Sie können sich hier mit der E-Mail-Adresse anmelden, die Sie bei der Registrierung im Communiverse verwendet haben. Wenn Sie sich noch nicht als Mitglied angemeldet haben, können Sie sich hier anmelden!
Vielen Dank! Ihr Beitrag ist eingegangen!
Huch! Beim Absenden des Formulars ist etwas schief gelaufen.
By clicking “Accept All Cookies”, you agree to the storing of cookies on your device to enhance site navigation, analyze site usage, and assist in our marketing efforts. View our Privacy Policy for more information.
EIN INTEGRALER BLICK AUF ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Mit Integral Without Borders bringen Gail Hochachka und Sushant Shrestha einen neuen Ansatz in das grosse Feld der Entwicklungszusammenarbeit, bei dem die Entwicklungspotenziale der jeweiligen Kulturen im Mittelpunkt stehen. Wir haben mit ihnen über ihre Arbeit und die Merkmale einer integralen, globalen Perspektive gesprochen.
evolve: Mit welchem besonderen Ansatz engagiert ihr euch in der internationalen Entwicklungsarbeit?
Gail Hochachka: Zunächst einmal ist diese Entwicklungsarbeit ein besonderes Arbeitsfeld, weil die Idee der kulturellen Entwicklung ein Kernelement einer evolutionären Weltsicht ist. Zudem ist die Entwicklungszusammenarbeit auch aus der Absicht entstanden, die kulturelle Evolution auf dem Planeten zu fördern, um Menschen aus Armut zu befreien, ihnen ein würdevolles Leben zu ermöglichen und sie in ihrem Potenzial zu unterstützen. Am Anfang steht also durchaus eine wohlwollende Absicht, die im Grunde aus einem weltzentrischen Bewusstsein kommt, in dem wir uns nicht nur mit unserer Nation identifizieren, sondern uns als Bürger einer Welt erfahren. Trotz dieser wohlwollenden Absicht gab es in den vergangenen Jahrzehnten Sackgassen und Situationen, in denen wir gescheitert sind. Immer wieder neu müssen wir definieren, was internationale Entwicklungsarbeit bedeutet. Wir haben viele Methoden ausprobiert, die jeweils als Patentlösung dienen sollten, sich aber als nicht umfassend genug herausgestellt haben. Wir befinden uns also in einem permanenten Prozess der Innovation und Anpassung, in dem sich wiederum unsere eigene kulturelle Entwicklung zeigt. Wir können die Zusammenarbeit aus einem modernen Bewusstsein initiieren, wobei die wirtschaftliche Entwicklung einer Region und ein steigender Wohlstand der Menschen im Vordergrund stehen. Aus einer pluralistischen, postmodernen Sicht wollen wir vor allem die Einzigartigkeit und den individuellen Selbstausdruck jedes Menschen unterstützen, unabhängig von Geschlecht, Rasse oder Klasse. Aber aus einem integralen Bewusstsein eröffnet sich noch einmal ein ganz neuer Blick auf Entwicklungszusammenarbeit, weil wir versuchen, alle Bereiche der Wirklichkeit und des Menschseins in Betracht zu ziehen und das besondere Potenzial und den Entwicklungsimpuls der Kultur selbst wahrzunehmen und zu unterstützen.
Sushant Shrestha: Genau, integrales Denken in diesem Kontext bedeutet, wir bringen Bereiche wie Psychologie, Spiritualität, Kultur und Wirtschaft zusammen. Dabei sehen wir, wie diese verschiedenen Disziplinen ineinandergreifen. Entwicklung ist ihrem eigentlichen Wesen nach multidisziplinär, doch bislang ist es so, dass die verschiedenen akademischen und sozialen Arbeitsfelder eigenständig und weitgehend isoliert handeln. Mit dem integralen Ansatz erkennen wir, wie sie alle miteinander zusammenhängen – oder sogar in einer ganzheitlichen Perspektive integriert werden können, denn wir transzendieren in gewisser Weise die Disziplinen und schließen sie gleichzeitig ein. In vielerlei Hinsicht wäre unser Ansatz in einer konkreten Situation jeweils unterschiedlich, je nachdem, wo wir uns befinden. Wir verwenden nicht nur eine moderne oder eine postmoderne Perspektive, wir nutzen einen partizipativen Prozess: Wir führen einen Dialog mit den Menschen vor Ort, um herauszufinden, was ein Schritt in die Moderne oder Postmoderne für sie bedeuten könnte. Denn in einer globalen, integralen Perspektive gibt es nicht nur eine Ausdrucksform der Moderne oder Postmoderne.
e: Wie meinst du das?
SuS: Nehmen wir ein konkretes Beispiel: die Trennung von Staat und Kirche. Wenn wir über die Trennung von Staat und Religion sprechen, dann ist die Religion, von der die Rede ist, dem Wesen nach jüdisch-christlich. In Ländern wie Nepal jedoch gab es immer eine symbiotische Beziehung zwischen Religion, Politik und Wissenschaft in allen Bereichen der Gesellschaft. Wenn wir ein bestimmtes, kulturgebundenes Verständnis von Religion in anderen Kulturen anwenden, verfehlen wir leicht das Besondere dieser Kultur.
¬ INTEGRALES DENKEN IN DER ENTWICKLUNGSARBEIT BEDEUTET, WIR BRINGEN BEREICHE WIE PSYCHOLOGIE, SPIRITUALITÄT, KULTUR UND WIRTSCHAFT ZUSAMMEN. ¬ Sushant Shrestha
Das bedeutet auch, dass sich die Moderne, wie wir sie kennen, auf unterschiedliche Weise entwickeln kann, es muss nicht unbedingt dieser eine Weg sein, den wir als westliche Moderne bezeichnen. Wenn wir bei unserer Arbeit mit einem Projekt beginnen, versuchen wir zu verstehen, was in dieser Situation ein positiver Entwicklungsschritt wäre und was zum Beispiel in diesem bestimmten Fall ein Schritt in die Moderne bedeutet. Die Grundlage unserer Arbeit ist das Verständnis, dass sich die kulturellen Entwicklungsstufen, die wir in einer integralen Perspektive anerkennen, in jeder Kultur auf andere Weise zeigen können. Das bedeutet, dass es unterschiedliche Ausdrucksformen für das gibt, was wir als traditionell, modern, postmodern oder integral bezeichnen.
GH: Aus einem integralen Ansatz in der Entwicklungsarbeit können wir alle Stufen so annehmen, wie sie sich in einer Kultur gezeigt haben. Dabei haben wir festgestellt, dass eine vorwiegend moderne Perspektive auf Entwicklung aus einem rationalen, universalistischen Bewusstsein kommt und universelle Aspekte betont. In der postmodernen, pluralistischen Perspektive hingegen liegt das Hauptaugenmerk auf der Einzigartigkeit der Menschen und konkreten kulturellen Umständen. Aus einer integralen Perspektive beachten wir beide Aspekte, wir würdigen sowohl das Universelle als auch die jeweilige Einzigartigkeit. Wenn wir in einer bestimmten Kultur den Schritt in die Moderne betrachten, dann fragen wir: Was ist das Universelle, das wir als die Tiefenstruktur dieser Entwicklungsstufe erkennen können? Und als zweites fragen wir: Was sind die Oberflächenstrukturen, die ihrer Natur nach eher einzigartig sind?
Nehmen wir noch einmal das Beispiel, das du, Sushant, angeführt hast, die Trennung von Kirche und Staat. Sie wurde bislang möglicherweise fälschlich als Tiefenstruktur der Moderne betrachtet, vielleicht handelt es sich aber vielmehr um eine Oberflächenstruktur, die nur im Westen, in Europa und den USA, angemessen war. In Nepal beispielsweise wurde sie nicht vollzogen, denn Religion und Staat – oder Dharma und Regierungsform – hängen auch in ihren modernen Ausdrucksformen enger zusammen. Unser Verständnis wird also differenzierter: Wir können neu sehen, was Tiefenstrukturen sind, die universell verallgemeinert werden können, und was dagegen eine kulturelle Oberflächenstruktur ist, mit der wir sorgfältiger und respektvoller arbeiten müssen.
e: Wie kann man nun in einer Kultur die besonderen Ausdrucksformen, die es zu bewahren gilt, von den Aspekten der Gesellschaft, die sich entwickeln müssen, unterscheiden?
GH: Hier sind für mich die vier Quadranten der integralen Theorie von Ken Wilber sehr hilfreich. Die vier Quadranten erstrecken sich durch Raum und Zeit und beschreiben erprobte Perspektiven, durch die die Menschen versucht haben, die Realität zu erfassen und zu beschreiben. Die Quadranten verankern unsere Betrachtung der Welt in unserer gemeinsamen menschlichen Geschichte, weil wir Perspektiven nutzen, die sich in unserer Geschichte geformt haben. Aus dieser weiten Perspektive sehen wir, dass wir bei jeder Arbeit in einer Kultur die Veränderung von Individuen und ihren inneren Haltungen, von ihren Verhaltensweisen, ihren Werten und Organisationsstrukturen berücksichtigen müssen.
Was wir im Hinblick auf diese vier Bereiche tun, hängt jedoch nicht von uns ab. Sie werden bestimmt von den Menschen, dem Ort, dem Bewusstsein und den Systemen, die wir dort vorfinden, wo wir arbeiten. Dadurch werden die kulturellen Besonderheiten gewürdigt, die sich an jedem Ort finden. Wir kommen also nicht mit einer vorgefassten Meinung, was eine nachhaltige Gesellschaft oder eine nachhaltige Entwicklung ist. Wir betrachten diese vier Bereiche – persönlicher Wandel und die Veränderung von Verhaltensweisen, der Kultur und ihren Systemen – und überlegen, welche Bedeutung sie für den bestimmten Ort haben. Und dann arbeiten wir mit den Menschen daran, diese Veränderungen in den vier Bereichen umzusetzen.
Die vier Quadranten haben uns bei der Arbeit im Rift Valley in Äthiopien unterstützt, wo wir uns mit den Menschen unter einer Akazie auf dem Boden zusammensetzten und dieses Bezugssystem nutzten, um ökologische Fragestellungen in ihrer Umgebung zu verstehen. Wir haben sie im Zusammenhang mit der Gleichstellung der Geschlechter in Lateinamerika angewendet, besonders in El Salvador. Wir haben sie im Rahmen des Friedensprozesses in Kolumbien genutzt. Die Quadranten stoßen auf Resonanz, weil sie die Menschen in ein Gespräch führen, in dem sie herausfinden können, wo das eigentliche Problem liegt. Es mag vielleicht so aussehen, als sei die Veränderung des Systems vordergründig, aber in Wirklichkeit ist vielleicht kultureller Wandel der Schlüssel zur Entwicklung. Wir nutzen die Quadranten als Erkenntniswerkzeug und als Rahmen für die Entwicklung von Visionen, für das Entwerfen und Planen neuer Lösungen. Die Menschen vor Ort können genauer erkennen, wo die Hauptursachen für ein Problem liegen und welche verborgenen Potenziale und unerkannten Lösungen es gibt, insbesondere in ihrem kulturellen Kontext, in ihrer eigenen Situation. Die Quadranten können also wirklich dazu beitragen, diese Vielfalt zu würdigen.
¬ IMMER WIEDER NEU MÜSSEN WIR DEFINIEREN, WAS INTERNATIONALE ENTWICKLUNGSARBEIT BEDEUTET. ¬ Gail Hochachka
SuS: Dabei ist es auch wichtig zu verstehen, auf welchen Grundlagen wir arbeiten. Schließlich hat sich die Welt durch die Kolonialisierung und die beiden Weltkriege grundlegend geändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele der westlichen Länder zusammen und gründeten den Internationalen Währungsfonds, die Vereinten Nationen, die Weltbank. Vor den beiden Weltkriegen gab es keine Trennung in Länder der Ersten Welt und der Dritten Welt. Heute gibt es reiche und arme Länder, die nach dem Bruttoinlandsprodukt in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gemessen werden. Dabei achten wir nicht auf andere Aspekte der Wirklichkeit wie die individuelle innerliche Entwicklung und die Entwicklung des sozialen Gefüges. Diese Begrenzung unseres Blickes müssen wir immer beachten, wenn wir in Ländern wie Nepal oder Südamerika mit kultureller Entwicklung arbeiten. Aus dieser Perspektive verstehen wir auch, warum Menschen in ärmeren Ländern in Studien oft als »glücklicher« erfasst werden. Glück beruht eben nicht nur auf materiellen Werten, sondern auf Werten wie z. B. sozialem Zusammenhalt. Solche Differenzierungen sind in einem erweiterten Ansatz der Entwicklungsarbeit sehr wichtig.
e: Wie versucht ihr diese Begrenzung des Blickes zu erweitern, um neu auf das Feld der Entwicklungsarbeit schauen zu können?
SuS: Entwicklungsarbeit ist keine Einbahnstraße, denn wenn wir zum Beispiel integrales Denken anwenden, wird sich dadurch auch das integrale Denken verändern und erweitern. Diese Haltung ist, glaube ich, entscheidend: Nicht nur die Kulturen, denen wir helfen, können in diesem Prozess lernen und sich entwickeln, auch wir im Westen können und müssen unseren Platz in einer globalen Welt neu verstehen und die Annahmen unserer eigenen Kultur hinterfragen, wie zum Beispiel die Idee, das Glück vor allem aus materiellem Wohlstand erwächst.
Ein integraler Ansatz folgt einem »Trans-Ethos«, einer Perspektive, die die Vorherrschaft bestimmter kultureller Entwicklungsmodelle und Neigungen transzendiert. Vor der Globalisierung folgten die Kulturen der Welt ihrer eigenen Entwicklung, dabei stützten sie sich auf ihre traditionellen, indigenen Wissenssysteme. Die Globalisierung und die Moderne, die durch Kolonialmächte auch gewaltsam verbreitet wurden, setzten sich meist über diese Wissenssysteme und ethnischen Besonderheiten hinweg, mit zum Teil katastrophalen Folgen. In einer integralen Perspektive wird das erkennbar. Deshalb ist ein integraler Ansatz nur dann wahrhaft umfassend, wenn das besondere Ethos einer Kultur und ihre Entwicklungsrichtung berücksichtigt werden. Wenn wir in Peru oder Nepal arbeiten, gehen wir immer davon aus, dass diese Kultur, dieses System, einen eigenen Entwicklungsverlauf nimmt. Wir können mithilfe der Menschen verstehen, worin dieser besteht und die innewohnenden Potenziale der Kultur fördern.
GH: Ich denke, das beschreibt sehr gut die Haltung, die wir in die Entwicklungsarbeit einbringen: Entwicklung und Evolution vollziehen sich fortlaufend als natürliche Bewegung im Inneren einer Kultur. Auf dieser Grundlage entstehen Wertschätzung und Respekt für die Entwicklungsrichtung einer Kultur. Was wir gemeinsam mit Partnerinnen und Kollegen vor Ort einbringen können, ist eine Betrachtungsweise und eine Untersuchungsmethode, um herauszufinden, wo sich diese Entwicklung bereits zeigt, wo sie behindert wird oder wo noch weitere Ressourcen benötigt werden, damit sie in Gang kommen kann. Diese Haltung unterscheidet sich stark von anderen Formen der herkömmlichen Entwicklungshilfe, wo Maßnahmen gewissermaßen von außen den Menschen und Orten aufgepfropft werden. Im Gegensatz dazu ermöglicht der integrale Ansatz eine zutiefst respektvolle und wertschätzende Arbeit mit den Entwicklungspotenzialen, die sich bereits zeigen. Dieser Ausgangspunkt verändert alles weitere Handeln. Denn wir begeben uns mit einer radikalen Wertschätzung in einen tiefen Dialog mit dem System, dem Ort und den Menschen, um gemeinsam herauszufinden, was sich als nächstes entwickeln will.
Author:
evolve
Teile diesen Artikel:
Weitere Artikel:
Gemeinsam wachsen und experimentieren
In der Lebensweise Community wird online, in Regionalgruppen und Community-Treffen ein neues Miteinander gelebt und erprobt. Wir sprachen mit der Impulsgeberin Vivian Dittmar und der Community-Hüterin Lina Duppel über die Chancen und Risiken von Gemeinschaft.
Dialogische Erfahrungen ermöglichen uns eine tiefere zwischenmenschliche Begegnung. Es gibt viele Praktiken, die diesen Raum authentischer, ehrlicher und heilsamer Beziehungen eröffnen. In den tiefsten und oft auch als sakrale Momente erlebten Erfahrungen zeigt sich in diesem Zwischenraum für Menschen eine Anwesenheit, die über uns als Einzelne hinausgeht und darauf hindeutet, dass sich ein neuer Lebensraum öffnet.
Pamela von Sabljar ist Gruppenmoderatorin und berät Organisationen und Führende bei Veränderungsprozessen. Dabei arbeitet sie auch mit dem Feld, das zwischen den Beteiligten entsteht. Wir erforschten mit ihr, wie sich aus der Wahrnehmung dieses Zwischenraums gemeinsame Prozesse anders gestalten lassen.