: »Wenn man den reduktionistischen Ansatz der westlichen Biomedizin zum absoluten Prinzip erhebt, lebt man in einem Universum der Äußerlichkeiten. Selbst der Blick durch ein Elektronenmikroskop mit hunderttausendfacher Vergrößerung ändert daran nichts, alles, was es sichtbar macht, ist ein Flachland des Äußerlichen. Mit Blick auf die gegenwärtige Pandemie kennt die Chinesische Medizin seit Tausenden von Jahren Wege zur Behandlung von Epidemien. Wenn man mit Patienten arbeiten kann, bevor sie beatmet werden müssen oder ins Koma fallen, lässt sich die Krankheit oft wenden. Chinesische Kräuter und Akupunktur haben sich bei der Behandlung von Corona als sehr effektiv erwiesen. Aus einer integralen Perspektive müssen wir allerdings auch immer bis zur Wurzel vordringen, das beinhaltet Ernährung, Bewegung, Schlaf ebenso wie politische, soziale und ökonomische Strukturen, die nie vom Individuum getrennt sind. Wir sind keine Opfer dieser Krankheit, wir sind ihre Ko-Schöpfer.«

In chinesischen Krankenhäusern gelang es Ärzten, mit Kräuter­rezepturen die »Transformationsfunktion der Mitte« zu stärken und »das Lungen-Qi zu befreien«. Für Schulmediziner mag das esoterisch klingen, doch tragen diese Behandlungen in den Augen der Chinesischen Medizin dazu bei, Lungenentzündungen zu verhindern, die im Corona-Kontext bei vorbelasteten Patienten schnell tödlich enden können. »Westliche Medizin kennt keine Prävention im eigentlichen Sinn, wenn man einmal vom Zähneputzen absieht. Denn sie ist nur in der Lage, Krankheiten zu diagnostizieren, die sich bereits manifestiert haben«, so Jarrett. Das mag überspitzt sein, trifft aber einen wunden Punkt. Die Internationale Gesellschaft für Chinesische Medizin erklärt in ihren Therapierichtlinien: »Das Anfangsstadium der sich entwickelnden Lungenentzündung dürfte in der Regel die letzte Gelegenheit sein, den Erkrankungsverlauf mithilfe der Chinesischen Medizin noch positiv beeinflussen zu können.« Die westliche Medizin setzt eher darauf, die begrenzten Ressourcen von Medizinern und Krankenhäusern auf die Behandlung schwerer Corona-Fälle zu konzentrieren, während die Chinesische Medizin alles daransetzt, diese schweren Verläufe erst gar nicht entstehen zu lassen. Hier kommt eine ethische Dimension ins Spiel. Denn die starke Fokussierung auf das technisch Machbare und eine High-Tech-Medizin, die nur für begrenzte Patientenzahlen zur Verfügung stehen kann, vernachlässigt leicht, dass weniger bedrohliche Beschwerden besser behandelt oder sogar schon im Keim erstickt werden könnten.

DIE CHINESISCHE DIAGNOSTIK ERKENNT UNGLEICHGEWICHTE FRÜH UND KANN SO ERKRANKUNGEN VERHINDERN.

Natur neu verstehen

Doch auch die Chinesische Medizin ist von Verengungen nicht frei. Ihre feine Wahrnehmungsfähigkeit eröffnet ihr ein subtiles Verständnis menschlicher Harmonie, das dem westlichen Blick entgeht. Allerdings können ihre vormodernen Grundlagen die komplexe Subjekthaftigkeit des Menschen und seine gestaltende Beziehung zur Welt, die heute viele gesundheitliche Probleme hervorbringt, kaum berühren. Dadurch wird ihre Ganzheitlichkeit leicht zu einer Wohlfühl-Medizin. »Wenn man Gesundheit nur gleichsetzt mit Behaglichkeit und angenehmen Erfahrungen, kann Medizin anti-evolutionär werden, indem sie zu Stagnation führt und letztlich zu den Spaltungen beiträgt, die Krankheiten zugrunde liegen«, kritisiert Jarrett. Womöglich hat uns die Pandemie auch deshalb so unerwartet und hart getroffen, weil wir über lange Zeit all die Spaltungen, die unsere Lebensweise erzeugt, ignoriert haben. Wissenschaftlern zufolge könnte das Corona-Virus auf den Menschen übergesprungen sein, weil wir durch unsere Eingriffe immer mehr natürliche Lebensräume zerstören. Doch diesen Zusammenhang hatte auch die östliche Medizin vor der Pandemie nach Jarretts Meinung kaum im Blick: »Die Ganzheitlichkeit der Chinesischen Medizin bleibt oft eine intellektuelle Abstraktion. Theoretisch wissen wir, dass Gesundheit die Manifestation der Synergie in einem filigranen Gewebe funktionaler Beziehungen ist und sich ein optimaler Zustand dann einstellt, wenn jede Funktion zum Wohle des Ganzen arbeitet. Aber wie viele von uns die Chinesische Medizin Praktizierenden verkörpern wirklich die höchsten Werte von Ganzheit als ein erreichbares Potenzial sowohl für sich selbst als auch für den Patienten und die Kultur?«

Mit Blick auf die Entstehungsbedingungen des Corona-Virus ist es zu wenig, die persönlichen Abwehrkräfte zu stärken.

Grundsätzlich basieren die Systeme der Chinesischen Medizin auf der Verwobenheit von Mensch und Welt. »Das menschliche Wesen wird hier sowohl als Subjekt der universalen Kräfte der Biosphäre und des Kosmos betrachtet wie auch im Hinblick darauf, dass es sich durch diese Kräfte konstituiert und sie auch hervorbringt«, erklärt Jarrett. In der chinesischen »Lebenspflege« schrumpft dieser Horizont heute leicht auf individuelle Vorsorge. Die chinesische Diagnostik erkennt früh, wenn Organe und Funktionskreisläufe des Körpers beginnen, aus dem Gleichgewicht zu geraten. So wird medizinische Betreuung möglich, die Erkrankungen verhindert. Doch mit Blick auf die Entstehungsbedingungen des Corona-Virus ist es zu wenig, allein die persönlichen Abwehrkräfte zu stärken. Wie sieht es mit den Kräften aus, die wir selbst als Handelnde in unseren Lebensräumen entfalten – und die wieder auf uns zurückwirken? Wie gehen wir um mit den Elementen, die uns Leben spenden, der Erde, dem Wasser, der Luft? Nur wenigen ist bewusst, dass in Europa jedes Jahr genauso viele Menschen aufgrund von Umweltbelastungen durch unsere Lebensweise sterben, wie bisher im Kontext von Corona ihr Leben verloren. Aus Sicht der westlichen Medizin mag hier ein wesentlicher Schritt sein, die Natur in der Naturwissenschaft neu zu entdecken und die medizinische Relevanz ihrer ganzheitlichen Prozesse anzuerkennen. Und die Chinesische Medizin könnte nicht nur danach fragen, wie das Klima, in dem ihre Patienten leben, auf ihre Gesundheit wirkt, sondern auch, welchen Einfluss diese mit ihrem alltäglichen Handeln auf ihre Umgebung nehmen. Denn so, wie ihrem Verständnis nach Yin und Yang in ihrer ewigen Wechselbeziehung unser Hiersein und unsere Lebenswelten formen, prägt auch menschliche Gestaltungskraft diese Wirklichkeit, die gesund oder krank machen kann.

Komplexität durchdringen

In der heutigen Zeit, in der Leben immer komplexer wird und damit auch die medizinischen Herausforderungen wachsen, ist es ein Schwachpunkt der chinesischen Philosophie, Gesundheit und Heilung als Wiedererlangen einer Harmonie zu betrachten, die zeitlos ist. Nach Jarretts Meinung könnte die Chinesische Medizin vom westlichen Entwicklungsdenken lernen: »Gesundheit kann nicht länger definiert werden als ein homöostatisches Synonym von Frieden. Wir brauchen eine Vision von Gesundheit, die inklusivere Perspektiven entwickelt und eine wachsende Fähigkeit, Komplexität zu denken und auf sie zu antworten.« Seine Vision richtet sich auf das Ineinanderwirken des westlichen Strebens nach immer höherer Komplexität und der östlichen Fähigkeit, den Sinn für harmonische Beziehungen in einem größeren Ganzen zu kultivieren. Damit diese Perspektiven synergetisch wirken können, bedarf es einer gemeinsamen Bewegung und Verschränkung: »Die Chinesische Medizin vermittelt uns mit dem System der Fünf Elemente oder den 64 Hexagrammen des I Ging ein Verständnis von zyklischer Transformation. Doch diese Perspektive kennt keine hierarchischen Unterscheidungen. Evolutionäre Transformation beinhaltet eine vertikale Entwicklung. Zusammengenommen formen der Kreis und die gerade Linie die evolutionäre Spirale, die in der Doppelhelix unserer DNA verkörpert ist.« Die Grundlagen der Chinesischen Medizin stammen aus einer vorwissenschaftlichen Zeit. Eine ernsthafte wissenschaftliche Erforschung ihrer ganzheitlichen und oft auch immateriellen Prinzipien würde unseren Blick auf Krankheit wesentlich verändern. Eine solche Öffnung der Medizin würde ihr Erkenntnisinteresse auch auf ganzheitliche Prozesse von Harmonie und Disharmonie richten, die schon immer vor der Entstehung manifester Krankheiten im Körper entstehen. Hier hilft keine Maschinen-Technologie, hier braucht es ein komplexes Verständnis von Harmonie, sowohl in der Mikro- als auch in der Makro-Dimension des Lebens, eine Kunst und Wissenschaft, welche die Traditionelle Chinesische Medizin über Jahrtausende kultiviert hat

Die Pandemie zeigt wieder einmal die Fragilität des Lebens, unseres ganz persönlichen Lebens, aber auch der ganzen Lebenswelt. Es ist eine Errungenschaft der materialistischen, westlichen Medizin, in weniger als einem Jahr einen Impfstoff entwickelt zu haben, der, mit all seinen Risiken, wahrscheinlich einen wesentlichen Beitrag dazu leisten wird, die akute weltweite Krise einzudämmen. »Die Herausforderungen unseres Überlebens sind nicht länger gottgegeben oder durch mysteriöse Kräfte außerhalb von uns bestimmt«, sagt Lonny Jarrett. Aber traditionelle Formen der Medizin wie die Chinesische zeigen auch ihre gefährlichen Grenzen. Die traditionelle Weisheit der Chinesischen Medizin, die sie außerdem mit ganz neuen Einsichten der dynamischen Systemtheorie ergänzt, machen deutlich, wie einseitig der Blick der westlichen Medizin geworden ist.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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