Gelebte Visionen

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Kolumne
Publiziert am:

January 23, 2023

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Ausgabe 37 / 2023
|
January 2023
Re-Generation
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Wir merken zunehmend, dass unsere Kultur mit ihren Werten und ihrem Umgang mit unserer lebendigen Mitwelt an ihre Grenzen kommt. Und immer mehr Menschen fragen sich, durch welche Transformation wir gehen müssen, um unsere Welt für alle lebensfähig zu erhalten. Wir haben vier Vordenker und Aktivistinnen des regenerativen Wandels gefragt:

Wie könnte eine regenerative Kultur aussehen?




Thomas Schindler, Innovationsdesigner an der Schnittstelle von Regeneration und Softwareentwicklung.

Jeremy Lent legt in seinem Buch »The Patterning Instinct« eloquent dar, wie Werte die Kultur erzeugen und Kultur die Zukunft erzeugt. Es ist schwer zu übersehen, dass es nicht besonders gut um unsere Zukunft bestellt ist – und im Umkehrschluss auch nicht um unsere Werte. Der Kernwert, über den wir Erfolg in allen Dimensionen unserer Gesellschaft messen, ist Wohlstand. Wohlstand an sich ist nichts Schlechtes, aber es scheint, als wären wir einer kollektiven Illusion erlegen, indem wir ihn über Geld oder materielle Äquivalente von Geld wie große Autos, Häuser und Handys messen.

In einer regenerativen Kultur ist die Definition von Wohlstand nicht ein Symptom des Systems, sondern ein aktiv gestalteter Wert, geprägt von einem kohärenten Pluralismus zwischen den Bedürfnissen der Individuen und des Kollektivs. Eine Wohlstandsdefinition, die von einem gedeihlichen Leben ausgeht, wird entsprechend auch Symptome erzeugen, die ein gedeihliches Leben fördern.

Eine regenerative Kultur ist geprägt vom Mut, kollektive Illusionen zu sprengen und Räume zu öffnen, sich verletzlich zu zeigen, sich als Mensch zu zeigen. Sie ist geprägt von gegenseitigem Respekt und Achtung, sie ist eine Kultur von Achtsamkeit und Liebe. Auch wenn es in manchen Ohren so klingt, ist sie keine hippie-esque Fantasie, sondern das Fundament eines guten Lebens.

Pamela Mang, Leiterin und Gründungsmitglied von Regenesis Institute for Regenerative Practice.


Bei der regenerativen Entwicklung gehen wir von der Prämisse aus, dass die Kraft der Regeneration darin besteht, die Fähigkeit lebender Systeme zu stärken, die sich aus sich selbst heraus weiterentwickeln – und so als Katalysator für die kontinuierliche Co-Evolution des Lebens in den Systemen und ihrer Umgebung dienen. Diese Rolle wurde bereits von den ersten Menschen verstanden. Im Streben der Menschheit nach immer leistungsfähigeren materiellen Technologien ist der Sinn dafür aber verloren gegangen.

Aus dieser Perspektive betrachtet zeichnet sich eine regenerative Kultur nicht durch eine Reihe von Artefakten oder Merkmalen aus, sondern ist vielmehr ein fortlaufender Entwicklungsprozess, der sich im Laufe der Zeit selbst offenbart. Wir können diesen Entwicklungsprozess an dem erkennen, wofür eine regenerative Kultur Energie aufwendet und wie sie die folgenden Prioritäten setzt:

Erstens die Bemühungen, den Einfluss des Menschen auf lebende Systeme als förderliche Quelle der Heilung und Regeneration bewusst zu erhöhen (gegenüber den notdürftigen Bemühungen, den Einfluss des Menschen zu mini­mieren). Zweitens ein proaktives Arbeiten, um die Entwicklung der einzigartigen Essenz eines jeden – menschlichen und mehr-als-menschlichen – Individuums zu gewährleisten und die persönliche Handlungsfähigkeit im Ausdruck dieser Essenz freizusetzen, um neues wertschöpfendes Potenzial für menschliche und natürliche Systeme zu schaffen. Und drittens die Verbindung der Freiheit, die sich aus der Selbstverwirklichung ergibt, mit der Verantwortlichkeit und der Fürsorge für das Ganze, das aus der Verwirklichung des Systems entsteht.

Prof. Anne Poelina, Gemeindeleiterin, Aktivistin, Filmemacherin und Wissenschaftlerin.

Als australische Ureinwohnerin wurde ich in eine regenerative Kultur hineingeboren. Doch dieser Frieden wurde zerstört, als meine Urgroßmutter aus ihrem Land vertrieben wurde, als ihr Stamm massakriert wurde. Er wurde Opfer einer Invasion von Siedlern, die von Vorstellungen wie »Spalte und herrsche«, Manipulation und Eroberung sowie einer Pädagogik der Unterdrückung geprägt waren.

Vor dieser kolonialen Invasion hatte meine Urgroßmutter wie unzählige Generationen vor ihr in einer regenerativen Kultur gelebt, das heißt, in einer tiefen Beziehung zu unserer mehr-als-menschlichen Familie, unserem Land und den lebenden Gewässern. Dies bedeutet, eine Welt, in der das Land und die Natur uns die ihnen innewohnenden Gesetze der Koexistenz, des Friedens und der Harmonie vermitteln. Eine Welt der Beziehungen, der Gegenseitigkeit, des Vertrauens und des Respekts mit allem, was uns umgibt. Eine Welt, in der uns die Gesetze des Landes tugendhafte Werte, einen Ethos, einen Verhaltenskodex beibringen. Eine Welt, in der uns Tiere, Vögel und sogar der Wind Geschichten darüber erzählen, was es bedeutet, ein »guter und anständiger Mensch« zu sein. Eine regenerative Kultur biokultureller Rechte, die auf einem moralischen Schuldrecht beruht. Eine regenerative Kultur des Vertrauens, der Gegenseitigkeit und einer lebenslangen Praxis des verantwortungsvollen Handelns. Eine Lebensweise, bei der die Identität einer Gemeinschaft, ihre Kultur, ihre Spiritualität und ihr Führungssystem untrennbar mit ihrem Land, ihren lebenden Gewässern und ihren Menschen verbunden sind.

Ich engagiere mich in dieser Arbeit zusammen mit anderen in dem Bewusstsein, dass wir in einer komplexen Welt leben und kollektive Weisheit brauchen. Wir legen Wert auf eine Ethik der Fürsorge und glauben, dass unser altes Wissen, unsere Kultur, unsere Künste und unsere Wissenschaft wichtig für unser Leben und unsere Lebensweise sind, aber auch für die langfristige Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen in unseren Regionen und auf der ganzen Welt. Das Überleben der Menschheit erfordert die Wiederherstellung einer regenerativen Kultur, die einen transformativen Wandel fördert, indem sie tiefgreifende strukturelle Eingriffe, systemische Hindernisse und Hebelpunkte in den derzeitigen Systemen der Entscheidungsfindung in Angriff nimmt.


Jenny Andersson, Systemdenkerin, Beraterin und Ausbilderin im The Really Regenerative Centre.

Eine regenerative Kultur heilt die Geschichte der Trennung, die das westliche Denken so lange beherrscht hat. Sie befähigt die Menschen, das Interbeing – das wechselseitige Verbundensein allen Seins – zu erkennen, zu verstehen und zu verkörpern. Wir stellen den Einklang mit den mehr-als-menschlichen Lebenssystemen um uns herum, mit der Natur wieder her und agieren in co-kreativer Partnerschaft, um sicherzustellen, dass die Bedingungen, die dem Leben förderlich sind, auf der Erde weiterbestehen können.

Dabei wird das Leben in den Mittelpunkt der Gestaltung und Entscheidungsfindung gestellt. Miteinander finden wir Wege, die Grenzen des Denkens zu überschreiten, die eine toxische Hierarchie in den von Menschen entwickelten Wirtschafts- und Kulturkonzepten hinterlassen haben – und ermöglichen stattdessen radikale Gleichheit.

Ich bin nicht mehr größer als du, du bist nicht mehr kleiner als ich. Wir verpflichten uns selbst, ein besseres Verständnis für unser Selbst, für andere und für die Systeme, in denen wir leben und arbeiten, zu entwickeln. Innere Arbeit ist unerlässlich, um die Beschränkungen der menschlichen Un-Bewusstheit zu überwinden.

Die innere Arbeit ermöglicht die äußere Arbeit. Ohne sie bleiben wir in einem destruktiven Kreislauf aus ungelösten Traumata, Angst, Wettbewerb und Mangel gefangen. In einer regenerativen Kultur werden Organisationen so konzipiert, dass sie geschädigte natürliche Systeme heilen und wissen, wie sie ihre Produkte und Dienstleistungen so gestalten können, dass sich diese wiederhergestellten Systeme aus sich selbst heraus regenerieren können. Die Menschen, die in einer regenerativen Kultur arbeiten, werden in ihrem wahren Wesen erkannt und können ihr höchstes Potenzial einbringen. Organisationen werden so gestaltet, dass das zentrale Ziel das Leben selbst ist – nicht anstelle von Profit, sondern vor jedem Profit. Volkswirtschaften werden auf der Grundlage des einzigartigen Beitrags, den ihre Region zur Widerstandsfähigkeit und Lebendigkeit leisten kann, gestaltet – nicht für ein exponentielles extraktives Wachstum, sondern für evolutionäres Wachstum.

Author:
Thomas Schindler
Author:
Pamela Mang
Author:
Anne Poelina
Author:
Jenny Andersson
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