Eine Religion ohne Religion

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

July 18, 2022

Mit:
John Vervaeke
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AUSGABE:
Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
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Dialogos als heilige Kraft


Die Krise der Welt ist eine Sinnkrise, sagt der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke. Sinn im Leben zu finden bedeutet, auch einen neuen Bezug zum Heiligen zu finden. Die neuen Praxisformen des Heiligen, die gerade entstehen, sind so auch die Grundlage einer neuen Kultur.

evolve: Mitten in der gegenwärtigen Krise der Zivilisation gibt es auch eine neue Suche nach dem Heiligen, aber nach dem Heiligen im Kontext einer offenen Gesellschaft. Das heißt, wir können nicht zu einem alten, dogmatischen Verständnis des Heiligen zurückkehren. Zudem erleben wir derzeit so etwas wie eine Revolte der alten heiligen Traditionen in fundamentalistischem Gewand, im Islam, Christentum, Judentum und Hinduismus. Man könnte sagen, die traditionelle Kultur revoltiert gegen die Sinnkrise des postmodernen Westens. In dieser Situation stellt sich die Frage: Finden wir einen Weg, das Heilige in die offene Gesellschaft zu integrieren?

John Vervaeke: Auf diese Frage stoße ich immer wieder. Ich umkreise sie ständig. Es gibt da dieses Zitat aus »Die Pest« von Albert Camus, das ich während der COVID-Zeit gelesen habe. Eine der Personen in dem Buch sagt: »Ich möchte wissen, wie man ein Heiliger sein kann ohne Gott.« Natürlich, wir müssen vielleicht neu aushandeln, was wir unter dem Begriff »Gott« verstehen. Unter einem Heiligen versteht man jemanden, der in der rechten Beziehung zum Heiligen steht, der weise ist in Bezug auf das Heilige. Das überschneidet sich mit der heidnischen Vorstellung vom Weisen.

Ich denke, ein guter Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist das Adjektiv, das du in dem Ausdruck »offene Gesellschaft« verwendet hast. Beim Begriff der Offenheit und ihrem Verhältnis zum Heiligen beziehe ich mich auf das lateinische Wort inventio, zu dem das Verb invenire heißt, was so viel bedeutet wie »entdecken« , aber auch »ermöglichen«. Die inventio oder re-inventio des Heiligen unterscheidet sich von den beiden Versuchen, wie wir das Heilige bisher zu verstehen suchten.

Bei dem einen handelt es sich um das Gegenteil von Offenheit, nämlich eine Vorstellung von Abgeschlossenheit, von Vollendung, von Vollkommenheit. An dieser Stelle möchte ich jemanden kritisieren, der mir normalerweise sehr am Herzen liegt, nämlich Platon. Bei Platon herrscht sehr stark ein Begriff vom Heiligen vor, der mit Abgeschlossenheit, Ruhe, Vollendung und Endgültigkeit zu tun hat. Diese Sicht auf das Heilige ist zutiefst konservativ. Man will dabei alles vermeiden, was sich von der Vollendung, der Abgeschlossenheit und Vollkommenheit entfernt. Dann sieht man die Dinge eher als Abfall von der Vollkommenheit und die Beziehung zum Heiligen bedeutet eine Rückkehr. Diese Beziehung zum Heiligen umfasst eine gewisse Nos­talgie. Im Herzen des Fundamentalismus herrscht Nostalgie; wir versuchen zu der Vollkommenheit zurückzukehren, aus der wir herausgefallen sind.

Den entgegengesetzten Begriff des Heiligen, der ein bestimmtes Konzept von Offenheit betont, hat uns das Projekt der Moderne geschenkt, die ein Kind der Aufklärung ist. Es ist die Vorstellung von Offenheit als Fortschritt. Das ist ein Prozess, den wir nicht zum Abschluss bringen, wir bewegen uns ständig weiter. Und doch gibt es eine geheime Affinität zwischen diesem Begriff des Heiligen und dem nostalgischen. Wir sprechen zwar davon, dass die Zukunft offen ist, sehen sie aber doch in einem endgültigen Rahmen. Wir sehen sie wie das perfekte Abbild davon, wie wir uns perfekt durch die Zukunft bewegen. Diese Vorstellung ist natürlich eine Utopie. Es gibt einen Begriff des Heiligen, der seinem Wesen nach utopisch ist. Die beiden großen bluttriefenden Ideologien des 20. Jahrhunderts, Kommunismus und Nationalsozialismus, gründeten in utopischen Visionen. Bei beiden handelt es sich um ein grundlegendes Missverständnis des Heiligen. Deswegen sage ich gern, auf meinen Grabstein soll man schreiben: »Weder Nostalgie noch Utopie«. Sowohl die Nostalgie des Fundamentalismus als auch der Totalitarismus der Utopie zerstören menschliches Leben in fürchterlichem Maße. Die Frage lautet also: Wie gelingt es uns, einen neuen Begriff von Offenheit und von Heiligkeit zu gewinnen, der beides zusammenführt, ohne uns in die Nostalgie des Fundamentalismus oder aber in den Totalitarismus der Utopie abstürzen zu lassen?

¬ SINN IST ALSO VON ANFANG AN AUF BEZIEHUNG ANGELEGT. ¬

Ich habe einen Vorschlag, wie man das Heilige und die Offenheit verstehen könnte. Er speist sich aus einem anderen Aspekt von Platons Werk, nämlich dem dia­logischen Verständnis des Heiligen. Bei wichtigen Denkern wie Eriugena oder Paul Tillich taucht es wieder auf. Tillich hat einen betont dialogischen Begriff des Heiligen, indem er die transzendente Antwort immer wieder mit existenziellen Fragen konfrontiert.

Geteilte Erkenntnisfindung

e: Weshalb stellst du das dialogische Verständnis des Heiligen ins Zentrum?

JV: Weil ich meine, dass uns das Dialogische eine neue Weise nicht nur des Denkens, sondern auch des Verstehens gibt, eine Weise, offen zu sein, die uns in die richtige Beziehung zum Heiligen stellt, uns zu Heiligen und Weisen macht, um es etwas überspitzt zu sagen. Das Dialogische ist ein Weg, wie wir Offenheit so bewirken können, dass wir uns in einer rechten Beziehung zum Heiligen befinden. Es bringt die Offenheit und das Heilige wieder in ein angemessenes Verhältnis. Offenheit stellt uns einen Weg zur Verfügung, in der rechten Beziehung zum Heiligen zu stehen, und das Heilige gibt uns die Tiefe, in der die Lebensfähigkeit und die Tugend der Offenheit gründen.

e: Die Art, wie du über Heiligkeit und das Heilige sprichst, sind wir in unserem postmodernen Diskurs über Spiritualität nicht gewohnt. Wir leben nicht mehr, wie noch vor 30 Jahren, in einer säkularen Gesellschaft. Es gibt viele Menschen, die sich als spirituell, aber nicht religiös bezeichnen. Du aber sprichst von Religion ohne Religion. Weshalb sprichst du darüber und nicht über Spiritualität?

JV: Da gibt es eine Reihe von Gründen. Ich schließe das Reden über Spiritualität nicht aus, aber ich spreche über die Tatsache, dass Spiritualität im Rahmen einer reinventio von Religion neu wiederhergestellt werden muss. Ich spreche über religio, um der Spiritualität die angemessene Tiefe wiederzugeben. Wenn Menschen sich als spirituell, aber nicht religiös bezeichnen, meinen sie damit meistens, dass sie bestimmte Praktiken der Transformation üben. Sie begeben sich in Praktiken, um Weisheit zu kultivieren, aber sie sehen sich nicht als Angehörige einer bestimmten Institution oder sozialen Organisation.

Das ist aus zwei Gründen problematisch. »Spirituell, aber nicht religiös« bezeichnet oft einfach die Religion des Ich. Ich möchte vorsichtig mit dieser Bezeichnung umgehen, aber es ist eine selbstzentrierte Haltung. Der Ort von Heiligkeit und dessen, was für einen das Heiligste ist, ist das Selbst, die Tiefe des Selbst. John P. Dourley hat von der Psyche als Sakrament gesprochen, und auch bei C. G. Jung und Tillich finden wir diese Idee. Aber Tillich macht etwas Interessantes, auf das Jung erst gegen Ende seines Lebens gekommen ist. Tillich lässt dich eigentlich in die Tiefe der Seele tauchen, um dich für den Grund des Seins zu öffnen, die letzte Wirklichkeit, die er Gott nennt.

Meine Bedenken gegenüber einer Haltung des »Spirituell, aber nicht religiös« gehen dahin, dass uns die Selbst-Zentriertheit anfällig machen kann für Narzissmus, für spirituelle Vermeidung (spiritual bypassing), für Selbsttäuschung und uns so von der kollektiven Intelligenz der geteilten Erkenntnisfindung abschneiden kann. Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass die kollektive Intelligenz die Irrationalität unserer individuellen Voreingenommenheiten überwinden kann, auch wenn sie nicht fehlerlos oder vollkommen ist.

Nehmen wir eine Standardaufgabe zum deduktiven Denken wie die Wason-
Auswahl­aufgabe. Das ist ein oft wiederholter Test, bei dem 90 Prozent der Probanden scheitern. Sie wählen die falsche Antwort, obwohl sie bestens ausgebildete Studierende der Psychologie oder Philosophie sind. Wenn man dieselbe Aufgabe einer Gruppe von vier Menschen gibt, die darüber sprechen können, steigt die Erfolgsrate von 10 auf 80 Prozent. Unsere Evolution hat uns dahin geführt, dass wir mittels geteilter Erkenntnisfindung mit dem, was wirklich der Fall ist, in die rechte Beziehung treten – d. h. durch den Dialog.

Sinn im Leben

e: Das Wort religio bedeutet wieder verbinden, und Verbindung ist ja nichts anderes als Beziehung, und der Dialog ist eine Möglichkeit dazu, in Beziehung zu sein.

JV: Ja, religio als Verbundenheit rückt wieder in den Vordergrund in der derzeit stattfindenden Neubewertung des Heiligen als Sinntiefe. Tillich war hier einer der Vorläufer. Sein Buch »Der Mut zum Sein« ist tatsächlich der Versuch, Menschen dazu zu bringen, den Glauben und das Heilige mehr in der Bedeutung von Sinn zu verstehen als im Zusammenhang von Abgeschlossenheit und Vollständigkeit. Der Sinn, von dem wir hier sprechen, ist jedoch nicht der »Sinn des Lebens«, denn das wäre wieder eine abgeschlossene, vollständige, vollkommene Sache. Wir sprechen vom »Sinn im Leben«. Das ist religio, das heißt, in rechter Beziehung zu stehen. Es heißt, innerlich zu leben, eine tiefe, fundamentale Erfahrung der Verbindung mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt zu machen. Das gibt Sinn im Leben.

¬ OFFENHEIT STELLT UNS EINEN WEG ZUR VERFÜGUNG, IN DER RECHTEN BEZIEHUNG ZUM HEILIGEN ZU STEHEN. ¬

Sinn ist also von Anfang an auf Beziehung angelegt. Und er ist von Anfang an auf Dialog ausgelegt, denn Beziehungen sind ständig gefährdet. Der Prozess der Selbst­organisation, der sie ermöglicht, macht sie anfällig für Selbsttäuschung, für Schwachsinn, für Trennung. Deshalb kannst du mir helfen, mich selbst zu transzendieren, und ich kann dir helfen, dich zu transzendieren, sodass wir beide, du und ich, besser einen Sinn finden können, der sich im Dia­log einstellt.

Wenn wir Sinn verstehen als dynamische Verbindung, die ständig der Korrektur bedarf, haben wir eine dialogische Offenheit in den Prozess der Verbundenheit aufgenommen, die für den Sinn im Leben entscheidend ist. Wenn du sie in diesen dialogischen Prozess einbringst, erhältst du Sinn nicht als statische Verbindung. In diesem Prozess ermögliche ich es dir, dich zu öffnen, und du ermöglichst mir, mich zu öffnen. Es ist also ein wechselseitiges Sich-Öffnen, das heißt: Liebe, die uns die Unerschöpflichkeit des Sinns erschließt, der uns verfügbar ist. Das ist mein Entwurf für ein neues Modell des Heiligen, eng verknüpft mit Offenheit und Dialog.

Wohnen in der Tiefe

e: Du benutzt ein anderes Wort ebenfalls recht häufig: Beheimatung. Diese wechselseitige Öffnung ist eine Form von Beheimatung. Das heißt nicht, in etwas Abgeschlossenes zurückzukehren, sondern ein gegenseitiges Sich-Öffnen. So gewähren wir uns gegenseitig Beheimatung in der Welt – eine Öffnung der Heiligkeit in einem Verständnis von religio, das grundlegend von Offenheit geprägt ist. Es gibt keine dogmatische Definition von Nirwana oder von Gott. Aber es ist etwas, wo das Heilige sich öffnet, die Beheimatung sich öffnet, ein Verstehen sich öffnet, wo sichtbar wird, dass etwas, was religio immer schon getan hat, auf neue Weise möglich wird.

JV: Genau. Als Kognitionswissenschaftler erkläre ich diese Verbundenheit aus einem in unserer kognitiven Kraft angelegten Prozess, dem Prozess des Erkennens des Relevanten (relevance realization). Im Englischen gibt es den Ausdruck »homing in on«, das heißt, immer wieder die rechte Beziehung zu finden und sich auf die rechte Beziehung zuzubewegen. Wir kommen zwar nicht in die »Heimat« im Sinn eines permanenten Aufenthaltsortes, wir kommen aber immer wieder nach Hause – zueinander und in die Realität – auf eine Weise, die meines Erachtens durch das Wort »wohnen« ganz gut erfasst wird. Wir beginnen beieinander zu wohnen, wie Heidegger es formuliert hat. Es geht also nicht um einen bestimmten Ort, an dem man zur Ruhe kommt. Dieses »Wohnen« heißt, in die rechte Beziehung mit der Tiefe zu kommen und immer wieder darauf abzuzielen.

Die christliche neuplatonische Tradition kennt den Gedanken der Epektasis. Das war eine Alternative zur allgemein gebräuchlichen Vorstellung des Himmlischen als eines wunderbaren Ortes, an den man kommt und wo man dann auf ewig Urlaub machen kann. In der Vorstellung der Epektasis ist Gott das Feld, durch welches man sich selbst unendlich transzendiert, man kommt also gar nicht zur ewigen Ruhe an einem festen Aufenthaltsort. Bei der Epektasis bewegen wir uns ständig auf Gott zu, aber kommen nie an. Das wäre tatsächlich das höchste Gut für uns Menschen, denn darin ist die Tatsache aufgehoben, ja sie wird zum Blühen gebracht, dass wir endliche Transzendenz sind.

Unser absoluter Kulminationspunkt ist etwas, in dem sich Endlichkeit und Transzendenz auf ewig gegenseitig durchdringen. Gott wird nun zum Feld der beständigen Öffnung. Zu Hause zu sein bedeutet nicht, sich mit einem Ruhezustand zu identifizieren oder zum Abschluss zu kommen. Auch nicht im Sinn eines Fortschritts, der so aussieht, dass ich meine Reise vollende und an meinem wunderbaren Ziel ankomme. Eher in dem Sinn, wie du und die Person, die du liebst, oder du und deine Freundin einander Heimat bieten, weil ihr beständig diese Epektasis zur Verfügung stellt, diese wechselseitige Öffnung füreinander.

Der Blick auf die Essenz

e: Die Schönheit deines Ausdrucks »Religion ohne Religion« zeigt sich auch darin, dass er Koan-Qualität hat. Was ist dieses »ohne Religion«, auf das du verweist?

JV: Ja, ich möchte, dass es wie ein Koan wirkt oder wie eines der Gleichnisse von Jesus. Sie sehen aus wie Geschichten. Aber wenn du dich darauf einlässt und wirklich versuchst, sie zu leben, fegen sie dich raus aus der Geschichte. Der Koan ist die Frage. Und wenn du dich darauf einlässt und wirklich versuchst, die Frage zutiefst zu leben, fegt es dich aus der Frage heraus. Und zwar nicht irgendwie vor die Geschichte oder vor die Frage, sondern in einen Raum jenseits der Geschichte oder der Frage.

Unser Begriff von Religion ist eng verknüpft mit Begriffen des Heiligen als des Vollkommenen, von Anbetung als »Dienst«. Darin spiegelt sich eine fundamentale Ontologie von zwei Welten, die irdische und die himmlische Welt. So sieht die landläufige gesellschaftliche Vorstellungswelt in Bezug auf Religion aus. Ich glaube aber nicht, dass damit die Essenz der Religion beschrieben ist. Wir wissen, dass die Religionen Veränderungen durchlaufen haben. Vergleicht man die bronzezeitlichen Religionen mit denen der Achsenzeit, sieht man große Unterschiede. Vergleicht man die Abrahamitischen Traditionen mit Vedanta, Daoismus und Buddhismus, sieht man ebenfalls große Unterschiede. All diese Ausdrucksformen sind nicht die Essenz der Religion.

¬ »WOHNEN« HEISST, IN DIE RECHTE BEZIEHUNG MIT DER TIEFE ZU KOMMEN UND IMMER WIEDER DARAUF ABZUZIELEN.¬


Fokussieren wir uns auf die Essenz, eröffnet sich die Möglichkeit, das Heilige wiederzuentdecken als die unerschöpfliche Quelle der Erkenntnisfähigkeit, die uns an uns selbst und aneinander in der Welt auf anhaltende, evolvierende, lebendige Weise zurückbindet. Wir können Anbetung ersetzen durch ehrfürchtige Liebe zum Grund des Seins, in der Welt, in anderen Menschen und in uns selbst. »Dienst« können wir eintauschen gegen Teilhabe am Heiligen. Das wäre eine Religion, die keine Religion ist.

e: Das berührt eine Dimension des Wortes Religion. Ich kann für mich allein spirituell sein, aber für mich allein religiös sein, das geht nicht. Und da bekommt der hyperindividualistische Fokus unserer postmodernen Kultur eine kulturelle Dimension. Du sprichst auch davon, dass – wie du es nennst – man die Kultur stehlen bzw. von innen verändern kann (stealing the culture). Damit begibst du dich direkt auf das Feld der Kultur. Du sprichst nicht über meine Beziehung zum Heiligen, du sprichst davon, dass unsere kulturelle Interaktion die Kultur von innen verändert. Was genau tun wir, wenn wir die Kultur »stehlen«?

JV: Dieser Gedanke hängt zusammen mit der Frage, wie wir auf die Sinnkrise reagieren. Vor allem, wenn wir begreifen, dass wir an einem Wendepunkt stehen, einem Kairos für unsere Kultur. Er wird inspiriert von den Ereignissen bei der Geburt des Christentums im Römischen Reich. Auf der einen Seite haben wir eine bestimmte Gestalt von Macht, von Hierarchie und von Modellen der Heiligkeit, auf der anderen Seite ein politisches, sozioökonomisches System. Die christliche Revolution versuchte nicht, den Staat zu stürzen und eine sozioökonomische Reform ins Werk zu setzen. Das Christentum bietet ein neues Verständnis dessen, was heilig ist. Die Römer haben eine Zivilreligion, aber diese gibt ihnen keine Agape. Die eine klare, unzweideutige Identitätsbestimmung im Neuen Testament lautet: Gott ist Agape. Wir haben vergessen, dass dies ein radikaler Ansatz ist, eine reinventio des Heiligen.

Dann schufen die Christen Gemeinschaften in ihren Häusern. Kirchen, Hauskirchen und Gemeinden waren ununterscheidbar. In ihnen lebten die Menschen dieses neue Verständnis des Heiligen in Beziehung zu sich selbst, zueinander und zur Welt. Für diese entstehenden Gemeinden war der Dialog zentral, im Sinn des Wortes: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«

Das Christentum schuf eine Alternativkultur, eine reinventio des Heiligen, ­eine reinventio des Menschseins. Durch die Schönheit des neuen Ökosystems von Praktiken durchdrang sie alles, bis diese Häuser, Kirchen und Orte, an denen die Agape geübt wurde, sich zu einer Subkultur entwickelt hatten, die auch der Verfolgung standhalten konnte. Sie schufen eine Alternativkultur, die über kurz oder lang die ganze europäische Zivilisation in ihr Herz aufnahm. Das verstehe ich unter »die Kultur stehlen«.

Ich glaube nicht, dass wir die Sinnkrise auf der politischen Ebene auflösen können. Sie hat politische Implikationen, aber die Politik oder eine sozioökonomische Reform ist nicht der geeignete Wirkungsraum, um auf die Sinnkrise zu antworten. Natürlich, wir müssen den Menschen helfen, die in Armut leben, wir müssen dafür sorgen, dass sie eine Gesundheitsversorgung erhalten. Aber solche Veränderungen dringen nicht zu dem vor, worüber wir reden: Heiligkeit, Agape, ehrfurchtsvolle Liebe, die Teilhabe am Heiligen, Liebe zum Grund des Seins. Das ist ein kulturelles Projekt – kulturell, Kultur, Kult und Kultus hängen zusammen. Das meine ich mit »die Kultur stehlen«.

Ökosysteme von Praktiken

e: Kannst du in der Sinnkrise, in der wir uns nach dem Zusammenbruch der Moderne und der Postmoderne jetzt vorfinden, etwas erkennen, in dem sich diese Veränderung der Kultur von innen zeigt?

JV: Ja, sehr sogar. Die Sinnkrise beschleunigte und verschärfte sich und wurde für die Menschen erkennbar während der COVID-­Pandemie. Wir sehen unsere Kultur am Scheideweg. Wir sehen Menschen, die nach der reinventio suchen, und wir sehen Menschen, die dem Fundamentalismus oder der Utopie folgen, weil die Sinnkrise jetzt nicht mehr zu umgehen ist.

Deswegen haben wir diese große Resignation, beispielsweise Leute, die nicht mehr in ihre sinnlosen Jobs zurückgehen. Die Sinnkrise wird sich weiter aufheizen. Die Reaktionen darauf werden immer prominenter und präsenter. Positiv sehe ich, dass mehr und mehr Gemeinschaften entstehen, die ganze Ökosysteme von Praktiken entwickeln, die sich miteinander vernetzen. Ich beobachte, dass sich diese Vernetzungen beschleunigen, und das betrifft auch mich persönlich. Das Interesse an meiner Arbeit, sowohl im populärwissenschaftlichen als auch im akademischen Bereich, wächst rapide an. Ich sehe das aber auch bei anderen Menschen, die eine ähnliche Arbeit tun. Das findet man wohl in jedem Kairos: Die Not wird dringlicher, aber die Reaktion wird präsenter. Genau das geschieht derzeit nach meiner Beobachtung.

e: Wenn du von einem Ökosystem von Praktiken sprichst, benennst du eine Vielheit, aber auch etwas Verbindendes. Was ist dieses Ver­bindende?

JV: Ich spreche über mannigfaltige Wege, wie die Praktiken miteinander verbunden sind. Die Kognitionswissenschaften können hier eine große Hilfe sein. Praktiken haben relative Stärken und Schwächen. Sie müssen miteinander in komplementäre Beziehung gebracht werden. Meditative und kontemplative Praktiken, Praktiken der Achtsamkeit und der aktiven Aufgeschlossenheit, Praktiken, mit denen man Rationalität kultivieren kann, sie stehen alle miteinander in komplementärer Beziehung. Individuelle und kollektive Praktiken haben eine komplementäre Beziehung. Das ist das Ökosystem.

¬ ICH GLAUBE NICHT, DASS WIR DIE SINNKRISE AUF DER POLITISCHEN EBENE AUFLÖSEN KÖNNEN. ¬

Wir suchen nach ausgewogenen, komplementären Beziehungen, sodass sich die Praktiken selbst gegenseitig korrigieren können. Praktiken haben auch eine päda­gogische Beziehung. Sie können in eine Ordnung gebracht werden, wobei die früheren Praktiken wie ein Baugerüst oder eine Leiter wirken und uns auf weitere Praktiken vorbereiten. Wir haben also eine ganze Reihe von Praktiken, die uns helfen, einen Nexus, einen verbindenden Punkt zu erzielen.

Schönheit im Dialog

Für mich gibt es dabei eine Metapraxis, nämlich den Dialogos. Die Praxis ist dialektisch und sie hilft, das Emergieren des Dialogos zu ermöglichen. Dialogos kann man nicht machen. Aber wir können verschiedene Praktiken üben, welche die Selbst-Emergenz, die Selbstorganisation, die Selbstentwicklung des Logos ermöglichen. Sie sind der Ort, wo wir uns an die kollektive Weisheit der geteilten Erkenntnis anschließen können, und sie helfen uns, die passenden Praktiken für uns selbst oder für unsere Kleingruppe auszuwählen, zu schaffen und zu koordinieren.

Die dialektischen Praktiken und die Achtsamkeitspraktiken, Praktiken der Bewegung, reflexive Praktiken, kreative Praktiken stehen in dieser Art Beziehung. Sie brauchen einander. Dialektik für sich allein zu üben mit Menschen, die nicht in der Transformation engagiert sind, ist eine schwere Herausforderung. Ein Ökosystem von Praktiken ohne die Supervision der dialektischen Praktiken zu pflegen, die es ermöglichen, das Ökosystem der Praktiken zu überprüfen, ist ebenfalls sehr schwierig.

e: Wie können wir diese Ökosysteme von Praktiken weiterentwickeln?

JV: Ein wichtiger Aspekt ist die Frage, wie wir Kunst oder künstlerischen Ausdruck integrieren. Wie gewinnen wir Menschen mit künstlerischer Ausrichtung, sodass sie das Künstlerische einbringen in all das, worüber wir beide hier sprechen? Wenn wir nämlich das nicht tun, können wir die Hermeneutik der Schönheit nicht erschließen. Die Menschen werden von der Kultur besetzt sein, die uns in eine Hermeneutik des Misstrauens drängt.

Das Äußerliche ist immer sinnentstellend, ablenkend, störend. Aber immer, wenn ich auf etwas deute und sage: Das ist Illusion oder Täuschung, deute ich gleichzeitig auf etwas anderes und sage: Das ist real. Die ursprüngliche, grundlegende Wirklichkeit erschließt sich, wenn der Schein die Realität enthüllt. Das ist Schönheit: Der Schein enthüllt die Realität und lädt uns ein, uns in sie zu verlieben. Ich für meinen Teil kann diesem Prozess nur so Schönheit verleihen, dass ich darüber spreche, so gut ich kann. Aber wir müssen herausfinden, wie Poesie, Musik, Malerei und Tanz integriert werden können in das, was wir hier gerade tun, damit wir die Kultur von innen verändern können.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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