Empathische Demokratie

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Published On:

April 17, 2023

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Ausgabe 38/2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Von Kommunikationsregeln zu Dialog-Räumen

Politische Diskussionen geraten oft in Polarisierung und Konflikt. Wie ist es möglich, sichere Räume zu schaffen, in denen Dialog möglich wird?

Wir brauchen Kommunikationsregeln. Wir wünschen uns sozusagen die zehn Gebote für unsere interne Kommunikation.« Das war die Anfrage einer 15-köpfigen Fraktion aus einem kommunalen Parlament. Das Ganze sollte in drei Stunden Workshop erarbeitet werden. Die Vorstellung des Fraktionsvorstands war, dass damit die seit einem Jahr anhaltenden Schwierigkeiten innerhalb der Fraktion gelöst werden würden.

Einerseits toll, dass sie sich mit ihrem Innenleben beschäftigen wollten. Andererseits beunruhigend, dass sie glaubten, dass sich die vielen Konflikte, der immer wieder ruppige Tonfall und die abwertenden Kommentare innerhalb der Fraktion so schnell auflösen lassen würden. Denn: Das tägliche Miteinander verbessert sich leider nicht dadurch, dass an der Oberfläche Regeln aufgestellt werden. Wer die Kommunikationskultur verändern möchte, muss tiefer gehen.

In jeder Gruppe gibt es geteilte Werte und Normen, es gibt Polaritäten und einen Grund, warum die Gruppe überhaupt besteht. Wie in jedem menschlichen System existiert auch in Gruppen Bewusstes und Unbewusstes. Je größer das Unbewusste oder je länger Dynamiken auf diesen tieferen Ebenen unausgesprochen, sprich unbewusst bleiben, desto größer wird der Veränderungsdruck. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er sich ungesund Bahn bricht, etwa in Form von Konflikten, rauem Tonfall, verbaler Gewalt oder einschneidenden Ereignissen, etwa, dass ein langjähriges Mitglied überraschend die Gruppe verlässt.

Veränderung geschieht dann, wenn das, was ist, benannt wird. Auch das, was unterhalb der Oberfläche ist. Carl Rogers’ berühmtes Zitat über das »merkwürdige Paradox«, dass sich ein Mensch dann verändern kann, wenn er sich so akzeptiert, wie er ist, gilt meiner Einschätzung nach auch für Gruppen und Organisationen.

Damit einer gesamten Gruppe bewusst wird, was ist, muss es bei allen direkt oder indirekt ankommen. Erst dann kann sich der Umgang der Menschen miteinander oder, in anderen Worten, die Kultur zum Positiven verändern. Diese veränderte Kultur kann dann zum Beispiel in Kommunikationsregeln beschrieben werden. Das unterstützt die weitere Bewusstwerdung und Integration. Eine einzelne Intervention reicht jedoch fast nie aus, um die Kultur nachhaltig zu verändern. Wie auch beim Individuum braucht es dafür einen kontinuierlichen Prozess.

»Veränderung geschieht dann, wenn das, was ist, benannt wird.«

Um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen: Dort versteckte sich unter dem Wunsch nach Kommunikationsregeln unter anderem enorm viel aufgestauter Frust. Nachdem das im Workshop immer klarer wurde, weil mehrere Fraktionsmitglieder ihren Unmut über bestimmte interne Vorgänge äußerten, widmeten wir uns etwa 90 Minuten lang dem kathartischen »Frustrauslassen«. Ich achtete dabei lediglich darauf, dass die Äußerungen nicht persönlich abwertend wurden.

Nachdem alle ihren Frust verbalisiert hatten, quasi frust-leer waren, kam zum Vorschein, was die Gruppe wirklich verbindet, was ihr Sinn ist. Sie konnte wieder sehen und spüren, was ihre geteilten Werte und Ziele sind. Dass alle Mitglieder Politik machen wollen für die Menschen in ihrer Gemeinschaft und dass sie schon vieles erreicht haben, worauf sie stolz sein können. Ein wichtiger erster Schritt. In meiner Erfahrung kommt es eher selten vor, dass sich Gruppen Zeit dafür nehmen oder die Erlaubnis dafür geben, sich explizit den eigenen inneren Vorgängen zu widmen. Leider war dieser Workshop nur ein einmaliges Ereignis. Ohne externe Moderation stellten sich schnell wieder alte Muster ein. Der eine schöne, verbindende Moment reichte nicht aus, um eine dauerhafte Veränderung herbeizuführen. Was also bleibt davon? Es wurde ein sicherer Raum kreiert, in dem sich die Menschen trauten, offen zu sprechen. Gesagtes wurde gehört und hatte eine Wirkung. Anders gesagt: Es wurde ein Dialog-Raum geschaffen, in dem Menschen Resonanzerfahrungen machten.

In der Politik gibt es das selten. Hier wird üblicherweise vor allem diskutiert. Der Physiker und Philosoph David Bohm hat das in seinem Buch »Der Dialog: Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen« sehr schön beschrieben. Diskutieren kommt vom lateinischen discutere, was »zerschlagen« bedeutet. Es geht bei der Diskussion darum, schlagende Argumente zu haben, sich durchzusetzen und zu gewinnen. Anders beim Dialog, Altgriechisch dia »durch« und logos »das Wort, der Wortsinn«. Der Dialog ist dafür da, dass Menschen gemeinschaftlich und kreativ Neues im Gespräch entstehen lassen. Er lädt die Beteiligten ein, das auszusprechen, was sie im Moment wirklich bewegt. Das ist es, wovon wir in allen Bereichen der Gesellschaft mehr brauchen. Wir brauchen mehr Dialog innerhalb der Parteien und zwischen den Parteien. Wir brauchen mehr Dialog zwischen Bürgern und Politikerinnen, zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Und mehr Dialog würde auch vielen im Privaten guttun.

Doch wie kann das gelingen? Ich glaube: allein durch Übung, dadurch, dass Menschen die Erfahrung machen, sich im Dialog zu befinden. Wie heilsam das sein kann, ist spürbar an der Atmosphäre, die im Raum entsteht, wenn Menschen in den Dialog kommen. Und es ist messbar an den Rüc­kmeldungen, die Menschen machen, nachdem sie diese Erfahrung gemacht haben. Anfang des Jahres besuchten wir von Mehr Demokratie e. V. ­eine Gemeinde in Norddeutschland und motivierten dort eine Dorfgemeinschaft, durch das Format »Sprech­en & Zuhören« in einen Dialog miteinander zu treten. Die Erfahrung des Sprechens, Zuhörens und Gehörtwerdens hat bei den Teilnehmenden in weniger als zwei Stunden Erstaunliches bewirkt: »Ich habe in der letzten Stunde mehr über das Dorfleben ­gelernt als im gesamten letzten Jahr.« Oder: »Nach dieser Erfahrung muss ich die Entscheidung überdenken, wegzuziehen.«

Es gibt viele Ansätze, die psychologisch sichere Räume für kreative Dialoge schaffen. Bei Mehr Demokratie e. V. entwickeln und erproben wir solche Räume, zum Beispiel mit Sys­tem­aufstellungen zu Demokr­atie­themen, bei Prozessen zu kollektiven Traumata, in »Offenen Foren der Tiefen Demokratie« (prozessorientierte Psychologie), und auch Bürgerräte enthalten solche Räume. Es geht uns dabei um eine Demokratisierung des Miteinanders. Darum, dass mehr Menschen Gehör finden, sich einbringen und ein Bewusstsein für die gesamte Gruppe oder das größere Ganze entwickeln.

Doch solche Workshops im Kleinen sind erst der Anfang. Wenn irgendwann Politiker regelmäßig in sicheren Räumen an sich arbeiten, parteiintern und parteiübergreifend in den Dialog gehen, und wenn Bürgerinnen mit Politikern kontinuierlich miteinander Resonanzerfahrungen machen, dann werden sich Chancen eröffnen, die sichere Räume in der Öffentlichkeit ermöglichen. Auch wenn nicht klar ist, wie der Weg dorthin aussieht, und auch, wenn er im Moment vielleicht noch fern erscheint, erstrebenswert ist er auf jeden Fall.

Author:
Dr. Josef Merk
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