Transformative Geschichten
Die Filmserie »Shifting Landscapes«
April 16, 2020
Berichte aus einer Zeit, in der weite Teile der Erde dem westlich-europäisch geprägten Blick noch unzugänglich waren, zeigen, was für eine Kraft und Magie diese noch unerschlossenen Welten für die menschliche Seele beinhalteten. Vor dem unruhigen Forscherblick lagen unbekannte, unerschlossene Welten, mit einer Flora und Fauna, die man bis dahin noch nicht gesehen hatte. Mit Naturphänomenen, mit denen man es im heimischen Lebensbereich nie zu tun gehabt hatte. Eine phantastische Welt, auf die schon die Seelen der Kinder insgeheim vorbereitet wurden, wenn sie von den großen Reisen der Abenteurer hörten, auf der Fahrt ins Unbekannte einer noch im mythischen Nebel liegenden Welt.
Nichts hat so sehr die menschliche Seele berührt, fasziniert und angezogen wie dieses rätselhaft Unbekannte, Geheimnisvolle, das vor der Zeit der großen Entzauberung lag. Es ist dieses Doppelbild aus Schönheit, Wärme, Sympathie auf der einen und Bedrohung, Kälte und Finsternis auf der anderen Seite, welches uns in diesem Zustand begegnet. Und wir erleben, wie stark gerade die Kinder noch diese unmittelbare Magie erleben und mit ihr verbunden sind.
Je abstrakter es wird, das heißt, je weiter wir die Gefühle, die Empathie und die Intuition von diesen Phänomenen, die uns mit der Welt verbinden, abziehen, desto isolierter werden wir aber auch. Ein Kind lebt ganz in diesem unmittelbaren Bezug zur Welt, in dem alles zu ihm spricht, in dem es sich einrichtet, in dem es seine Bezüge zu ihr phantasievoll organisieren kann. Abstraktion dagegen bedeutet Distanz und Entfernung und sie ist der erste Schritt, Dingen ohne innere Beteiligung, das heißt, ohne Anteilnahme, aber zugleich auch ohne innere Verstrickung zu begegnen.
So gesehen birgt die Abstraktion ebenso Möglichkeiten wie Gefahren. Mit ihrer Hilfe gelingt es, sich von dem inneren Band, durch das wir durch unsere Phantasie, unser Gefühl und unsere Affekte mit den Weltinhalten verbunden sind, zu lösen. Das schafft Freiheit, Unabhängigkeit und Distanz und es wird möglich, Dinge emotionslos zu betrachten.
Dadurch gewann die Menschheit im Verlauf ihrer Bewusstseinsgeschichte eine Qualität hinzu, die sie in früher Zeit nicht besaß. Sie war gleichsam innerlich zu verstrickt in die Daseinsphänomene. Heute aber können wir – im Idealfall – beides: Wir können ein- und auftauchen. Und wir können auch diesen Vorgang reflektieren: Wir haben heute einen Grad von Bewusstheit erreicht, an dem wir nicht nur eintauchen oder abstrahieren können, sondern auch wahrnehmen und reflektieren, was wir da tun und wie wir es tun.
WIR MÜSSEN GENAUER HINSCHAUEN, BESSER ZUHÖREN, BEHUTSAMER HANDELN.
Die Romantik war wohl die erste Bewegung in der Bewusstseinsgeschichte, die das Unbehagen, das mit dem Überschreiten der Schwelle zur Abstraktion ursprünglich verbunden war, formulierte. Es kommt nicht von ungefähr, dass die ersten Romantiker in einer Zeit erscheinen, in der die Naturwissenschaft im Verein mit der Technik ihren Siegeszug beginnt. Sie war das große Klagelied um den Verlust der Empathie und ein Versuch, sich dem seelischen Kältestrom entgegenzustellen, der mit dem Einzug der Maschinen, Skalpelle und Mikroskope auf der einen Seite und dem Einzug der Ideologien auf der anderen verbunden war.
Wir befinden uns heute vermutlich in der heißesten Phase dieser Linie. Nichts mehr ist so, wie es einmal war. Jeder Quadratmeter Erde, jeder Kubikmeter Wasser und jeder Kubikmeter Luft wurde vermutlich in der einen oder anderen Weise von Menschenhänden manipuliert und transformiert. Und wir stehen vor einem Scherbenhaufen, den uns der eindimensionale, kapitalisierte Blick auf den Erdball hinterließ. Zugleich aber haben wir in diesem schmerzhaften Prozess der Zivilisation eine wichtige Erfahrung gemacht: Wir müssen genauer hinschauen, besser zuhören, behutsamer handeln.
Hier entsteht die Frage nach einer neuen Synthese, die beides, Romantik und Aufklärung, Identifikation und Empathie auf der einen Seite und Distanz und Reflexion auf der anderen zulässt und verbindet. Denn beides ist heute wichtiger denn je. In Verbindung treten zu können, ohne sich gleichzeitig in dieser Verbindung zu verlieren, ist das Stichwort der Zeit. Beides, das Hinein- und das Heraustreten können wir heute von mündigen und urteilsfähigen Menschen einer sich in ihren Konturen herausbildenden Weltrepublik verlangen. Fridays for Future beispielsweise könnte neben vielem anderen ein erster Fingerzeig in diese Richtung sein, solange die Bewegung nicht in die alten Ideologien, Konfliktlinien und Grabenkämpfe verfällt.