Eine neue Geschichte leben

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

January 30, 2020

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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
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Können wir die Genderkonventionen überwinden?

Wie finden wir den Weg in eine neue Geschichte, einen neuen verbundenen und wertschätzenden Umgang mit der Erde und miteinander? Elizabeth Debold ist sich sicher, dass dieser Weg nicht ohne radikale Transformation unserer Genderidentitäten möglich ist. Nur so öffnet sich der Blick für ein ko-kreatives und lebensförderliches Miteinander.

Was könnte die neue Geschichte sein, welche die Menschheit in eine andere Zukunft führt als diejenige, vor der wir uns fürchten? Manche sagen, dass es genau darum geht: um eine Bewegung von der Angst zur Liebe. Charles Eisenstein spricht davon, dass in dieser neuen Geschichte die wechselseitige Verbundenheit – das Interbeing – im Mittelpunkt steht, im Gegensatz zur alten Geschichte des Getrenntseins. Joanna Macy spricht von der Großen Wende, einer Transformation unseres Getrenntseins von der Erde und unserer Herrschaft über den Planeten zu unserer wechselseitigen Abhängigkeit mit unserem heiligen Planeten und miteinander.

Ich kann mir kaum vorstellen, wie wir über neue Geschichten sprechen können, ohne uns aufs schwierige Terrain der Genderfrage zu begeben. Wie stehen wir als verkörperte Wesen in dieser neuen Geschichte zueinander in Beziehung? Lassen wir die Polarität oder den gefühlten Gegensatz zwischen männlich und weiblich, feminin und maskulin fallen? Alles andere wäre meiner Ansicht nach keine wirklich neue Geschichte. Aber wäre das inmitten des Klimachaos überhaupt möglich?

NILS-UDO, WINTERNEST Schneebälle, gefärbt mit Beerensaft, Brombeerranke Deutschland 1996 Pigment Print 110 x 144 cm

Alte Geschichten

Die alte Geschichte ist in althergebrachten Geschlechterkonzepten von Entweder-oder eingebettet, die ihre Tragfähigkeit verloren haben. Viele tief reflektierende Menschen, die zur Wurzel der vergifteten Dynamik des Westens im Umgang mit der Erde vorstoßen wollen, weisen auf das ausbeuterische und ausnutzende Verhältnis des Kapitalismus zu unserem Planeten hin. Aber diese Ausbeutung beinhaltet auch eine ziemlich beängstigende Dimension im Hinblick auf die Geschlechter. Erde und Natur haben schon immer eine weibliche »Zuschreibung« erhalten. Selbst das Wort »Materie« für die Substanz der Erde und das lateinische Wort für Mutter – mater – haben denselben Ursprung. Wir Menschen plündern und beuten die Materie, unsere MUTTER aus. Frühe Biologen (und Philosophen), von Aristoteles bis ins 17. Jahrhundert, gingen davon aus, dass die menschliche Reproduktion ein Einwirken des aktiven, »beseelenden« Männlichen auf die passive kalte Materie des Weiblichen erfordert. Nach Ansicht einiger feministischer Wissenschaftlerinnen der frühen 1980er-Jahre wurde dadurch eindeutig der Rahmen zementiert, der Frauen eher zu einem Objekt als zu einem vollwertigen Menschen macht – ein Objekt, das man benutzen und ausbeuten kann.

Heute sind diese falschen Vorstellungen rund um die menschliche Reproduktion zumindest auf rationaler Ebene kein Thema mehr. Und dennoch haben uns diese mächtigen Archetypen der männlichen Handlungsmacht und der weiblichen Passivität nach wie vor im Griff. Weil sie so alt und tief verwurzelt sind, fühlen sie sich irgendwie richtig an. Für viele repräsentieren sie tatsächlich den Kern der männlichen oder weiblichen Identität. Und das ist beunruhigend. Die Philosophin Federica Gregoratto argumentiert, dass der »romantische Femizid« – die Tatsache, dass die Hälfte aller ermordeten Frauen von einem aktuellen oder früheren Lebenspartner getötet wurde – eine extreme Antwort auf diesen Gegensatz zwischen den Geschlechtern ist, die dem männlichen Geschlecht Handlungsmacht und Aktion zuspricht. Die Bedrohung dieser tief verankerten Identität durch die autonome weibliche Handlungsfähigkeit führt zur Gewalt. Und Gewalttätigkeit ist der extremste Ausdruck von Getrenntsein. Genau das ist die gefährliche Nebenhandlung der alten Geschichte.

Genderkonventionen

Ich befürchte, dass uns der Druck und der Schrecken der Klimakatastrophe in diese alte Geschichte zurücktreiben könnten. Es hat die Menschheit Zehntausende von Jahren gekostet, ein gewisses Maß an Selbstbewusstheit und Selbstgestaltung zu erreichen, sodass die eine Hälfte der Gesellschaft, die sich mit Männern paart und Kinder gebärt, nicht nur über diese biologische Fähigkeit definiert wird. In den letzten Jahrzehnten ging es in dem von und über Frauen geführten Diskurs stark um Rückgewinnung – von Ganzheit und Selbstwert, aber auch Überlegenheit und Aggression. Inzwischen haben wir Technologien entwickelt, die es Frauen ermöglichen, neben den Männern in die Schlacht zu ziehen. Aber wir haben noch nicht wirklich Bedingungen geschaffen, die es einem Mann ermöglichen, ein Kind aufzuziehen. Wir beginnen gerade erst herauszufinden, was Männer wohl jenseits einer beschützenden und versorgenden, einer kontrollierenden und führenden Funktion sein wollen. Wir hatten noch nicht viel Zeit, neue Wege des menschlichen Zusammenseins jenseits der Dualität von männlich-weiblich, maskulin-feminin oder Mann-Frau zu entwickeln. Oder zu erforschen, wie eine Gesellschaft jenseits der Geschlechterteilung in der westlichen Kultur aussehen könnte.

Seit den Griechen war die westliche Zivilisation eine Kultur der Krieger. Unsere Grundannahmen über das Geschlechterverhältnis wirft uns in Zeiten von Gefahr und existenzieller Bedrohung – Hunger, finanzieller Kollaps, Krieg – auf unsere Biologie zurück. Männer sind stärker, sie werden Krieger. Frauen gebären, sie ziehen die nächste Generation groß. Wenn die Notlagen und Verwerfungen der Klimakatastrophe unser Lebenssystem bedrohen, werden uns diese alten Muster wie die einzig verfügbare Option erscheinen. Deshalb könnten wir in sie hineingezogen werden.

Michael Braungart, Chemiker und Umweltaktivist, der den abfallfreien »Cradle-to-Cradle«-Prozess für die Industrie mitentwickelt hat, merkte an, dass die Menschen tendenziell mehr Nachkommen zur Welt bringen, wenn sie unter Überlebensstress stehen. Wenn das eigene Leben in Gefahr ist, werden tiefe biologische Fortpflanzungsinstinkte aktiviert, um unserem Stamm oder unserer Sippe das Überleben zu sichern. Diese Grundmuster werden durch unsere tiefe Angstreaktion ausgelöst. Menschen fallen in die primitivsten biologischen Verhaltensmuster zurück – die sehr mächtig sind, wie wir alle wissen. Frauen, die im Alter ab 30 Jahren das Ticken ihrer »biologischen Uhr« gehört haben, wissen, wie hypnotisierend diese biologischen Impulse sein können. Sie können sich schicksalhaft anfühlen.

Wir hatten noch nicht viel Zeit, neue Wege des menschlichen Zusammenseins jenseits der Dualität von männlich-weiblich zu entwickeln.

Auch nach all den wichtigen Diskussionen über Embodiment bedarf es einer stärkeren Körper-Geist-Integration, damit wir unsere Lebensimpulse nicht nur fühlen, sondern auch mit unserem intuitiven Verständnis interpretieren können. Das ist eine hochentwickelte menschliche Fähigkeit, die noch weiter kultiviert werden muss. Da Mangel und existenzielle Angst unsere fundamentalsten Überlebensmechanismen stimulieren und uns in archaische Geschlechterrollen zurückwerfen, ist die Entwicklung eines inneren Gleichmuts und eines tieferen Vertrauens in das Leben mehr als nur eine persönliche spirituelle Angelegenheit. Sie bilden ein neues Fundament, eine transzendente Überlebensweise für uns, in der wir auch in Zukunft komplexe, sich entwickelnde, denkende und fühlende, kreative und liebende Wesen in einer kollabierenden Welt sein können.

Ablenkende Geschlechterdebatte

Vor diesem Gesamthintergrund befürchte ich, dass die Genderdebatte in progressiven Kreisen vom Eigentlichen ablenkt. Die ganzen Diskussionen, die heute um Transgender-Toiletten, Bedenken über die richtige Geschlechteranrede, den Triumph des Femininen, das Ringen um die Frage, wer oder was eine Frau ist (mit oder ohne Uterus?), und #MeToo geführt werden, haben umwälzende Auswirkungen. Sie stellen zudem provokative Fragen, die viele als bedrohlich empfinden. Das sind sie auch. Weil es hier nicht nur um die Identität einzelner Individuen geht. Das Aufbrechen des Mann-Frau-Gegensatzes ist ein Zeichen dafür, dass die Fundamente der modernen westlichen Welt kollabieren. Das könnte das Ende der alten Geschichte und der Anfang einer neuen sein.

Um das Potenzial zu nutzen, das sich möglicherweise unter diesen Identitätsexperimenten verbirgt, bedarf es paradoxerweise einer progressiven Kultur, die den Fokus auf Identität und Identitätspolitik fallen lässt. Die fast schon obsessive Beschäftigung mit den Nuancen der Identität zwängt Menschen in immer kleinere, enger werdende Verständnisräume. Dadurch werden Getrenntsein und Abgrenzung stetig verstärkt. Dies zum jetzigen Zeitpunkt zu behaupten, erscheint vielleicht arrogant oder unbedarft – hat doch das Pendel des Fortschritts hin zu sozialer Gerechtigkeit gerade erst angefangen auszuschlagen! Die Fragen, die durch die Klimakatastrophe aufgeworfen werden, lassen unsere Identitäten jedoch in einem anderen Licht erscheinen. Die Frage ist heute vielleicht weniger »Wer bin ich?«, sondern vielmehr »Was ist der Mensch?«

Die Fragen, die durch die Klimakatastrophe aufgeworfen werden, lassen unsere Identitäten in einem anderen Licht erscheinen.

Die brodelnde Verwirrung und Kreativität rund um Genderfragen verlangt nach einer Kultur, in der Würde und Chancen für jedes menschliche Wesen zur Realität werden. Es bleibt zu hoffen, dass jeder Mensch einen sicheren und respektvollen Weg durchs Leben gehen darf. Aber angesichts der sich anbahnenden Krise ist für niemanden mehr Sicherheit garantiert. Dieser goldene Moment der Genderexperimente ist vielleicht mit dem Berlin der 30er-Jahre zu vergleichen. Gerade erwerben die Vermögenden – direkt oder über Hedgefonds – landwirtschaftliche Flächen und spekulieren auf den in Zukunft erhöhten Nahrungsmittelbedarf. Unzählige Menschen leben an Orten, die bedroht sind, wie etwa Haiti, Bangkok, Florida, die Philippinen oder Nordafrika. Und die Frage nach Klimagerechtigkeit ist dringlich: Viele der ärmsten Menschen der Welt leben an Orten, die wahrscheinlich am stärksten von der Klimakatastrophe betroffen werden. Was auf dem Spiel steht, ist also viel mehr als die eigene Identität.

Wir haben Möglichkeiten, entscheidende Möglichkeiten. Was für eine Welt können wir heute schaffen, die uns aus der ersehnten Zukunft entgegenkommt? Können wir der geheimnisvollen Kraft vertrauen, die das Universum so weit gebracht hat? In vielen von uns schlägt ein drängendes Herz. Und das ist keine Panik, sondern eine Dringlichkeit, die danach ruft, dass wir uns in den unbekannten Tiefen begegnen, aus denen die gesamte Schöpfung pulsiert. In dieser Tiefe werden wir unserer speziellen Identitäten entledigt und eingeladen, uns dem Impuls des LEBENS anzuvertrauen, der die Essenz aller Materie ist. Und in gewissem Sinne ist das alles, worauf es ankommt.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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