Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 6, 2020
Claude Alvares lebt in Goa, Indien, wo er und seine Frau Norma als Lokalhelden gelten, weil sie sich für den Schutz der dortigen Küsten einsetzen, die aufgrund ihrer Schönheit so viele Reisende aus dem Westen anziehen. Wir sprachen mit ihm, um einen Blick von außen auf die existenziellen Herausforderungen des Westens zu erhalten. Wie sieht jemand, der die Auswirkungen des Kolonialismus auf seine eigene Kultur erlebt hat, die Sinnkrise des Westens?
evolve: Ihre Erfahrungen als Inder, der in postkolonialen Zeiten aufgewachsen ist, könnten für uns ein wichtiger Blickwinkel auf das sein, was wir als Sinnkrise bezeichnen. Wie haben die Nachwirkungen der Kolonialgeschichte Ihr Leben geprägt?
Claude Alvares: Eine der Auswirkungen machte sich im modernen Schulsystem in Indien bemerkbar, das die Menschen völlig von ihrer Kultur entfremdet hat. So bin ich seit meiner frühen Kindheit in einem Denk- und Lernsystem groß geworden, zu dem ich nie eine emotionale Beziehung aufbauen konnte.
Die Briten und die Portugiesen erlaubten es den lokalen Bevölkerungsgruppen nicht, ihre eigene Religion zu praktizieren. Diese religiöse Verfolgung nahm solche Ausmaße an, dass die Betroffenen dazu übergingen, ihre Tempel zu verstecken. In Goa kann ich Ihnen Gebäude zeigen, die von außen wie normale Häuser aussehen, aber im Innern tatsächlich Tempel sind. Die Inder sind über Jahrzehnte hinweg unterdrückt worden und man hat ihnen nicht nur durch das Bildungssystem zu verstehen gegeben, dass alles, was indischen Ursprungs ist, wertlos ist – ihre Philosophie, ihre Poesie, ihre Architektur, ihre Sprachen. Noch heute basiert das gesamte moderne Bildungssystem Indiens, auch die Vorgabe, die englische Sprache lehren und sprechen zu müssen, auf diesem Fundament. So erleben wir seit fast 200 Jahren ganze Generationen von Schülerinnen und Schülern, die nicht mit den heiligen Texten, den philosophischen Schriften oder den Traditionen des eigenen Landes vertraut sind. Es hat viele Jahre politischer Unabhängigkeit bedurft, bis die Inder den Wert ihrer eigenen Traditionen und das, woran sie einst glaubten, wirklich wieder fühlen konnten.
e: Eine der Auswirkungen des Kolonialismus war also die Abkopplung von der Natur und die Herauslösung aus der Tiefe der Tradition.
CA: Zuerst wurden die lokalen Sprachen aus unserem Alltag verdrängt. Dabei ist Sprache doch das Wichtigste, denn darin wird die Bedeutung des Universums, unsere Kosmologie, das Verständnis von der Welt vermittelt. Jetzt, wo unsere Sprachen wiederbelebt werden, kehrt auf einmal alles zurück. Die lokalen kulturellen Traditionen entfalten sich jetzt sehr stark. Früher waren englischsprachige Zeitungen wie die »Times of India« sehr dominant. Aber in den letzten Jahrzehnten beherrschen wieder Zeitungen in den jeweiligen Landessprachen das Bild. Und auf lokaler Ebene ist ein pulsierendes Kulturleben zu beobachten. Der kulturelle Boden ist tatsächlich sehr stark geworden – in vielerlei Hinsicht sogar unerschütterlich. Und dennoch bleiben Schäden, die noch nicht behoben werden konnten. Viele Eltern wünschen sich nach wie vor, dass ihre Kinder nach Harvard gehen. Und dort werden sie dann ihrer Kultur endgültig entfremdet.
In Indien verfügen die Menschen nur über wenig. Sie haben oft keine Waschmaschinen. Stattdessen trocknen sie ihre Wäsche auf der Wäscheleine oder sie legen sie zum Trocknen auf die Straße. Wasser zum Trinken entnehmen sie an einer Wasserstelle oder an einem Fluss. Aber die Menschen haben sich ein Gefühl dafür erhalten, dass wir organische Lebewesen sind. Wir sind nicht dazu bestimmt, 24 Stunden lang zu funktionieren wie eine Maschine.
Das kapitalistische Produktionssystem bietet keinen Raum für Individualität, für die Verbundenheit mit unseren Ehepartnern oder der Familie, für Emotionen, für kulturelle Impulse oder Träume. Stattdessen wird der Begriff der Produktivität zur obersten Maxime. Die Bezahlung hängt von der Fähigkeit ab, produzieren zu können. Das ist etwas, das wir aus indischer Sicht nicht verstehen. Wie kann man alle Menschen auf der Grundlage eines Wertes beurteilen, der von einer Maschine abgeleitet wurde?
e: Wie haben sich diese Entwicklungen auf Ihr Leben ausgewirkt?
CA: Ich hatte die Gelegenheit, nicht nur in der Kultur meiner eigenen Muttersprache aufzuwachsen, sondern zusätzlich fast drei Jahre lang in Europa zu verbringen. Dort konnte ich das Leben der Menschen hautnah miterleben. Am Ende sagte ich: »Ich danke euch sehr und jetzt möchte ich dorthin zurückgehen, wo ich hingehöre.« Nachdem ich beide Perspektiven kennengelernt hatte, reifte in mir die Entscheidung, mich völlig aus meiner akademischen Tradition herauszulösen. Ich wollte lieber in dem Dorf leben, in dem ich meine Nachbarn kannte – Menschen, die nie eine Universität besucht haben. Einige Jahre später konnte ich sagen, dass ich nun endlich auf dem Boden des Planeten Erde angekommen bin. Davor war ich ein entkörperter Geist, der richtungslos und ohne Lebenssinn herumflog.
DAS KAPITALISTISCHE PRODUKTIONSSYSTEM BIETET KEINEN RAUM FÜR INDIVIDUALITÄT.
Beide Gesellschaften, die westliche und die indische Lebensweise, haben ihren Wert. Ich behaupte nicht, dass die Menschen im Westen keine normalen Menschen sind. Sie haben allerdings ein System geschaffen, das es ihnen nicht mehr erlaubt, wie normale Menschen zu leben — normale Menschen, die gerne miteinander reden, ohne solche Gespräche erst auf komplizierten Wegen vermitteln zu müssen. In unserem oft als »rückständig« beschriebenen Land existiert noch viel von dieser normalen Menschlichkeit im Alltag.
Ich weiß nicht, ob das eine mögliche Lösung für die im Westen lebenden Menschen sein könnte. Ihr seid so sehr gefangen in eurem Käfig. Ich musste mich tatsächlich erst einmal körperlich aus diesen Strukturen befreien. Meine Empfehlung an junge Leute lautet deshalb, sich nicht in der Welt der Großkonzerne oder der Regierungen zu verlieren. Wenn du da hineingerätst, ist für dich alles vorbei. Die Chancen, dass du dieser Situation mit einer heilen Seele entkommen wirst, sind gering. Wir sind alle Menschen, aber wenn es darum geht, wie man die schöpferischen Energien als Mensch entfalten kann, ist unsere Gesellschaft, wie ich finde, doch ein bisschen offener als eure.
Wenn wir uns als Menschen mit der restlichen Welt auf gleichberechtigter Ebene verbinden – so wie Sie und ich das in diesem Gespräch tun – schaffen wir die Voraussetzung für viele Problemlösungen. Noch gibt es so etwas wie Gemeinschaftlichkeit. Deshalb sollten wir jetzt Menschen in aller Welt zu diesem Dialog darüber einladen, wie wir das von uns selbst geschaffene System verändern können. Denn es weitet sich nach wie vor aus und sorgt überall für Unterdrückung. Wir sind aber darauf angewiesen, einen neuen Weg für unser Zusammenleben zu finden, damit die nächste Generation überleben kann.