Durch Mitsprache die Polarisierung überwinden
Die Corona-Krise ist auch eine Herausforderung unserer Demokratie: Wie können wir heute und in Zukunft vermeiden, in entgegengesetzte Lager zu zerfallen? Wie können wir die Kluft zwischen Politikern und Bürgern überwinden? Das sind Fragen, die der Verein »Mehr Demokratie« seit vielen Jahren bewegt. Mit dieser Kompetenz ist er nun auch im Bundestag angekommen.
Es wird zunehmend klarer, dass unser Regierungssystem ein Update braucht, es ist in seiner Struktur noch nicht darauf ausgelegt, langfristige, hochkomplexe und globale Probleme zu lösen. Im Bereich der Klimapolitik ist dies sofort offenbar, denn fast alles, was wir über die Erderwärmung wissen, war bereits 1979 bekannt. Die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel zeigt die Schwächen der heutigen Regierungsformen auf: zu kurzfristiges Denken und Handeln – maximal in Legislaturperioden. Hohe Komplexität kann aufgrund von Lager- und Ressortdenken in und zwischen den unterschiedlichen Ministerien kaum abgebildet werden. Es fehlt der institutionelle politische Rahmen auf staatlicher, geschweige denn internationaler Ebene, um solchen Herausforderungen angemessen Rechnung zu tragen.
Auch in Bezug auf den Umgang mit Corona sind heute breitere Blickweisen gefragt als nur die von Virologen und Epidemiologen. Im weltweiten Vergleich hat Deutschland die direkten gesundheitlichen Folgen vergleichsweise gut gemeistert. Welche Folgen hätte es, wenn wir dieses Maß an Verantwortung in Bezug auf den Schutz jedes Lebens auf alle anderen Lebensbereiche übertragen würden? Wie würden wir dann handeln in Bezug auf Hunger, Umweltverschmutzung oder Klimaschäden?
Covid-19 zeigt uns: Wenn die Menschheit in einer gemeinsamen Sache vereint ist, wird schneller Wandel möglich. Keines der Probleme der Welt ist technisch schwierig zu lösen; sie alle haben ihren Ursprung in der menschlichen Uneinigkeit. In der Kohärenz sind die schöpferischen Kräfte der Menschheit grenzenlos. Doch wie kommen wir in der Politik zu umfassend kohärenten Vorschlägen, die möglichst viele Perspektiven integrieren? Dazu müssten möglichst viele Blickpunkte, also Bürger*innen, in die Lösungsfindung eingebunden werden, auch wenn sie von der Mehrheit abweichende Meinungen vertreten. Eine demokratische Innovation erfüllt diese Elemente: die losbasierten Bürgerräte.
Das Losverfahren in seiner modernen Form bietet viele Vorteile: Jeder Mensch kann per Los ausgewählt werden, daher gibt es keine soziale Ausgrenzung, es sind nicht nur die »üblichen Verdächtigen«, die zu politischen Themen Stellung nehmen. Das Losverfahren korrespondiert auch mit unseren Erkenntnissen über kollektive Intelligenz. Damit in Gruppen etwas Neues entstehen kann, müssen die Teilnehmenden möglichst verschieden sein und aus unterschiedlichen Zusammenhängen kommen. Gruppen sollten interdisziplinär besetzt sein und in keinerlei Abhängigkeiten zueinander stehen. Nur dann bekommt man frische Ideen – und die Beteiligten haben auch den Mut, sie auszusprechen.
IN DER KOHÄRENZ SIND DIE SCHÖPFERISCHEN KRÄFTE DER MENSCHHEIT GRENZENLOS.
In gut moderierten Beteiligungsverfahren werden Menschen in ihrer vollen Kompetenz angesprochen. Sie werden als verantwortungsvoll betrachtet und handeln deswegen auch so. Die Magie derartiger Verfahren liegt oft in den kleinen Räumen, in denen tiefe menschliche Begegnungen möglich werden. Bei Männern wie Frauen, bei gebildeten Vielrednern und Menschen aus weniger gebildeten Verhältnissen, bei Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund gleichen sich nach einiger Zeit die Redeanteile von selbst an.
Der Kommunikationsstil ist aufgrund entsprechender Prozessmoderation mit üblichen politischen Streitgesprächen nicht zu vergleichen. Empathie und Zuhören werden kultiviert und sogar kollektive Gefühls- und »Innenräume« können bewusster wahrgenommen werden. Es wird ein wechselseitiges Vertrauen gefördert: Bürger*innen verstehen die Arbeit der Politik besser, sie kommen mit Politiker*innen und untereinander in Kontakt, jenseits von Filterblasen und Echokammern.
Die von Bürger*innen erarbeiteten Lösungsvorschläge spiegeln einen »common sense« wieder, werden als fair wahrgenommen und sind deshalb mehrheitsfähig. Gesellschaft und Politik wissen anhand der in Bürgerräten konkret erarbeiteten Vorschläge und Maßnahmen dann genau, bis wohin die Bürger*innen mitgehen können und wollen. Darauf kann die Gesetzgebung ausgerichtet werden.
Der Schwachpunkt aller Beteiligungsverfahren ist, dass sie unverbindlich und auf eine wohlwollende Verwaltung als Auftraggeber angewiesen sind. Auch die Finanzierung ist meist abhängig von der Exekutive. Wenn der Politik das Ergebnis nicht schmeckt oder sie damit schlicht überfordert ist, verschwindet die Arbeit der Bürger*innen in der Schublade. Diese Nachteile können und sollten durch eine intelligente Kombination mit direktdemokratischen Elementen überwunden werden.
In Deutschland hat ein erstes Experiment im Herbst 2019 stattgefunden. Diesen Prozess hat »Mehr Demokratie« zusammen mit der Schöpflin Stiftung und zwei Durchführungsinstituten konzipiert und organisiert. Ein losbasierter Bürgerrat war sein Herzstück, in welchem die Frage bewegt wurde: Soll die parlamentarische Demokratie durch direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung ergänzt werden? Wenn ja, wie? Die Ergebnisse des Bürgerrats wurden in einem Bürgergutachten zusammengefasst, das der Öffentlichkeit und der Politik vorgestellt, diskutiert und an den Bundestagspräsidenten sowie an alle Bundestagsfraktionen übergeben wurde.
Nach der Übergabe der Ergebnisse des Bürgerrats Demokratie an den Bundestag initiierte Bundestagspräsident Schäuble eine Diskussion unter allen Fraktionen, ob das Prinzip der losbasierten Bürgerräte ein geeignetes Instrument sei, um die parlamentarische Demokratie weiterzuentwickeln. Im Juni haben sich dann die Fraktionen im Ältestenrat des Bundestages für einen weiteren Bürgerrat ausgesprochen und sich auf das Thema »Deutschlands Rolle in der Welt« verständigt. Auch soll untersucht werden, ob ein solches neues Instrumentarium zur Unterstützung der parlamentarischen Arbeit geeignet ist. Bundestagspräsident Schäuble übernimmt dafür die Schirmherrschaft.
Das gewählte Thema mag zunächst etwas blutleer erscheinen. Doch auf Nachfrage bei den Fraktionen des Bundestags, welche konkreten Fragen darunterfallen könnten, wird deutlich, wie konkret dies auch gefasst werden kann. Von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und Waffenexporten über Menschenrechts- und Klimafragen bis hin zu geopolitischen Fragestellungen, welche Rolle Deutschland im machtpolitischen Dreieck von USA, Russland und China zukünftig spielen soll. Um diese Fragen überhaupt sinnvoll bearbeiten zu können, wird zu Beginn auch die Frage nach der Identifizierung mit Deutschland eine Rolle spielen. Dabei wird es auch schnell sehr persönlich. Allein die Frage: »Was liebst du an Deutschland?«, kann einem die Schamesröte ins Gesicht treiben.
Vielen Menschen sind die feinen Qualitäten aufmerksam moderierter Räume aus persönlichen oder meditativen Zusammenhängen bekannt. Jetzt gilt es, eine entsprechende Achtsamkeitskultur auf die gesellschaftliche Ebene zu übertragen. Ob wir im besten Fall gesellschaftliche Felder von kollektiver Weisheit erzeugen oder im schlimmsten Fall kollektive Traumata reaktivieren, hängt maßgeblich von den miteinander vereinbarten Formen des Umgangs, den Spielregeln der Kommunikation, der Moderation und der Prozessgestaltung ab. Und desto besser werden die erarbeiteten Lösungen sein. »Besser« bedeutet im demokratischen Sinne, dass Lösungen die Präferenzen und Interessen der Teilnehmenden besser abbilden und damit dem Gemeinwohl dienen.