Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 16, 2020
Bonnitta Roy beobachtet bei Kursen in Entwicklungspsychologie und Bewusstseinsentwicklung seit Jahren einen Paradigmenwechsel. Eine junge Generation entdeckt einen neuen Blick auf die Erfahrung von Gegenwart. Wir sprachen mit Bonnitta Roy über ihr integrales Verständnis unserer Bewusstseinsevolution.
evolve: Unsere Systeme und unsere Lebensweise auf diesem Planeten geraten zunehmend unter Druck. Es scheint notwendig, dass wir größere Reife entwickeln. Aber wie könnte eine Reife aussehen, die eine Antwort auf die Krise unserer Zeit ist?
WIR SETZEN DIE GEGENWART HERAB UND JAGEN DER ZUKUNFT NACH.
Bonnitta Roy: In mir taucht im Zusammenhang mit Reife überraschenderweise der Begriff des »Ältesten« auf. Als Ältester verändert sich deine Beziehung zur Zeit. Sind wir jung, liegt die Zukunft vor uns. Bist du aber ein Ältester, wendest du dich um und kannst den Reichtum dessen sehen, was hinter dir liegt. Und du möchtest dieses Gebiet fruchtbar machen, sodass es die Entfaltung der Zukunft unterstützt.
Das ist ein Gegensatz zu den Modellen der progressiven Entwicklung, bei denen der Fokus darauf liegt, nur vorwärts zu gehen. Diese Modelle gehen davon aus, dass die Vergangenheit primitiv war und die Zukunft fortschrittlich ist. Diese Überzeugung findet sich überall in unserer Kultur, selbst in unserer Spiritualität. Wir setzen die Gegenwart herab und jagen der Zukunft nach. Doch wenn du zu einer Ältesten wirst, ist die Zeit weniger linear. Für dich ist das, was jetzt möglich ist, wichtiger – ausgehend von der Gegenwart, und nicht so sehr von dem, was immer vor dir liegen wird.
e: Viele junge Menschen sagen heute: »Durch das, was in den letzten hundert Jahren passiert ist, hat man mir meine Zukunft genommen.« Wie kann ein Ältester den Boden bereiten, wenn dieser Boden als zerstört betrachtet wird?
BR: Ich habe viele junge Menschen getroffen, die denken, dass sie keine Zukunft mehr haben. Doch ich würde es so formulieren: Die Zukunft, die man ihnen verkauft hat, die gibt es nicht mehr – also die Zukunft, die wir uns vorgestellt haben.
Wenn wir geboren werden, wird uns alles gegeben: Wir können sehen, wir können gehen, wir können sprechen, wir verfügen über Wissen, wir leben in Gemeinschaften, wir haben Bibliotheken. All das wird uns einfach so gegeben, es liegt nicht irgendwo in der Zukunft. Die Frage ist: Was ist von hier aus möglich? Problematisch ist die Tendenz, nicht mit den Möglichkeiten zu arbeiten, die uns gegeben sind, mit dem verkörperten evolutionären Wesen, das wir sind. Stattdessen nehmen wir uns aus dem, was ist, heraus, und entwerfen eine Vorstellung von Zukunft, von der wir glauben, dass wir sie erschaffen können.
Wir sind verkörperte Wesen, deren Evolution sich entfaltet. Wir machen unsere Zukunft nicht. Wenn wir achtsam sind, können wir spüren und deutlicher begreifen, was uns von Beginn an mitgegeben wurde, nicht als Frucht unserer eigenen Anstrengung. Das sind Potenziale, die nicht unserem Ego unterliegen, sie wurden uns durch den gesamten kosmologischen Prozess der Evolution voraussetzungslos gegeben. Eine Älteste zu sein bedeutet auch, sich auf das zu besinnen, was bereits für uns getan wurde und auf all die Früchte, die bereits vorhanden sind. Wir müssen sie nur kultivieren, anstatt uns Früchte vorzustellen, die wir gerne sehen möchten und auf eine Welt loszustürmen, die wir bauen wollen. Wir können zum Instrument werden für das sich entfaltende Potenzial von allem, was bereits da ist, und von vielen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die wir entweder falsch genutzt oder noch nicht einmal bemerkt haben.
e: Was du sagst, klingt ziemlich radikal: Wir versuchen etwas in die Zukunft zu projizieren, das wir bereits kennen, statt in das Geheimnis des Seins einzutauchen, das wir bereits sind.
BR: Ja. Die Zukunft ist ein neu entstehendes Gebiet und ihre Qualität hängt davon ab, wie geschickt wir mit dem umgehen, was wir haben. Wie achtsam sprechen wir? Hören wir zu? Erziehen wir? Oder unterrichten wir? Sind wir uns dessen gewahr, dass jeder von uns ein Geheimnis ist? Wenn wir achtsam sind, dann wird das, was neu entsteht oder emergiert, weit über unsere Vorstellung hinausgehen. Diese Emergenz kümmert sich um sich selbst. Die Frage für uns ist, welche Methoden es gibt, die ein tiefes Zuhören ermöglichen. Das ist für den rationalen Verstand sehr schwer, denn er möchte die direkte kausale Verbindung sehen zwischen aufmerksamem Zuhören und dem Erreichen einer Zukunft, die er sich wünscht. Aber es gibt keine direkte Verbindung. An diesem Punkt in unserer Geschichte arbeiten wir mit komplexen emergenten Systemen, bei denen Kausalität überall und nirgends zu finden ist. Die lineare Rationalität des »Wenn …, dann …« bricht zusammen.
Unser innerstes Potenzial ist ein Geheimnis, und doch ist es uns innewohnend, wir kennen es zuinnerst. Wir suchen in diesem kritischen Moment in der Geschichte unserer Evolution etwas sehr Fundamentales, so etwas wie die Sprache. Als Kinder lernen wir alle sprechen. Bevor wir sprechen, wissen wir nicht, wie wir das Sprechen lernen können. Und wenn wir dann sprechen können, wissen wir nicht, wie wir es gelernt haben – aber wir haben es gelernt.
Ich glaube, was jetzt von uns verlangt wird, hat die gleiche Qualität. Es ist etwas, von dem wir nicht wissen, wie es zu tun ist, bevor wir es tun. Es kann sogar sein, dass wir danach nicht wissen, wie wir es getan haben. Aber es ist etwas, das wir lernen können. Ich glaube, das steht uns bevor. Können wir uns dessen gewahr sein? Können wir da hineinspüren? Können wir vertrauen, obwohl wir nicht wissen, obwohl wir nicht sagen können »Wenn …, dann …«? Reife hat etwas mit dem Ältesten zu tun, der sich umwendet und nicht immer weiter in der Zeit voranschreitet, sondern der die Zukunft sich aus dem entfalten lässt, was gerade jetzt ist.
e: Du sagst: Trotz des Nicht-Wissens, aber das Nicht-Wissen wohnt dem eigentlich inne. Und gleichzeitig ist es ein Wissen.
BR: Ja. Nicht-Wissen wird danach eines unserer Hauptmerkmale sein. Und es bedarf einer uns innewohnenden Vertrautheit. So, wie wir sprechen lernen, ohne zu wissen, wie wir es tun, so ist uns auch diese neue Fähigkeit bereits innewohnend. Was von uns verlangt wird, ist hinzuspüren, zu beobachten, interessante Muster zu erkennen und neugierig zu sein.
Ich habe den Eindruck, dass heute andere Studierende in meine Kurse kommen. Bislang verließ ich mich auf die Entwicklungstheorie oder -typologie, nach der sie noch einen langen Weg vor sich haben. Aber dann habe ich mich gefragt: Welche tiefere Botschaft wird jetzt bei ihnen sichtbar und spürbar, die aus dem Jetzt lebt, unabhängig vom momentanen Entwicklungsstadium? Allein indem ich meine Haltung änderte, begann ich Fähigkeiten herauszulocken, von denen ich nicht geahnt hatte, dass es sie gibt.
Als ich weiterforschte, bemerkte ich, dass junge Menschen eine meta-kognitive Wahrnehmung von ihren Eltern entwickeln, welche die Eltern von sich selbst nicht haben. Diese lässt sie erkennen, dass ihre Eltern in einer unechten Welt, einer falschen Welt, vielleicht sogar in einer verlogenen Welt leben. Dadurch war ihre Kindheit unsicher, denn gleichzeitig wurden sie ja von den Eltern, die in einer solchen Welt leben, beschützt, ernährt und unterstützt. So entsteht eine neue Form der Sozialisierung oder kulturellen Prägung.
Alison Gopnik, eine Psychologin mit der reifen Perspektive einer Ältesten, die sich seit Langem mit frühkindlicher Entwicklung befasst, beobachtet diese Art von meta-kognitiven Fähigkeiten bereits bei Kindern zwischen drei und sechs Jahren. Gehen wir von der gewöhnlichen Zeitachse der Entwicklung aus, dann durchlaufen Menschen die unterschiedlichen Entwicklungsstadien, und wenn sie dann etwa 50 Jahre alt sind, wird sich ein neues Potenzial eröffnen. Doch nun taucht ein neues Muster auf, bei dem Menschen bereits früher meta-kognititve Fähigkeiten entwickeln. Das Problem ist nun, dass wir ihnen diese wieder ab-erziehen, wenn wir sie im herkömmlichen Schulsystem unterrichten.
Zum Beispiel sind Berufstätige erst ab einem bestimmten hohen Entwicklungsstand in der Lage zusammenzuarbeiten, während Kinder in Montessori-Schulen schon sehr früh gemeinschaftsorientiert sind. Einer der Gründe dafür, dass wir diese Bewusstseinsstufen erst spät im Leben entwickeln, könnte sein, dass wir so stark konditioniert sind und daher erst mit 50 meta-kognitive Fähigkeiten entwickelt haben, durch die Konditionierungen und Strukturen abgebaut werden können, um einen Schritt weiterzugehen.
Warum konditionieren wir die Kinder auf diese Weise? Warum arbeiten wir nicht mit meta-kognitiver Intuition, mit dem Gespür, mit der Art und Weise, in der sie einander gewahr sind? Warum arbeiten wir nicht mit den dialogischen Fähigkeiten, die bei Kindern und Jugendlichen auftauchen, anstatt 12 Jahre lang Informationen herauszusuchen und abzurufen? All das führt dann dazu, dass nur 13 Prozent der Berufstätigen wissen, wie man zusammenarbeitet.
Ich glaube nicht, dass das schon unser gesamtes evolutionäres Potenzial darstellt, sondern es repräsentiert ein System, das fixiert ist auf Fortschritt, lineare Fähigkeiten und die Theorie des Hu mankapitals. Wir müssen darauf achten, ob wir die Fehler, die wir gemacht haben, nicht einfach nur in die Zukunft weiterführen, oder ob wir uns fragen, welche großen Fortschritte des Menschseins uns aus einem tiefen evolutionären Potenzial erwachsen? Esist ein Zeichen von Reife, dass der Punkt kommt, an dem du dich hinsetzt und ehrlich bist. Viele der pädagogischen, entwicklungsorientierten und spirituellen Modelle der vergangen 40 Jahre haben nicht wirklich funktioniert.
WIR KÖNNEN ZUM INSTRUMENT WERDEN FÜR DAS SICH ENTFALTENDE POTENZIAL VON ALLEM, WAS BEREITS DA IST.
Ich möchte hier keiner romantischen Verklärung der Jugendlichen Vorschub leisten. Diese Potenziale der Kinder müssen gefördert werden. Wie können wir als Älteste in einer reifen Gesellschaft diese Potenziale unterstützen, wo wir doch in unserer unreifen Gesellschaft genau das Gegenteil getan haben? Es ist, als ob du versuchst, eine Pflanze wachsen zu lassen, indem du von oben daran ziehst. Wir haben die Kinder fortwährend durch die Spuren gezogen, die wir selbst durchlaufen haben, anstatt uns als Älteste umzuwenden und zu fragen: »Wow, was entwickelt sich denn da direkt vor mir? Was ist das für ein Potenzial und wo sind die Überraschungen?«
e: Was bedeutet Meta-Kognition und weshalb taucht dieses Potenzial heute in neuartiger Weise auf?
BR: Meta-Kognition bedeutet, dass du fähig bist, zwischen dir und der Erfahrung einen Beobachtungsabstand zu schaffen. Wenn wir über begrenzende Überzeugungen hinausgehen möchten, wenn eine Kultur ein begrenzendes Paradigma verlassen muss, dann müssen wir fähig sein, dieses zu erkennen und nicht nur innerhalb der Erfahrung, innerhalb unserer Box zu bleiben.
Das ist auf allen Stufen der menschlichen Entwicklung so. An einem gewissen Punkt konnten die Menschen nicht sagen: »Was bedeutet es, eine Religion zu haben?« Du hattest entweder eine Religion oder du hattest keine. Das Denken war innerhalb der Konditionierung gefangen. Überholte Paradigmen und begrenzende Überzeugungen hinter uns zu lassen, ist also wirklich schwer. Es ist zum Beispiel eines der schwierigsten Dinge, sich eine Wirtschaft vorzustellen, die nicht auf zinsbringenden Investitionen beruht. Aus diesem Grund führen all unsere Bemühungen im Hinblick auf den Klimawandel dazu, dass sich das Rad des Kapitalismus und damit des Klimawandels noch schneller dreht. Um sich auf neue Strukturen oder neue Institutionen zuzubewegen, ist es erforderlich, zunächst einen Beobachtungsabstand zu schaffen.
So entsteht auch eine Art Hintertür in der Entwicklungstheorie, denn jede Stufe hat eine Perspektive auf die nächsthöhere, die diese auf sich selbst nicht hat. Die Anhänger von Trump haben eine Perspektive auf den Neoliberalismus, die ein Soziologiestudent in Yale nicht hat. Diese zweifache Gerichtetheit der Wahrnehmung verändert die Bedeutung und Sinnfindung vieler unserer pädagogischen Konzepte.
Meta-Kognition beginnt damit, einen Beobachtungsabstand zu finden. Du bist nicht in der Suppe, du probierst die Suppe: Schmeckt sie? Was fehlt noch? Dazu braucht es sehr hochentwickelte Fähigkeiten. Die erste Ausbildung dieser Fähigkeit zeigt sich heute immer früher. Können wir als Pädagogen das auf eine Weise unterstützen, die vielleicht neu entstehende Entwicklungswege schafft? In der Pädagogik verändert sich etwas. Ich sehe zunehmende Unterstützung für neue kollektive, kollaborative oder verteilte Praktiken, die neue Wege der Entwicklung unterstützen können.
e: Kannst du etwas mehr zu diesen Praktiken sagen?
BR: Ja. Typisch für unsere Generation ist, dass es viele Experten gibt mit viel Expertenwissen, aber jeder behält sein Teilwissen für sich. Wir brauchen kollaborative Praktiken, damit die Menschen nicht durch die Brille ihres Fachwissens, ihres Teilwissens blicken, um miteinander zu konkurrieren. Viele Kinder können das, sie sagen im Spiel auf ihre Weise: »Du hast dein Teil und ich habe mein Teil. Aber wenn wir etwas bauen wollen, brauchen wir beide Teile.« Es ist also nicht so, dass nicht jeder sein Teil hätte, aber sie schauen nicht durch die Brille ihres Teils auf das Teil des anderen.
Es geht um die Verteilung von Fähigkeiten, aber es ist eine kollaborative Praxis, die auch etwas mit meta-kognitiven Fähigkeiten zu tun hat. Denn wenn du ein Fachmann bist und alles nur durch dein Fachwissen betrachtest, bedeutet das, dass du dein Fachwissen nicht wahrnehmen kannst. Du bist dein Fachwissen. Irgendwie können diese Kinder sagen: »Wir sind eine Gruppe, das ist unsere Perspektive, und die Fähigkeit ist im Gemeinsamen« – statt zu sagen: »Das ist meine einzigartige Fähigkeit. Hier ist sie. Ich habe sie hervorgebracht.« Ich habe den Eindruck, dass das ganz natürlich in den Kindern entsteht. Woher es kommt, weiß ich nicht. Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, ihnen Fachwissen beizubringen, ohne dass sie die größere Perspektive verlieren, in der Fachwissen nur Bestandteil eines größeren Ganzen ist.
e: Hat solch ein Wandel auch eine Wirkung auf die eigene Identität?
BR: Ich würde sagen ja. Wenn ich eine geschlossene Identität habe und von autobiographischer Kohärenz abhängig bin, dann gibt es all die Punkte, die ich zusammenhalten muss und die meinen nächsten Schritt kontrollieren. Dann verwechsle ich meine relative Geschichte mit der Realität. Und was die Realität angeht, sie wird hinterfragbar. Wenn ich wirklich erkennen kann, wie ich meine Geschichte konstruiere, kann ich erkennen, dass ich auf unsicherem, »hohlem« Grund stehe. Und mit hohlem Grund ist der heilige Grund gemeint, das Heilige, das Geheimnis meines Seins, unseres Seins, all dessen, was ist.