Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 5, 2021
Ältere Damen im Knast? In Japan vervierfachte sich in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Straftaten, die von Frauen über 65 Jahren begangen wurden. Das verwundert, ist doch der häufigste Täter generell jung und männlich. Eine empirische Studie löste das Rätsel. Eine große Zahl weiblicher Insassen gab an, absichtlich Bagatelldelikte in Serie begangen zu haben, um ins Gefängnis zu kommen. Warum? Um der Isolation eines häuslichen Single-Daseins zu entkommen.
Mit überraschenden Anekdoten, vor allem aber mit der Auswertung vieler Sozialstudien zeigt die britische Ökonomin Noreena Hertz: Einsamkeit ist mehr als ein Gefühl. Es ist ein existenzieller Zustand, der strukturelle Ursachen hat und weitreichende persönliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Folgen. Er drückt sich in unterschiedlichen Facetten aus; die Menschen fühlen sich ausgeschlossen, nicht wahrgenommen, unsichtbar, isoliert, unverbunden.
Die Autorin räumt mit einem zweiten, weitverbreiteten Vorurteil auf: dass Einsamkeit nur oder vor allem alte Menschen betreffe. Mehr als einer von fünf sogenannten Millenials in den USA sagt, er habe überhaupt keine Freunde; ein Viertel aller Schweden gibt an, häufig einsam zu sein, in den Niederlanden ist es sogar ein Drittel der Bevölkerung.
Vom »Zeitalter der Einsamkeit« zu sprechen, ist keine pathetische Übertreibung. Denn das beschriebene Phänomen ist die direkte Folge des turbo-kapitalistischen und des digitalen Zeitalters. Das Credo des Neoliberalismus, jeder sei auf sich gestellt und für seinen eigenen Lebenserfolg verantwortlich, wirkt trennend, es zersetzt Solidarität, es zerschneidet emotionale Netzwerke. Sozialer Zusammenhalt leidet unter dem Jeder-gegen-jeden-Konkurrenzdenken. Viele westliche Gesellschaften erleben sich in Interessengruppen gespalten und fragmentiert; die Gräben zwischen den Nutznießern des neoliberalen Wirtschaftskampfes und den Abstiegsängstlichen und Abgehängten vertiefen sich.
EINSAMKEIT IST MEHR ALS EIN GEFÜHL.
Digitale Netzwerke können Menschen verbinden, das sieht die Autorin durchaus. Sie zeigt aber eindrücklich, dass insbesondere die großen Social-Media-Plattformen unterm Strich verheerende Wirkungen für Gemeinschaftsgefühl und Verbundenheit haben. Das von Algorithmen gesteuerte Modell ihrer Interaktionen zwischen den Nutzern macht süchtig: nach Bestätigung, nach dem schnellen Like, nach der kleinen Euphorie, die entsteht, wenn das Gehirn mit dem Ausstoß von Dopamin auf Herzchen, Smileys und Retweets von anderen reagiert. Hertz sieht dasselbe hohe Suchtpotenzial wie das von Tabak. Im Durchschnitt schauen wir 220-mal täglich auf unser Handy. Das summiert sich auf eine Nutzungsdauer von knapp 1200 Stunden pro Jahr. Zeit, die wir weniger mit unseren Partnerinnen, Kollegen und Verwandten verbringen. Insbesondere Kinder und Jugendliche sind gefährdet. Einer von acht Briten hat laut Umfragen nicht einen einzigen guten Freund, auf den er sich verlassen kann; das sind deutlich mehr als früher. Social Media? Asoziale Medien!
Die in der sogenannten Gig-Economy Arbeitenden (Fahrer, Lieferanten, Putzhelfer, die kleine Aufträge erledigen) sind auf sich gestellt. Gewerkschaftliche Organisation kennen sie kaum. Getrieben von der großen Drift der Rationalisierung fallen immer mehr Gelegenheiten für zwischenmenschlichen Kontakt weg. Kundendienst wird von Künstlicher Intelligenz versehen, statt in örtlichen Geschäften kaufen immer Menschen online, Coffee to go tritt an die Stelle von Kaffeehausgesprächen. Überhaupt das Tempo: Sogar die Laufgeschwindigkeit hat in Städten seit den frühen Neunzigerjahren im Schnitt um zehn Prozent zugenommen. Hast und Hektik verhindern menschliche Kontakte.
Corona spitzt die Einsamkeitskrise zu. Unsere Verletzlichkeit tritt offen zutage, das Lähmende und Trennende von »social distancing«, das isolierte Leben und Sterben hinter Plexiglaswänden. Aber die Ursachen liegen tiefer und reichen weiter als die aktuelle Pandemie. Aufgrund weltweiter Recherchen zeigt die Autorin, wie die vorherrschende Wirtschaftsweise, massive Landflucht und die zunehmende Digitalisierung die Menschen isoliert und krank macht. Sie weiß empirische Befunde einprägsam zuzuspitzen: Einsamkeit sei genauso schädlich für die Gesundheit wie 15 Zigaretten am Tag. Und für Gefühle von Verbundenheit, Empathie und Solidarität ist sie tödlich wie die Pest.
Auf der Suche nach Lösungen übersieht Noreena Hertz die vielen gemeinschaftsstiftenden Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die es bereits gibt. Aktive Nachbarschaften, ehrenamtliches Engagement in Vereinen (das in den letzten Jahren zugenommen hat), reaktivierte Dorfgemeinschaften, Dialogkreise. Gemeinschaft von unten.
Die Autorin setzt vielmehr auf den Staat. Er solle suchtfördernde Social Media eingrenzen, vor allem junge Menschen davor schützen; ein verpflichtender Sozialdienst könne eingeführt werden; eine »Infrastruktur der Gemeinschaft« müsse gefördert werden, reale Orte, an denen die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen können, nicht-kommerzielle Veranstaltungen, die von Teilhabe und Inklusion geprägt sind. Ihre aufstörende Zeitanalyse endet mit einem flammenden Appell, der sich dann doch an uns alle richtet: »Das Gegenmittel für dieses Zeitalter der Einsamkeit kann letztlich nur darin bestehen, dass wir für andere da sind – ganz gleich, wer diese anderen sind.«