Fluch und Segen unserer Geschichten

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

July 18, 2022

Mit:
Samira El Ouassil
Friedemann Karig
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AUSGABE:
Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
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Über das Buch »Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen« von Samira El Ouassil und Friedemann Karig

Geschichten erzählen: Das klingt gemütlich und harmlos, nach Lagerfeuer, Stammtisch und Märchenstunde mit Oma. Die These des Buches legt etwas völlig anderes nahe: Geschichten, Erzählungen und Narrative können ungeheure, weltverändernde Macht besitzen. Im Guten wie im Schlechten. Dazu haben Autorin und Autor umfangreiche Erkenntnisse aus Psychologie, Anthropologie, Evolutionsbiologie sowie Medien- und Literaturwissenschaften zusammengetragen, die eine Umbenennung von Homo sapiens (der vernunftbegabte Mensch) in Homo narrans (der erzählende Mensch) gerechtfertigt erscheinen lassen. Einer, der sich mit seinen Erzählungen immer wieder um Kopf und Kragen redet.

Das fängt beim Einzelnen an, denn ständig erzählen wir die Geschichte unseres Lebens neu, deuten sie um, bewerten Ereignisse der Vergangenheit in neuem Licht. Dem Gehirn geht es dabei um kohärente Erzählungen. Die Teile müssen zusammenpassen und Sinn ergeben. Aber sie müssen nicht unbedingt faktisch wahr sein. Wir haben allen Grund, bei jenem Vorgang, den wir »Erinnern« nennen, misstrauisch gegenüber uns selbst als Quelle zu sein.

Individuelle Umdeutungen können problematisch sein, Narrative auf kollektiver Ebene sogar menschenfeindliche und sozialzerstörerische Macht entfalten. »Frauen sind gefährlich«: Diese Story wird schon in der Genesis erzählt (Eva verführt Adam ­zur Sünde) und über Jahrhunderte weitergegeben. Die leidvollen Folgen sind bekannt: Abwertung des Weiblichen, »Hexen«-Verfolgung, Versklavung und Unterdrückung bis heute. Das Buch nennt viele Beispiele solcher Narrative: die Erfindung einer Figur namens »König« (ein Mensch darf alle anderen regieren, weil er in einem bestimmten Bett geboren wurde); das Konzept des »Homo oeconomicus« (der Irrglaube, Menschen seien rationale Nutzenmaximierer  – in Wirklichkeit werden sie stark von Irrationalität, unbewussten Gefühlen und systematischen kognitiven Fehlern geleitet); nicht zuletzt das ewige »Wir sind besser als die anderen«.

Es gehört zum Charakter der Narrative, dass sie uns, weil in einer Art kollektiver Trance alle daran glauben, eine »normale« Deutung der Dinge nahelegen. Insofern leistet das Buch dringend benötigte Aufklärung darüber, welchen Mythen wir ach so modernen Menschen anhängen.

¬ GESCHICHTEN, ERZÄHLUNGEN UND NARRATIVE KÖNNEN UNGEHEURE, WELTVERÄNDERNDE MACHT BESITZEN. ¬

Unterhaltsam ist es noch dazu (was gleichzeitig auf das positive Potenzial von Geschichten verweist), Wissen so aufzubereiten, dass es begeistert aufgenommen wird. Die Autoren verstehen es, Geschichten von Bibel bis Hollywood, von Darwin bis Trump kunstvoll in ihre Analyse einzuweben. Die Kapitelfolge haben sie nach dem Archetyp aller Erzählformen gegliedert, nach den Stationen der Heldenreise. Als Kurztrip beschrieben: Der Held (sehr selten: die Heldin) erlebt einen »Ruf«, zunächst widerstrebend zieht er ins Abenteuer, besteht härteste Prüfungen und Gefahren, erfährt Hilfe durch einen Mentor, geht durch mehrere Höllen, um dann nicht unbedingt siegreich, aber innerlich gereift zurückzukehren. Diese archetypische Form findet sich in alten Mythen genauso wieder wie in heutigen Blockbustern, Social-­Media-Storys und Werbespots.

Wenn die transformative Heldenreise eine so mächtige Erzählform ist, stellt sich die Frage: Könnte man sie nicht nutzen, um attraktive Geschichten über die großen Abenteuer unserer Zeit zu erzählen? Könnte man mit einem »Ruf« zu Klimawandel, skandalöser Armut und Migrationskrisen die Menschen berühren und ins Handeln bringen? Eine große Erzählung, um große Probleme gemeinsam zu lösen. Doch das Buch macht klar, dass die Helden alter Form heute nicht mehr ausreichen, denn sie ziehen erst dann los, wenn ein Ereignis sie herausfordert. Stattdessen empfiehlt das Autoren-Duo, das eigene Leben als Geschichte einer guten Zukunft zu erzählen: »Lassen Sie diese Geschichte mit einer Wette auf ein Happy End beginnen. Fragen Sie sich ehrlich, wo Sie Protagonistin, wo Antagonistin sind. Erfinden Sie Utopien, fantasieren Sie paradiesische Zustände, seien Sie mutig. Verbinden Sie sich dazu mit anderen, die bisher nur zu träumen wagten.«

Dieses Gebot der Ehrlichkeit kann ich auch auf den konstruktiven Journalismus übertragen, der mir persönlich am Herzen liegt. Es ist wertvoll, Geschichten des Gelingens und der Selbstwirksamkeit angesichts globaler Herausforderungen für ein breites Publikum aufzubereiten. Aber nicht unkritisch, als ein paar hier und dort eingestreute Nachrichten zum Wohlfühlen; es braucht einen klaren Blick darauf, was wirklich wirkt. Nur in dieser Authentizität entfalten Narrative einer lebenswerten Zukunft ihre Strahlkraft.

Author:
Michael Gleich
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