Challenge is good
With the Alter Ego network, Ronan Harrington and Richard Bartlett create a meeting place where pioneers and leaders experience transformative processes to work more effectively and joyfully for social change.
April 11, 2022
Grace Rachmany ist eine der führenden Expertinnen für DAOs und Blockchain mit einem Schwerpunkt auf neuen Formen der Leadership. Sie sieht in der Technologie Möglichkeiten, zu einer neuen gemeinsamen Handlungsfähigkeit zu kommen, die über den gegenwärtigen Narzissmus hinausgeht. Wir sprachen mit ihr darüber, wie DAOs unser Verständnis von Führung, Zusammenarbeit und Weltgestaltung verändern können.
evolve: Viele Insider hoffen, dass DAOs die Organisation der menschlichen Gesellschaft transformieren werden, sodass wir besser zusammenarbeiten und als Gemeinschaft zur vollen Entfaltung kommen können. Teilen Sie diese Hoffnung? Was ist für Sie das Spannende an dezentralen Organisationen?
Grace Rachmany: Ja, DAOs sind in aller Munde, aber man muss dazu sagen, dass die Technologie noch sehr primitiv ist. Was wirklich Anlass zur Hoffnung gibt, sind die Menschen, die sich um diese Technologie versammeln. Wenn ich den Ansatz von DAOs erkläre, wähle ich recht häufig als Beispiel meine jüdische Religion. Was ist eine »dezentralisierte Organisation«? Die katholische Kirche ist eine zentral geführte Organisation. Bei großen Unternehmen erkennt man den zentralen Führungsstil ebenfalls sehr gut: Es gibt einen Chef an der Spitze und der hat eine Menge Geld.
Als Jude oder Moslem erleben Sie dagegen eine Religion mit dezentralisierten, autonomen Organisationsstrukturen, in denen jeder Imam oder Rabbi und jede Gruppierung eine bestimmte Anhängerschaft hat. Und es gibt Regeln, bei denen es sich um Interpretationen der Heiligen Texte handelt. Man könnte also sagen, es gibt ein Regelwerk. In unserem Beispiel, dem Judentum, besteht das Regelwerk aus 613 Gesetzen mit verschiedenen Auslegungen. Das ist eine Art dezentralisierte, autonome Organisation.
Diese Organisation des Judentums sieht überhaupt nicht so aus, wie wir uns skalierbare Organisationen vorstellen: hierarchisch organisiert und mit Macht und Geld versehen. Sie erscheint eher wie eine Bewegung. Auch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung hatte kein Oberhaupt. Es gab zwar Anführer, aber es war eine Bewegung.
Diese Beobachtung ist für das Thema Leadership und DAOs wirklich interessant. Denn jede und jeder ist in gewisser Weise eine Führungsperson. Man sollte sich fragen: »Was ist meine persönliche Autonomie und was ist meine persönliche Verantwortung innerhalb dieser DAOs? Wofür werde ich mich einsetzen?« DAOs funktionieren so, dass jemand einen Vorschlag macht bzw. einen Antrag stellt, über den die Gruppe der DAO-Mitglieder abstimmt. Das basiert auf der persönlichen Initiative des Antragstellers und nicht darauf, dass einem jemand sagt, was zu tun ist. Selbst in den primitiven DAO-Konfigurationen, die wir im Moment erleben, zeigt sich bereits eine neue Form persönlicher Verantwortung und die Zugehörigkeit zu einer Organisation als partizipativer Prozess.
Verantwortung übernehmen
e: Das ist faszinierend. Wenn man genau hinschaut, erkennt man eigentlich überall dezentrale autonome Organisationen. Dazu zählen alle Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, aber auch Organisationen wie ISIS und Al-Qaida.
¬ JEDE UND JEDER IST IN GEWISSER WEISE EINE FÜHRUNGSPERSON. ¬
GR: Und die Anonymen Alkoholiker, nicht wahr? Es wird immer deutlicher erkennbar, dass wir ein neues Verständnis dafür entwickeln müssen, woher die Macht kommt. Die Schwulenrechtsbewegung ist zum Beispiel nicht erst entstanden, als die Gesetzgebung es zuließ, dass Homosexuelle heiraten können. Sie entstand schon 20 Jahre vorher als ein Aufstand gegen bestehende Systeme.
Eigentlich wird alles zu einer dezentralen autonomen Organisation, sobald ein Mensch Verantwortung übernimmt und sagt: »Ich übernehme die Führung. Ich nehme mein Leben in die eigenen Hände.« Das ist ein Aspekt der neuen Denkweise, die eine Veränderung in der Wahrnehmung der persönlichen Verantwortung beinhaltet. Viele Leute fragen: »Was kann ich tun?« Ich sage dann immer: »Gute Frage, was kannst du tun? Du hast die Wahl. Wir sind nicht machtlos.«
e: Können Sie näher erläutern, was die Technologie hier bewirkt? Die Technologie ist die zugrunde liegende Schicht, die die dezentralen und autonomen menschlichen Interaktionen in großem Maßstab unterstützt. Können Sie dazu etwas sagen?
GR: Jede Entscheidung, die wir treffen, beruht auf einer technologiegestützten Verbreitung von Informationen. Als Sie sich zum Beispiel entschieden haben, mich zu interviewen, gab es eine ganze Handlungskette, die zuvor abgelaufen ist und durch eine Technologie ermöglicht wurde. Ich kann mir Ihr LinkedIn-Profil ansehen und etwas über Sie herausfinden. So werden in der Realität Entscheidungen getroffen, und das gilt auch für natürliche, biologische Systeme.
Aber wir beachten dieses Verbreitungssystem von Informationen unterhalb unserer Entscheidungen viel zu wenig. Und auch nicht das Kommunikationssystem der sozialen Medien. Denn darin arbeitet ein intelligentes System, ein Matching-Algorithmus, der herauszufinden versucht, was ich kaufen möchte, und das wird mir angezeigt. Es geht darum, was ich kaufen werde und wer daraus Profit schlagen kann – und nicht darum, was wirklich gesund und gut für mich ist.
All diese Systeme befinden sich also unter dem System, das eigentlich die Leinwand für das bildet, was in einer Demokratie möglich ist. Und egal, was man darauf aufbaut, ein Wahlsystem, eine Diktatur, eine Oligarchie oder was auch immer, man wird nur die Ergebnisse erzielen, die durch dieses darunter liegende System zur Verbreitung von Informationen ermöglicht werden.
Ich denke, dass es noch ein paar Generationen brauchen wird, aber wir wollen doch weg vom Geld als einer Notwendigkeit. Ich bezeichne Geld als einen Mechanismus zur Umverteilung von Ressourcen. Und es ist desaströs, wie wir die Ressourcen umverteilt haben. Wir haben zum Beispiel die Ressourcen der Wälder in Bits und Bytes auf die Bankkonten der Wohlhabenden umverteilt. Wir sollten neu über die Verteilung der Ressourcen nachdenken. Dazu waren wir früher nicht so in der Lage wie heute. Vor 20 Jahren konnten wir nicht sagen: »OK, ich möchte in meiner Gesellschaft die Anzahl der Menschen ermitteln, die heute keine Mahlzeit erhalten haben, und ich möchte die Entfernung feststellen, die die Mahlzeit zurückgelegt hat, damit ich ihren ökologischen Fußabdruck bestimmen kann.« Das sind ungefähre Parameter. Aber allein diese beiden Messgrößen – wie viele Menschen in dieser Region, meiner Nachbarschaft oder wo auch immer hungern mussten und wie weit das Essen transportiert wurde –, hätten enorme Auswirkungen. Wenn wir diese Art von Nachverfolgungsmechanismen in den Code und die Protokolle von DAOs einbauen würden, könnten wir wirklich eine Umverteilung der Ressourcen bewältigen, die weniger Tote zur Folge hätte.
Grundlegende Regelwerke
e: Wie funktionieren also diese DAOs?
GR: In den meisten Fällen gibt es einen Gründer oder ein Gründungsteam mit einem bestimmten Konzept und vielleicht einem Regelwerk, das sie gemeinsam formuliert haben. Es finden sich Menschen, die gemeinsam diese Idee umsetzen wollen.
Je nach der je eigenen Kultur eines Projektes wird die Art und Weise, wie der Übergang von der üblichen Führungsstruktur zur verteilten Organisationsstruktur gestaltet wird, unterschiedlich ausfallen. Das hängt von der jeweiligen Organisation ab. Ich würde sagen, dass dieser Prozess größtenteils über das Regelwerk gesteuert wird. Wir hatten ja bereits die Anonymen Alkoholiker erwähnt. Dort sind die 12 Schritte quasi das Regelwerk. Wenn man diese 12 Schritte akzeptiert und danach lebt, ist man Teil der Organisation.
e: Solche Regelwerke sind also die Grundlage für die Schaffung einer DAO?
GR: Ja, die Regelwerke definieren, worum es bei der DAO geht, und geben die grundlegenden Regeln für ihre Funktionsweise vor. Deshalb ist das Interesse am Governance-Aspekt so groß. Es ist der technische Code der DAO. Nehmen wir an, eine DAO-Organisation, der wir beide angehören, verteilt Gelder. Sie und ich, als Mitglieder der DAO, bewerben uns nun um Gelder. Nehmen wir einmal an, wir sind beide Schriftstellerinnen. Ich stelle einen Antrag, um Gelder zu erhalten. Dabei bin ich bemüht, diesen Antrag als erste einzureichen, weil dann zuerst über meinen Antrag abgestimmt wird und ich das Geld zuerst bekomme. Wir beide werden also zu Konkurrentinnen, obwohl wir Teil derselben DAO und uns wohlgesonnen sind. Wir könnten aber auch für den Antrag der jeweils anderen stimmen. Wir würden für die Sache der anderen stimmen und gegen die eigene. Wenn das Geld von dieser magischen DAO kommt, die einfach Geld verteilt, ist es einem vielleicht egal: »Ja, ich stimme für deine Sache. Die ist anders als meine Arbeit.« Aber wenn diese DAO finanziert werden muss, sollte sie genährt werden, damit sie weiterhin Geld an uns alle verteilen kann. Sie wird zu einem Gemeingut, um das wir uns kümmern müssen. Andernfalls wird sie uns nicht weiter ernähren. Wir sind uns also einig, dass wir zusammenarbeiten wollen, damit die DAO weiterhin das verwirklichen kann, wofür sie geschaffen wurde.
¬ AUTONOMIE HAT NUR IN EINER GRUPPE WIRKLICH BEDEUTUNG. ¬
Autonomie in Beziehung
e: Verstehe ich Sie richtig, dass die Autonomie der Menschen durch die Systeme, in denen wir leben, so eingeschränkt wurde, dass sich ein starker Wunsch nach Freiheit oder Autonomie entwickelt hat?
GR: Autonomie hat nur in einer Gruppe wirklich Bedeutung. Wir werden als Menschen immer von den Fäden beherrscht, die uns mit anderen Menschen verbinden. Das ist unsere Natur. Diese Verbundenheit formt unser Bewusstsein und unsere Sprache. Sprache und Bewusstsein machen nur Sinn in einer Gruppe. Wie wird das ermöglicht? In vielerlei Hinsicht wurde es schon immer durch Religion und Kultur vermittelt. Vieles davon haben wir heute verloren. An dessen Stelle sind technologische Lösungen getreten: Wenn du genug Likes bekommst, hast du Freunde gewonnen. Aber das sind keine echten Freunde.
Wenn man heute versucht, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, der eine andere Meinung als man selbst vertritt – sei es zu Gender-Rechten, zur Maskenpflicht oder zur Impfung –, ist es fast so, als würde man ein religiöses Gespräch führen. Und wenn man sich über bestimmte Diäten und Ernährungsweisen austauscht, ist es fast so, als ob es um Religionen und nicht um Meinungen ginge.
Wir dachten, mit dem Aufkommen der Wissenschaft könnten wir Religionen über Bord werfen. Sie sind aber keine optionale Sache, die die Menschen entwickelt haben, weil sie primitiv waren. Als Sinngebungssysteme sind sie Teil unserer biologischen Bedürfnisse, unserer Existenz, unserer Evolution. Wir brauchen so etwas wie Regeln, die eine Reihe von Funktionen erfüllen. Einerseits hat das mit der Bindung an andere zu tun und andererseits mit der Eindämmung von Narzissmus.
Narzissmus ist unser Untergang als Menschen: Wir halten uns für den Mittelpunkt der Welt und versuchen, unser eigenes Überleben über das anderer zu stellen. Wenn ich mich also in der Zukunft verewigen will, kämpfe ich dafür, dass meine Kinder auf die bestmögliche Universität gehen. Das Geldsystem erlaubt es uns, viel mehr Zukunft zu speichern, als es je zuvor möglich war. Wir bewegen uns also in einem System, das uns dazu ermutigt, unser Geld auf Kosten anderer Menschen anzusammeln. Diese Strukturen fördern den Narzissmus.
Wenn man mit jemandem aus einer intakten Kultur darüber spricht, wird er anmerken, dass es mit zu den wichtigsten kulturellen Tugenden gehört, die Menschen daran zu hindern, so zu handeln. Charles Eisenstein interviewte einige indigene Stammesangehörige, die berichteten: »Ja, es gab bei uns ein Gerichtsverfahren gegen jemanden, der sein Essen nicht geteilt hat. Darauf stand die Todesstrafe.« Das ist ein so schwerwiegender Verstoß, weil unser Körper nicht so viel Nahrung auf Vorrat speichern kann. In einer Gruppe müssen wir zuerst die Kinder und dann die Krieger mit Essen versorgen. Wenn Sie sich schon einmal in traditionellen Gemeinschaften bewegt haben, in denen das Essen knapp war, werden Sie bemerkt haben, dass beim Essen in der Regel der Mann zuerst isst, weil er dafür sorgt, das Überlebensnotwendige nach Hause zu bringen. Dann bekommen die Kinder zu essen und zuletzt die Mutter. Das ist eine Grundregel in jedem indigenen Stamm. Narzissmus wäre hier verheerend, nämlich tödlich.
e: Wie wirkt denn eine verteilte autonome Organisation dem Narzissmus entgegen? Wie sorgt sie für eine gemeinsame Ausrichtung oder den Schutz eines Gemeinguts?
GR: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man das noch nicht so genau sagen, aber von ihrer Beschaffenheit her kann sie mehrere Dinge bewirken. Eine der Organisationen, die das sehr gut macht, ist zum Beispiel OneHive. Diese Initiative belohnt Menschen dafür, dass sie für den Zusammenhalt der Gemeinschaft sorgen. Als Anreiz erhalten sie Token für diese Bemühung. Sie haben recht strenge Richtlinien für die Gemeinschaft formuliert, zum Beispiel dass man sich gegenseitig gut behandelt. So erhält man beispielsweise Token für die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts in der Gemeinschaft, die Integration anderer Organisationen oder Plugins für andere Organisationen. Es ist also in jedermanns Interesse, dafür zu sorgen, dass weiterhin Geld in den Hive fließt, sodass sie weiterhin Einnahmen durch den Hive erzielen können. Das ist also in dieser Initiative gewissermaßen inhärent.
Leider kommt das bei vielen DAOs nicht so schnell zum Tragen, weil die DAOs viel Geld sammeln, das die Leute aber durch ihre Anträge und so weiter abziehen. Irgendwann stellt die Organisation dann fest, dass das Geld ausgehen wird, und dann wechseln diese Mitglieder vielleicht zu einer anderen DAO, weil es keine echte tragfähige Community gibt.
Eine neue Infrastruktur
e: Wie funktionieren die Anträge in der DAO-Struktur?
GR: Wenn man einen Antrag einreichen will, benötigt man dazu bei einigen DAOs eine bestimmte Anzahl von Token und man muss Mitglied sein. Erst dann kann abgestimmt werden. Abstimmungen sind per Definition trennend, und alle DAOs arbeiten derzeit auf der Grundlage von Anträgen und Abstimmungen. Die Gestaltung unserer Demokratie ist veraltet – und das sollten wir überwinden. Entscheidungen über Abstimmungen zu treffen, ist kein guter Weg. Kennen Sie ein Unternehmen, in dem es Abstimmungen gibt? Es ist doch vielmehr so: »Oh, unsere Konkurrenten machen das. Wie reagieren wir darauf?« Wenn jemand in einem Unternehmen eine gute Idee hat, stimmt man nicht ab, sondern setzt sie um.
e: Eine letzte Frage: Welche positive Vision von DAOs überzeugt Sie am meisten?
GR: Meine optimistischste Vision für DAOs ist, dass sie die Infrastruktur, das »Nervensystem« und ein Kreislaufsystem schaffen, die es allen ermöglichen, ihre individuellen Handlungen mit ihren Werten in Einklang zu bringen. Und zwar eine Infrastruktur, die in der Lage wäre, Aufwärtsspiralen bei Qualitäten wie Entfaltung, Gesundheit, Zufriedenheit und gemeinsamen Werten zu messen. Das könnte es uns ermöglichen, unsere Grundbedürfnisse wie Wohnung, Nahrung und Gesundheit zu befriedigen, damit wir das tun können, was wir lieben.
¬ WIR HABEN DIE RESSOURCEN DER WÄLDER IN BITS UND BYTES AUF DIE BANKKONTEN DER WOHLHABENDEN UMVERTEILT. ¬