Freiheit statt Diät

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 21, 2016

Mit:
Sven Werchan
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AUSGABE:
Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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Essen als Weg zur Selbsterkenntnis

Essen ist etwas, das uns allen wichtig ist – ob wir es durch Diät und Fasten vermeiden wollen oder uns all der Delikatessen der Welt erfreuen. Aber nur wenige von uns denken so tief über Ernährung und Essen nach wie Sven Werchan, der als Arzt seinen Ansatz einer »Integralen Ernährung« entwickelt hat. Durch diese integrale Perspektive werden Ernährung und Essen zu einem überraschenden Weg zu einer erweiterten Wahrnehmung.

evolve: Wie bist du dazu gekommen, dich so intensiv mit dem Thema Ernährung zu beschäftigen?

Sven Werchan: Angefangen hat es mit eigenen Fastenerfahrungen. Ich war sehr überrascht über die Intensität dieser Erfahrung, die inneren Zustände und die Sensibilität, die ich erlebt habe. Das war nicht nur so in der Zeit, wo ich nichts gegessen habe, sondern auch danach erfuhr ich eine neue Feinfühligkeit gegenüber dem Essen. Ich habe dann regelmäßig gefastet und dabei hat sich mir die innere Welt, die Erlebnisebene der Ernährung erschlossen. Ich konnte wahrnehmen, was bestimmte Nahrungsmittel mit meiner Psyche machen, was in mir ausgelöst wird. Mir wurden auch die verschiedenen Rollen des Essens bewusst, zum Beispiel, wie es unseren Tag strukturiert, Räume sozialer Begegnung schafft oder wie Genuss Leib und Seele zusammenhält. Essen ist ja eine Schnittstelle, wo Äußeres zu innerer Erfahrung wird.

Als Mediziner habe ich im Studium relativ wenig über Ernährung gehört, aber diese Erlebnisdimension hat mich veranlasst, dem Essen anders zu begegnen, ihm Respekt entgegenzubringen. Ich kann mich erinnern, wie ich am sechsten Fastentag mit dem Fahrrad durch Berlin gefahren bin und all diese Gerüche wahrgenommen habe, die aus einer Imbissbude, einer Bäckerei, einem libanesischen Restaurant kamen. Diese Wertschätzung des Essens hab ich durch das Fasten empfangen, zugleich auch die Wahrnehmung innerer Klarheit und Reinheit, durch die man erlebt, wie uns schlechtes Essen auch stumpf machen kann.

¬ ES IST EIN GROSSER UNTERSCHIED, OB ICH WEISS, WAS FÜR MICH RICHTIG IST, ODER SPÜRE, WAS FÜR MICH RICHTIG IST. ¬

In den folgenden Jahren habe ich mich immer mehr mit Ernährung beschäftigt, Ausbildungen gemacht und verschiedene Projekte gestartet, u. a. 2003 in München die Fastenlounge. Mein Angebot umfasste eine individuelle und genussvolle Fastenbegleitung für Menschen, die nicht die Zeit hatten, sich eine ganze Woche aus ihrem Leben zurückzuziehen. Auf einer anderen Ebene in mir habe ich mich ab Mitte der 90er Jahre mit der integralen Theorie von Ken Wilber beschäftigt.

e: Du bietest Seminare zu »Integraler Ernährung« an. Was ist dir dabei wichtig?

SW: Schon in der Fastenlounge versuchte ich, den Widerspruch zwischen Genuss und Verzicht zu überwinden. Das Fasten zeigt uns, dass beides zusammengehört und in Balance sein sollte. Ein Großteil unserer ungesunden Ernährung kommt daher, dass wir zu sehr auf Lust fixiert sind, aber kaum wirklich genießen. Durch den Verzicht beim Fasten können wir neu lernen zu genießen. Das weiß jeder, der nach dem Fasten einen Apfel isst und den Eindruck hat, er würde ihn zum ersten Mal wirklich schmecken, mit einem ganzen Universum von Geschmäckern und Empfindungen. Dadurch kann sich auch der Geschmack selbst verändern. Wenn ich das Essen nur auf der Zunge schmecke, bleibt es sehr oberflächlich, wenn ich aber beim Essen meinen ganzen Leib spüre, dann habe ich viel mehr Wahrnehmungsmöglichkeiten für die Wirkung der Nahrung.

Durch die Verinnerlichung der integralen Theorie ging mein Fokus im Laufe der Zeit von der Ernährung mehr zum Akt des Essens selbst. Ernährung beschäftigt sich oft nur mit dem, was ich esse bzw. essen sollte. Das Essen selbst vereint sowohl den Aspekt der Nahrungsmittel, die ich esse, als auch mein inneres Erleben davon. Wie achtsam bin ich mit und beim Essen? Erlaube ich mir herzhaften Genuss? Wie viel Zeit nehme ich mir dafür? Ein weithin dunkles Feld unserer Ernährung sind außerdem die emotionalen Impulse unseres Essverhaltens. Hunger und Appetit sind ja die natürlichen Taktgeber unseres Essens, aber bei weitem nicht die Einzigen. Eine Menge innerer und äußerer Impulse können uns zum Essen anregen. Unangenehme Gefühle werden weggelutscht, der Ärger runtergeschluckt, Essen dient der Entspannung oder Belohnung. Eine große Rolle spielen bei all dem andere Menschen. Der Einfluss, den andere auf unser Essverhalten haben, ist den meisten kaum bewusst.

Und dann ist natürlich auch wichtig, wie die Nahrung produziert wird, und in welchen strukturellen Zusammenhängen sie entsteht. Auch die Art und Weise, wie und in welchem Bewusstsein Nahrungsmittel erzeugt wurden, kann ich mehr und mehr wahrnehmen lernen. Das trifft natürlich auch vor allem auf die Tierhaltung zu. Meine Achtsamkeit kann sich aber auch bis auf die Welt erweitern, aus der meine Nahrung kommt, und damit im Prinzip den ganzen Planeten einbeziehen. Eine integrale Ernährung betrachtet all diese Perspektiven auf das Essen und eröffnet einen Weg, mir dessen bewusster zu werden. Dann können wir das Wahre (gesunde Nahrungsmittel), das Gute (Achtsamkeit für die Herkunft der Lebensmittel) und das Schöne (Genuss und Freude) des Essens neu integrieren.

e: Wie hilfst du den Menschen, diese Bewusstheit zu entwickeln?

SW: Das Essen ist ja ein unglaublich intimer Akt, in dem wir uns mit der Welt vereinigen, die Welt in unser Inneres einladen. Wir sind, was wir essen. Jedes Molekül unseres Körpers war vorher ein Lebensmittel. Das ist zunächst mal nur eine Information, aber die Frage ist, ob das auch zu einer erlebten Erfahrung wird. Durch einen bewussteren Umgang mit Ernährung können wir eine Klarheit der inneren Wahrnehmung entwickeln, die uns dann auch sensibler macht für Nahrung, die uns nicht guttut. Das ist weniger eine Frage von Disziplin, als von Bewusstheit und energetischer Wahrnehmung. Es ist ein großer Unterschied, ob ich weiß, was für mich richtig ist, oder spüre, was für mich richtig ist. Hier geht es also um eine Bewusstseinserweiterung im Sinne einer erweiterten Wahrnehmung. Mir ist es wichtig, das Thema Ernährung nicht moralisch zu behandeln und sich an irgendwelche Regeln zu halten, sondern in die eigene gelebte Erfahrung zu bringen. Es geht mehr um allgemeine Prinzipien im Umgang mit dem Essen. Dann brauche ich keine Regeln mehr, und das eröffnet mir eine neue Freiheit und Unabhängigkeit im Umgang mit dem Essen. Es entspringt einem inneren Bedürfnis, wobei ich auch weiß, dass ich es nicht immer voll umsetzen kann.

e: Was hältst du von der Vielzahl von Ernährungstrends, von Makrobiotik bis Rawfood?

SW: Ich glaube, es gibt keine Ernährung, die für alle passt. Schon durch unsere genetische und epigenetische Ausstattung gibt es große Unterschiede. Mir geht es um eine Individualisierung des Essens. Ich gebe keine Regeln vor, sondern führe mit den Menschen einen dialogischen Prozess, um sich selbst besser sehen zu können. Entscheidend ist für mich dieses neue Sehen in Zusammenhang mit dem Essen und den eigenen Gewohnheiten. Wenn ich einen Schritt zurücktrete und mich als essenden Menschen betrachte, was sehe ich da eigentlich? Was esse ich? Wie gehe ich mit Gelüsten oder Hunger um? Esse ich aus Frust oder Langeweile? In unseren Seminaren machen wir eine Übung, bei der wir die Teilnehmer bitten, ihre Lieblingssüßigkeit mitzubringen, vor sich hinzulegen und jedes Mal, wenn sie danach greifen wollen, zu fragen, woher dieser Impuls kommt. Die Erkenntnis entsteht dann aber nicht aus einer moralischen Vorgabe, sondern aus der eigenen Erfahrung und Introspektion. Dann kann das Essen zu einem Prozess der Selbsterkenntnis werden, denn wir essen ja unser Leben lang, lassen aber diese Möglichkeit, unser Bewusstsein zu verfeinern, meist ungenutzt.

Author:
Mike Kauschke
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