Eine neue Kraft

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

January 23, 2023

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Ausgabe 37 / 2023
|
January 2023
Re-Generation
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Die Bedeutung der regenerativen Kulturen

Unser Bild der Wirklichkeit ist brüchig geworden. Es ist Teil der Krise. Die Vision und die Praxis regenerativer Kulturen blicken mit vielleicht neuen Augen auf diese Welt. Allein schon anders sehen zu lernen, ist ein Anfang. In diesem veränderten Blick zeigt sich auch eine Kraft.

Unsere Zeit ist ein radikaler Übergang. Nur wissen wir nicht, wohin. Neben den vielen sich türmenden Krisen zeigt sich aber eine weitere bedrohliche Perspektive: Der Transhumanismus bringt uns vielleicht den Triumph der Technik über Mensch und Natur. Die digitale Welt hat uns im vollen Umfang erfasst. Fast jeden Tag feiert die künstliche Intelligenz neue Erfolge.

Der ChatGPT beweist gerade, wie Künstliche Intelligenz in Sekundenschnelle kluge und informierte Antworten auf schwierigste Fragen aller Bereiche geben kann. Plattformen wie Instagram kennen unser scheinbar »»Innerstes« und der Aufmerksamkeitsindustrie gelingt es, ihren Einfluss auf immer mehr Kulturbereiche auszudehnen. Wenn nun jemand wie Elon Musk Twitter kauft, wird er damit auch zum Besitzer eines realen, globalen Gehirns, das mit seinen 250 Millionen Usern die Gedanken und die Auseinandersetzungen dieser Welt immer besser versteht.

Eine Begegnung mit dem Neurowissen­schaftler Thomas Metzinger hat mich besonders wachgerüttelt. Thomas Metzinger sitzt in mehreren internationalen Kommissionen über ethische Fragen zur allgemeinen künstlichen Intelligenz. Er überraschte mich in dem Gespräch, mit welcher Vehemenz er davon überzeugt ist, dass die transhumanistische Herausforderung der allgemeinen künstlichen Intelligenz mit der Klimakrise gemeinsam die größte Bedrohung der Menschheit darstellt.

Haben wir eine Antwort?

Was sind unsere Antworten darauf? Im letzten Jahr ließ mich eine neue Bewegung für »regenerative Kulturen«hellhörig werden. Nicht nur sah ich hier eine völlig andere Vision für unseren Umgang mit Erde, Mensch und Technik. Ich stellte auch fest, dass es in vielen Ländern Menschen gibt, die nicht nur darüber nachdenken, sondern bereits erstaunlich viel tun. Hölderlins Satz »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch« ist vielleicht zu pathetisch gesprochen, aber ich fand es erstaunlich, wie das Vorhandensein einer gelebten, anderen Zukunftsperspektive meinen Geist öffnete und neue Handlungsräume sichtbar werden ließ.

¬ UNSERE GEGENWART STEHT IM BANN DYSTOPISCHER ZUKUNFTSBILDER. ¬

Unsere Gegenwart steht im Bann dystopischer Zukunftsbilder. Wo sind die Tage, in denen sich mit dem Wort Zukunft noch Hoffnung verband? Aber ohne das Bild einer erstrebenswerten Zukunft geht unsere Gestaltungskraft verloren. Etwas gemeinsam als möglich anzusehen, ist in sich selbst eine Gestaltungskraft. Natürlich braucht es auch äußere Voraussetzungen, um Zukunft zu ermöglichen. Unsere Vorstellungskraft braucht die Verbindung mit dieser äußeren Wirklichkeit. Aber wir unterschätzen oft die Kraft der Vision. Ein gemeinsam gestaltbarer Möglichkeitsraum bündelt unsere Energie. Lebenswege, die oft vereinzelt und fragmentiert nebeneinander existieren, finden zueinander und daraus entsteht eine gemeinsame gestalterische Kraft. Im Spannungsfeld zwischen einer reifen Individualität und einer gemeinsamen Verständigung darüber, was wir miteinander gestalten wollen, entsteht Zukunft.

Die Kraft einer neuen Vision

Die großen Übergänge der Kulturgeschichte entstanden immer auch aus einem neuen Bild der Wirklichkeit. Der Übergang von der späthellenistischen Kultur des Römischen Reiches zum Mittelalter wurde auch durch eines neues Bild des Heiligen möglich. Das waren nicht nur die vielen Graswurzel-Gemeinden der neuen christlichen Bewegung, auch in anderen Mysterienkulten wie dem Mithraskult entstand damals die Vorstellung des »einen Heiligen«, das in einer persönlichen Beziehung zu jedem einzelnen Menschen steht. Das war eine ganz andere Vorstellung als die Vielzahl der oft auch im Widerstreit stehenden Götter.

Vor allem im Christentum zeigte sich ein liebender Gott, der jeden einzelnen ganz persönlich meint. Das war eine Kulturrevolution, die zuerst in manchen Herzen und Köpfen entstand, die aber die Kraft hatte, 500 Jahre hellenistischer Kultur hinter sich zu lassen. Auch der Übergang vom Mittelalter in die Renaissance und Neuzeit entstand aus einem neuen Bild des Lebens und des Menschen. Der Einzelne, dessen Individualität nun sozusagen über die Jahrhunderte des Mittelalters in seiner Beziehung zu seinem Gott gereift war, entschied sich, nach dieser Jenseitsorientierung wieder zurück in diese materielle Welt zu finden. Die neu gefundene Individualität wurde im Übergang zur Renaissance auch zur Grundlage dafür, sich seines eigenen Verstandes mündig zu bedienen. Aus dem Christenmenschen wurde langsam ein demokratischer Bürger.

Meist entstehen diese neuen Wahrneh­mungen der Welt inmitten großer Krisen. Im späten Mittelalter war ein Grund des allgemeinen Vertrauensverlustes das Wüten der Pest. Auch unsere Krisenzeit drängt auf eine neue Sicht der Welt, auf neue soziale Imaginative, wie sie der Philosoph Charles Taylor nennt.

Etwas entsteht

So zeigt sich gerade an vielen Stellen ein Interesse an regenerativen Kulturen. Co-Living und Co-Working sind in aller Munde. Es gibt diesen Trend, gemeinsam aufs Land zu ziehen. New Work, aber auch neue Finanzierungs- und Bankmodelle haben Konjunktur.

In einem Gespräch verdeutlichte mir Daniel Christian Wahl, einer der Vordenker regenerativer Kulturen, dass ein zentraler Gedanke dieser neuen Lebensformen darin besteht, wieder bewusst in einer Bioregion und auch als Teil einer lebendigen Landschaft zu leben. Bioregionen sind klein genug, damit es zwischen allen Beteiligten, auch der Erde und dem Land, lebendige Feedbackschleifen geben kann. Dieses reale Beziehungsgeflecht, das man noch erfahren kann, ist in der Lage, sich gegenseitig in seiner Entwicklung und Entfaltung zu stützen und zu tragen. Es gab einen zentralen Satz, der mich bei Daniel Wahls Ausführungen wirklich traf: Wir Menschen sehen uns in dieser Lebensform nicht als getrennte Akteure in dieser Bioregion. Wir können als Hüter der Landschaft und der Region zu ihrem bewussten Ausdruck werden. Die Region lebt gerade auch durch uns. Diese Wahrnehmung hat manche Ähnlichkeit mit dem Weltverständnis indigener Völker. Gerade für uns moderne Menschen trägt sie in sich ein revolutionäres Potenzial für unser Selbstverständnis darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein. Diese spirituelle Bewusstseinsdimension der regenerativen Kulturen ließ mich aufhorchen.

Eine der Wurzeln regenerativer Kulturen liegt in der Permakultur. In den 1970er-­Jahren entstand die Permakultur in Australien als ein System nachhaltiger Landwirtschaft und Landnutzung, das sich natürliche Ökosysteme zum Vorbild nahm. Wie können wir gemeinsam mit den Kräften der Natur eine sich selbst erhaltende Lebenswelt mitgestalten? Pflanzen, Orte, Böden, aber auch Insekten und andere Tiere bilden intensive Beziehungsgeflechte. Manche Pflanzen formen enge Lebensgemeinschaften und unterstützen einander in ihrem Wachstum. Andere brauchen Distanz zueinander. Tiere, Tümpel und die Rhythmen der Jahreszeit leben in einem dynamischen Gleichgewicht. Wenn eine Gärtnerin diese Verbundenheit immer tiefer zu sehen und zu verstehen lernt, kann sie zur Hüterin und Pflegerin dieser Verbundenheit werden.

Der englische Permakultur-Lehrer Rob Hopkins gründete mit anderen im Jahr 2005 die Transition-Town-Bewegung, die damit begann, mit dieser feinen Sichtweise ökologischer Lebensräume auch in der Stadt- und Dorferneuerung zu experimentieren. Denn auch in den Wirtschafts- und Beziehungsdynamiken regionaler Lebensräume zeigen sich diese selbst regulierenden ökologischen Kreisläufe, die wir pflegen und kultivieren können. Die Arbeit der Transition-Town-Bewegung mit ihrer ökologischen Tiefensicht auf menschliche Lebensräume wurde zu einem Erfolgsmodell, das sich über viele Länder der Welt verbreitete.

Das Myzel und der Cyberspace

Vor einigen Monaten besuchte ich in Berlin »Regens Unite«, ein Festival, das schon in mehreren Städten der Welt stattfand und dessen Anliegen es ist, global verbundene regenerative Kulturen zu fördern. Es scheint, dass viele Menschen auf unsere Krisen, aber auch auf die transhumanistische Herausforderung mit einer neuen Sehnsucht nach authentischer Lebendigkeit, nach einer Verbindung zur Erde und zu einer neuen Gemeinschaftlichkeit antworten. In dieser entstehenden Kultur gibt es auch ein Zauberwort: das Myzel. Als würde dieses lebendige Pilzgewebe in der Humusschicht aller Wälder auch ein Symbol für eine neue Kultur der Verbundenheit werden.

Mich überraschte besonders, dass sich diese erdverbundene Vorstellung des Myzels bei so vielen dieser Menschen wie selbstverständlich mit einer neuen Kultur des Internets verbindet. Als würden die technischen Möglichkeiten des Web3 dem Myzel einen neuen Lebensraum im Cyberspace schaffen.

Und noch ein Wort macht gerade die Runde: Cosmo-localism. Gemeint ist damit die Verbindung einer spirituellen Bewussts­einsdimension mit einer globalen Sicht auf die ökologischen Katastrophen unserer Zeit und einer neuen Würdigung von Örtlichkeit und Regionalität. Das ist auch der große Unterschied zu den identitären, rechtspopulistischen Visionen, deren Antwort auf die Krisen die Abschottung und Rückkehr zu vermeintlich alten Sicherheiten ist.

¬ ETWAS ALS MÖGLICH ANZUSEHEN, BIRGT IN SICH SELBST EINE NEUE GESTALTUNGSKRAFT. ¬

Diese kosmo-lokalen Ansätze verstehen sich als eine Antwort auf die transhumanistische Herausforderung, auf eine Welt, in der alles von den Algorithmen und der Kybernetik-Maschine der großen Tech-Konzerne dominiert wird. Unterstützt durch Technologien wie Blockchain entsteht im Cyberspace die Möglichkeit, eine neue Dimension geschützter Beziehungsräume zu gestalten und global zu vernetzen.

Und einige sind von einer noch ganz anderen Möglichkeit überzeugt. Die neuen Technologien erlauben uns, diesen Cyberräumen so etwas wie eine ethische Architektur zu geben, eine Architektur, die ethisches und lebensförderndes Verhalten im Cyberspace stützt und trägt. Diese Architektur ermöglicht vertrauensbildende Mechanismen, durch die eigenständige Netzwerke über große Distanzen hinweg miteinander zusammenarbeiten können.

Gelingt es wirklich auf diese Weise, Inter­net-Technik zu einem Diener menschlicher Beziehungsfelder zu machen, anstatt diese zu dominieren? Die Geschichte wird es zeigen. Aber viele junge Menschen versuchen gerade, dafür den Wahrheitsbeweis anzutreten. Die Anfänge sind gemacht und sie geben uns Hoffnung auf eine andere menschliche Zukunft, eine Verbindung zwischen regenerativen Bioregionen, neuen Nachbarschaftsstrukturen, neuen, kooperativen Arbeitswelten und einer Architektur im Cyberspace, die diese Verbundenheit fördert – anstatt der digitalen Vereinzelung und Vereinnahmung, die wir heute erleben. Es ist diese Vision, die viele Menschen gerade dazu motiviert, sich für ein Netzwerk global verbundener regenerativer Kulturen einzusetzen.

Angezogen von einer neuen Sicht

Dieser Aufbruch für neue regenerative Kulturen ist sicher nur ein Baustein für die Visionen, die wir brauchen, um in dieser Krisenzeit und nach ihr eine regenerative Zukunft zu finden. Auch metamoderne Demokratieformen, ein Sinn für das Heilige in einer offenen Gesellschaft und eine neue Weisheitskultur werden Teil dieses Anfangs sein.

Aber allein, dass diese Bewegung und die Perspektive regenerativer Kulturen, wie sie gerade weltweit entstehen, sichtbar werden, öffnet die Tür. Wir sehen, wie Menschen in Berlin, in Kolumbien, auf den Philippinen oder in San Francisco damit beginnen, in diesem neuen Paradigma zu leben und dessen Möglichkeiten theoretisch und praktisch zu erforschen.

In der Chaostheorie gibt es die Idee des »Strange Attractor«, dieses anfangs kaum bemerkbaren Impulses, der Systeme, die in einem gewissen Muster gefangen sind, aus diesem Muster herausführt. Neue soziale Imaginative, wie die entstehenden regenerativen Kulturen, können solche »Strange Attractors« sein. Sie überwinden die Schockstarre und eröffnen dahinter unbekannte Handlungsspielräume. Die Krisen sind nicht verschwunden. Die Klimakata­strophe rollt und trotzdem zeigt sich mitten in ihr eine andere Welt und eine neue organische Beziehung zur Wirklichkeit.

Vielleicht ging es den Christen am Ende der Antike ähnlich. Auch das war eine Welt des jahrzehntelangen Bürgerkriegs. Und die Pest des Mittelalters erschütterte damals den Glauben an die alten kirchlichen Autoritäten. Auch damals zeigte sich das Neue zuerst in den Gilden und Handwerkerzünften der mittelalterlichen Städte. Dort entstand der Bürgersinn. Wenn sich der Aufbruch regenerativer Kulturen, den wir gerade bemerken, bewährt, dann kann er zum Anfangspunkt einer neuen Dynamik werden, die ihre Energie auch aus den Krisen selbst bezieht. Sobald neue Welten sichtbar werden, entfalten sie auch ihre eigene Kraft.

¬ DIE GROSSEN ÜBERGÄNGE DER KULTURGESCHICHTE ENTSTANDEN AUCH AUS EINEM NEUEN BILD DER WIRKLICHKEIT.¬

Author:
Dr. Thomas Steininger
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