Eine neue Kultur des Alterns

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Essay
Publiziert am:

July 16, 2020

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Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
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Mit 62, kurz vorm Rentenalter, scheint meine Aufgabe darin zu bestehen, Ältester in Ausbildung zu sein. Doch die ungewollte Realität als baldiger »Ruheständler« hat wenig Verlockendes in Zeiten der globalen Unruhe, in denen doch eigentlich meine Lebenserfahrung und wachsende Weisheit für den Wandel dringend gebraucht würde.Da hat sich trotz allem integralen Wirken in den letzten 20 Jahren doch kaum etwas geändert: Die »moderne« Gesellschaft idealisiert die Jugend und grenzt alte Menschen aus. Alle werden immer älter, kaum eine(r) aber will alt sein. Und wenn ich als »Baby-Boomer« bewusst, integral und offensiv alt werden will, dann muss ich die Realität, die ich vorfinde, verändern.

Die hat sich längst schleichend verändert, ohne dass die Generation der politischen Macher wirklich darauf reagiert hätte: Durch den demographischen Wandel nimmt die Zahl der »Alten« ständig zu, die Über-60-Jährigen bilden bald mehr als ein Drittel der Gesellschaft. Doch diese politische und kulturelle Gruppe voller Reife, gelebtem Leben‚ Erfahrungen und Visionen – zu der ich fast schon gehöre – hat kein positives Selbstbild, keine eigene Identität, kein Bewusstsein ihrer Bedeutung und Kraft. Es gibt viele »Alte«, aber wenig »Älteste«. Und: Sie werden nicht ernst genommen. Die Gesellschaft honoriert und würdigt nicht mehr die Weisheit eines gelebten Lebens.

Die Angst vor einer alternden Gesellschaft stützt sich auf eine kulturell längst überholte Definition von Alter. Das Klischee von Altersstarrsinn, Müdigkeit und Verdrängung, welches vielleicht noch auf die Nachkriegs-Generation zutraf, ist überholt. Die Generation, die nun auf das Rentenalter zugeht, ist das Produkt einer Babyboomer-Generation, beeinflusst vom ivilgesellschaftlichen Widerstand der 68er-Generation und aller folgenden sozialen Bewegungen, geprägt von Selbsterfahrung, Globalisierung und interkulturellem Dialog. Noch nie waren so viele alte Menschen so gut ausgebildet, so gut finanziell versorgt,so gut gesundheitlich versorgt und so gut vernetzt. Hinzu kommt: Die Medizin hat älteren Menschen in der materiell wohlhabenden Welt fast eine Generation Lebenszeit zusätzlich ermöglicht. 60- bis 75-Jährige gelten heute als aktive »junge Alte«, Langsamkeit, Demenz und Pflegebedarf werden meist erst zwischen 80 und 90 aktuell. Es scheint an der Zeit, darüber nachzudenken, welche gesellschaftlichen Veränderungen durch »neue Alte« angestoßen werden könnten.

ES GIBT VIELE »ALTE«, ABER WENIG »ÄLTESTE«

Können wir eine globale kulturelle Tradition aufgreifen und sie als neue »Älteste« sehen? Doch dafür gibt es in einer dynamischen,
sich immer schneller wandelnden, wachstumsorientierten Welt voller kapitalistischer Werte kaum ein Vorbild. »Älteste« finden
sich in der modernen Kultur allenfalls in romantischen Beschreibungen aus indigenen Kulturen, die in der digitalen Welt wie
Fremdkörper wirken. Oder werden »starke Alte« als solche gar nicht mehr wahrgenommen? Was ist mit den in die Jahre kommenden Vorbildern eines ökologischen Lebensstils, den Alt-Revoluzzern, den Pionieren einer integralen, transpersonalen, ganzheitlichen Weltsicht? Sind das moderne »Älteste«? Was kann ihre Aufgabe in einer Zeit sein, in der die Kultur, aus der sie kommen, kollabiert und eine neue Welt in ihren Geburtswehen liegt?

Man stelle sich mit mir mal vor, unsere Gesellschaft würde alle Lebensphasen gleichermaßen schätzen, statt die Jugend zu idealisieren und Alte auszugrenzen. Stellen wir uns gemeinsam vor, wir würden Alter,Krankheit und Tod annehmen, nicht leugnen. Oder, dass Menschen nicht nur immer älter werden, sondern auch bewusst alt sein wollen. Was wäre, wenn dieser große Teil der Gesellschaft ein positives Selbstbild hätte? Eine eigene Identität entwickeln würde, ein Bewusstsein ihrer Bedeutung und Kraft? Wie könnten wir unser gereiftes Potenzial weiterentwickeln, wenn die Weisheit gelebten Lebens kollektiv gewürdigt und aktiv nachgefragt würde? Was wäre, wenn das Alter nicht als Fluch oder »Methusalem-Katastrophe«, sondern als Segen und generative Aufgabe betrachtet würde? Wenn Altern nicht als »Alt-Last« gälte, sondern als Möglichkeit und Auftrag zum Wachstum nach innen? Wenn Alte die Endlichkeit nicht länger verdrängen, sondern der Wachstumsgesellschaft vorle ben würden, wie aus der Einsicht in die natürliche Begrenztheit unserer Ressourcen und einem daraus gestaltenden Engagement reife Lebens-Qualität entsteht? Was, wenn der viel zitierte Bewusstseinswandel auch die Alten zum Wandel bringt? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wird es Zeit, für eine neue Kultur des Alterns einzutreten. Denn eines weiß ich mittlerweile aus Erfahrung: Jeder Schritt,jeder Tag, jede Stunde bringt das Alter näher. Nicht als Katastrophe, sondern als Höhepunkt.

Author:
Dr. Geseko von Luepke
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