Es ist eine Beziehungskrise

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

July 17, 2023

Mit:
Dr. Thomas Bruhn
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AUSGABE:
Ausgabe 39 / 2023
|
July 2023
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und wir können sie heilen

Für den Nachhaltigkeitsforscher Thomas Bruhn sind die Krisen unserer Zivilisation Ausdruck einer Beziehungskrise. Wir sprachen mit ihm über die Ursachen destruktiver Beziehungsmuster und erkunden mit ihm, wie durch systemische Resonanz tragfähigere Beziehungsfelder erwachsen können.


evolve: Welche neuen geistigen Haltungen brauchen wir für das Anthropozän?

Thomas Bruhn: Die Krise innerhalb der menschlichen Zivilisation und auch zwischen der Menschheit und nicht-menschlichem Leben ist eine Beziehungskrise. Sie spiegelt die Beziehungskrise, die in unserem Kulturkreis viele Einzelne erfahren, die sich immer stärker als getrennt erleben, als das eigentlich meinem Verständnis der Wirklichkeit entspricht. Wenn über Bewusstsein gesprochen wird, geschieht das oft aus einem eher individualistischen Verständnis. Daher betone ich eher den Beziehungsaspekt. Wir leben zugleich in einem Bewusstsein von uns selbst und dem Bewusstsein für die eigene Verflochtenheit in Beziehungen mit anderen Menschen, mit nicht-menschlichem Leben und letztlich mit der gesamten Erde.

Instrumentelle Beziehungsmuster

e: In deiner Arbeit bringst du Nachhaltigkeit mit Bewusstseinsarbeit in Beziehung. Brauchen wir also, um nachhaltig zu sein, ein Bewusstsein dafür, wie sehr wir verwoben sind?

TB: Ich stolpere ein bisschen über die Formulierung »um nachhaltig zu sein«, denn es hört sich so an, als ob Nachhaltigkeit das Ziel sei. Natürlich ist das ein Stück weit so, gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, eine Funktionalisierung von Bewusstsein oder innerer Entwicklung zu vermeiden. Anders als vor einigen Jahren würde ich daher heute nicht mehr sagen, dass innere Entwicklung nötig ist, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Inzwischen empfinde ich es eher so, dass die Nicht-Nachhaltigkeit unserer Lebensweise ein Spiegel bestimmter Beziehungsmuster ist, die auch in unserem Bewusstsein zu finden sind. Insofern ist meine innere Arbeit an Beziehungsmustern an die Art gekoppelt, wie sich gesellschaftliche Beziehungsmuster im Bereich Nachhaltigkeit verändern.

Um es an einem plakativen Beispiel zu verdeutlichen: Wir diskutieren im Nachhaltigkeitskontext über die Einhaltung oder Überschreitung planetarer Grenzen, in denen stabiles Leben auf der Erde möglich ist. Die Überschreitung der planetaren Grenzen aufgrund einer anthropozentrischen Wirtschaftsweise enthält ein Beziehungsmuster von Übergriffigkeit und Grenzüberschreitungen. Und da frage ich mich: Gibt es dieses Muster nicht auch auf anderen Ebenen unserer Beziehungen? Man denke nur an die MeToo-Debatte oder ähnliches. Oder Grenzüberschreitungen mir selber gegenüber, wo ich als Einzelner meine Kapazitäten nicht achte, sondern mich überfordere und ins Burn-out hineintreibe.

e: Wie können wir unsere Beziehungen wirksam verändern?

TB: Mein systemwissenschaftliches Verständnis legt mir nahe, dass die Heilung des Gesamtsystems dadurch entsteht, dass sich überall innerhalb des Systems andere Beziehungsmuster entwickeln. Und aus psychologisch-therapeutischer Sicht entsteht Heilung oder Transformation oft bereits dadurch, dass etwas »einfach erstmal sein darf«. Insofern betrachte ich eine Beziehungsqualität des Seins und Seinlassens als zentrale Ressource für gesellschaftliche Transformation.

»Systemische Transformation geschieht durch Wandel von Beziehungsmustern quer durch alle Ebenen von Systemen.«

Ein Hintergrund dafür ist auch meine Beobachtung einer Dissonanz zwischen manchen abstrakten Diskursen und dem, wie die beteiligten Menschen in ihrem Umfeld tatsächlich agieren. Es macht ja keinen Sinn zu glauben, dass ich auf einer abstrakten Ebene ein Problem löse und Regeln für mehr soziale Gerechtigkeit implementiere, während ich in meinem eigenen Umfeld antisozial und übergriffig agiere. Natürlich ist es wichtig, für die Beziehungsdynamiken in komplexen Systemen geeignete Rahmenbedingungen, Regeln und Governance-Strukturen zu schaffen. Das trägt aber aus meiner Sicht nicht, wenn es vom eigenen Wirkungskreis entkoppelt ist. Das Bewusstsein über die Ganzheit des Kontextes muss einhergehen mit der Selbstzentrierung im eigenen Beziehungsfeld.

Vertrauen in die Emergenz

e: In der Annahme, dass sich das Gesamtsystem in seiner Heilungsfähigkeit verändert, wenn wir in unseren realen Wirkungsfeldern nicht übergriffig sind, ist ein gewisses Vertrauen in das Gesamtsystem mitgedacht. Woher nimmst du dieses Vertrauen?

TB: Das ist auch für mich eine ständige Frage. Es gibt keinen kausalen Automatismus, in dem ich weiß: Wenn ich dies tue, dann wird sich auch das Gesamtsystem in diese Richtung entwickeln. Gleichzeitig ist für mich klar: Systemische Transformation geschieht durch Wandel von Beziehungsmustern quer durch alle Ebenen von Systemen. Wenn ich selber an meiner Beziehungsqualität arbeite, trete ich in Resonanz mit Menschen, die in ähnlicher Richtung unterwegs sind. So wie wir zwei miteinander in Resonanz treten, weil wir das Gefühl haben, in unserem Prozess gibt es eine Zusammengehörigkeit. Wir lernen voneinander, erkunden das Miteinander und befruchten uns gegenseitig im eigenen Transformationsprozess. Um dich herum bestehen Beziehungsfelder, du kennst Menschen in ganz anderen Kontexten. In dem Maße, wie ich Resonanzkörper für ein bestimmtes Beziehungsmuster werde, trete ich in Resonanzen quer durch alle Ebenen innerhalb des Systems.

Mein Vertrauen ist also einerseits system-theoretisch begründet. Es beruht auf den Selbstorganisationsprozessen entlang bestimmter Beziehungsmuster als Grundlage für Emergenz. Gleichzeitig kommt darin vielleicht auch meine christliche Prägung durch, ein gewisses Gottvertrauen, das ich durch verschiedene Fügungen mitbekommen habe. An vielen Stellen meines Lebens gibt es Bereiche, die sich meiner Kontrolle entziehen und in die ich vertraue.

Das Gespräch führte Thomas Steininger für die Ausgabe 33/2022 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org

Author:
Dr. Thomas Steininger
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