Gemeinschaften, in denen Zukunft keimt

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 23, 2023

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Ausgabe 37/2023
|
January 2023
Re-Generation
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Labore einer regenerativen Kultur

In Gemeinschaften und Netzwerken finden sich Menschen zusammen, um eine regenerative Kultur zu verwirklichen. Eine Spurensuche zu den Herausforderungen und Möglichkeiten regenerativer Gemeinschaften und der Frage, was »regenerativ« eigentlich ganz praktisch bedeuten kann.

Die Vision einer regenerativen Kultur zeigt sich nicht nur in neuen Formen des Umgangs mit der Erde, sondern auch in regenerativen Gemeinschaften und Netzwerken. Was sind die Merkmale solcher Gemeinschaften? Wo zeigen sich hier Qualitäten einer neu entstehenden regenerativen Kultur? Um diesen Fragen nachzugehen, sprach ich mit vier Menschen, die in regenerativen Gemeinschaften vernetzt sind, darin leben oder solche gründen wollen. Lennart Hennig, der mit Freunden eine Gemeinschaft auf den Azoren gründen will, Stefanie Raysz, die im Ökodorf Tempelhof lebt, Theresa Fend, die bei Extinction Rebellion (XR) tätig war und heute Gemeinschaften berät, und Bart Hoorweg, der mit Gaianet eine Plattform aufbaut, die regenerative Gemeinschaf­ten weltweit vernetzt und unterstützt. Dabei zeigte sich eine Art Signatur des Regenera­tiven in einer tiefen Beziehung zur Erde, in der inneren Entwicklung, in den Kom­munikationsprozessen des menschlichen Miteinanders und dem Verständnis, Teil einer evolutionären Bewegung und einer neuen lebensförderlichen Kultur zu sein.

Eine tiefe Beziehung zur Erde

Wenn man Lennart Hennig zuhört, spürt man die Aufbruchskraft der regenerativen Vision. Er hat als Unternehmensberater gearbeitet und Organisationen beim Übergang zur Selbstführung begleitet, hat sich mit integraler Theorie beschäftigt, mit Persönlichkeitsentwicklung, Schattenarbeit, Spiritualität, Permakultur, Praktiken der bewussten Verkörperung. Ähnliches lässt sich auch von meinen anderen Gesprächspartnern sagen. Menschen, die sich in regenerativen Projekten engagieren, verbinden in sich ein Interesse an Bewusstseinsentwicklung und Ansätzen, die einen co-kreativen Umgang mit anderen Menschen und der Erde eröffnen. Zusammenarbeit statt Konkurrenz, ein integraler, ganzheitlicher Blick statt Fragmentierung in verschiedene Denksilos. Individueller Ausdruck, in dem wir uns unserer wechselseitigen Verbundenheit mit allem Lebendigen bewusst werden.

Lennart fand in Berlin andere Menschen, die solch ein Bewusstsein der Verbundenheit ganz konkret leben wollen. Es reifte die Vision, eine Gemeinschaft zu gründen, und sie fanden ein Grundstück auf den Azoren, auf dem ein regeneratives Dorf entstehen soll. Er ist sich bewusst, dass sein Projekt ein neu gefasster Ausdruck eines gemeinschaftlichen Impulses ist, der in den vielen Ökodörfern weltweit schon seit vielen Jahren erprobt wird. Auch dort versteht man das eigene Tun als regeneratives Sein mit der Erde, und ein lebensfördernder Umgang mit dem Boden spielt eine zentrale Rolle.

Den Unterschied zwischen neuen regenerativen Projekten und dem Ansatz vieler Ökodörfer sieht Lennart zunächst in einer heute möglichen Synthese vieler ganzheitlicher Denk- und Praxisansätze. Zudem sieht er in früheren Gemeinschaftsgründungen eine Haltung, in der sich Menschen zusammenfanden, um eine Alternative zu einem als zerstörerisch wahrgenommenen System zu leben. Das kam oft aus einem Bewusstsein des »Wir gegen die anderen«. Lennart möchte sein Projekt als ein »Wir mit den anderen« verstehen. »Wir sind nicht von der gegenwärtigen ausbeuterischen Kultur abgetrennt, wir wollen ein lebendiger Organismus sein, der innerhalb dieser Kultur wächst, sie beeinflusst, mit ihr im Austausch ist und sie zum Lernen anregt.« Aber auch in bestehenden Ökodörfern wie Tempelhof zeichnet sich ein ähnlicher Wandel ab. »Wir müssen uns immer wieder fragen: Leben wir in einer Blase? Sind wir noch gesellschaftskompatibel? Bilden wir eine utopische Alternative oder ein Reallabor?«, reflektiert Stefanie.

¬ DIE REGENERATIVEN GEMEINSCHAFTEN SEHEN SICH ALS LABORE EINER NEUEN LEBENSDIENLICHEN KULTUR. ¬

Moralische Intimität

Eine regenerative Kultur ist mehr als ein neues aktivistisches Projekt oder Modell von der Transformation der Welt, es spricht auch einen inneren Wandel an. Dass solch eine innere Veränderung notwendig ist, zeigt sich spürbar, wenn Menschen sich zusammenfinden, um in konkreten Projekten und Netzwerken eine neue Kultur zu erproben.

Theresa fand in ihrer Arbeit bei XR schnell heraus, dass es Schattenseiten des Aktivismus gibt, auf die sie Antworten suchte. Sie war im Global Support Team aktiv, das weltweit XR-Initiativen unterstützt. Dort erfuhr sie, dass Burnout unter Aktivisten sehr verbreitet ist, »weil so viel auf dem Spiel steht und die Menschen sich sehr schnell verausgaben«. Theresa beschäftigte sich deshalb damit, wie Somatik und die Funktionen unseres Nervensystems mit kollektiven Verhaltensmustern zusammenhängen und Stressreaktionen verarbeitet werden können. Dazu gehört auch, einen Rhythmus zu finden zwischen Ruhe und Aktivität, der die innere und gemeinschaftliche Resilienz unterstützt. Essenziell ist für sie dabei »die Fähigkeit, mit der Lücke zu leben, dass regenerative Kulturen ein Ideal sind, das wir nicht von heute auf morgen umsetzen werden, aber auf das wir uns gemeinsam zubewegen können. Trotz Fehlschlägen kann ich Kraft daraus ziehen, im Einklang mit meinen Überzeugungen zu leben. Und wichtig ist auch die Fähigkeit, Spaß zu haben, das Leben feiern zu können, Kreativität und Humor wertzuschätzen.«

Bei Gaianet gibt es die Praxis, dass jeder im Team ein persönliches Manifest erstellt, in dem er oder sie den eigenen Traum für das Projekt formuliert und die Talente und Fähigkeiten, die man einbringen möchte. »Für jeden und jede ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, wer man ist, warum man hier ist, was man einbringen kann und was man braucht, um wirklich co-kreativ zusammenarbeiten zu können«, erklärt Bart.

Auch in der regenerativen Gemeinschaft, die Lennart gründen will, soll menschliche Entwicklung im Zentrum stehen: »Wo sind die blinden Flecken, die verhindern, dass wir in ein regeneratives Paradigma hineinkommen? Dabei ist es für uns besonders wichtig, unsere Beziehung mit dem Tod zu überdenken und neu zu gestalten.« Für Lennart ist regenerativ keine Steigerung von nachhaltig, sondern etwas qualitativ anderes. »Wir erkennen darin unsere wechselseitige Abhängigkeit vom gesamten Ökosystem, in dem sich das Leben durch Kreisläufe bewegt. Es kann nur in Vitalität funktionieren, wenn Schöpfung und Zerstörung in Harmonie sind.« Deshalb sollen in dem regenerativen Dorf Geburt und Sterben gleichermaßen mitten in der Gemeinschaft geschehen.

Das Denken in Kreisläufen und die Er­­fahrung, darin aufeinander bezogen zu sein, ist auch in Schloss Tempelhof eine wichtige Orientierung. Stefanie kennt die Ermü­dungserscheinungen, die zu Burnout führen, weshalb die personale Regeneration für sie eine ständige Lebenspraxis ist. »Dazu ist es immer wieder wichtig herauszufinden, wo ich selbst stehe: Unter welchen ›moralischen‹ Prämissen lebe ich eigentlich?« Für diese Selbstbesinnung braucht es aber den Austausch mit den anderen, ist sie sich sicher. »Achtsamkeit ist nicht genug, ich muss über die Innenschau hinausgehen, weil ich darin in meinen gewohnten, möglicherweise trauma- oder egozentrierten, selbstzerstörerischen Strukturen bleiben kann. Ich brauche die Außenschau auf meine Innenschau. So entsteht hoffentlich eine wohlwollende Intimität, in der ich mich vergewissern kann: Bin ich auf dem richtigen Pfad mit meinen Werten?« Denn eine gemeinsame Wertebasis ist für Stefanie die Grundlage jeder Gemeinschaft.

Persönlichkeitsentwicklung und Ansätze der Resilienz sind nicht neu, das Besondere am Regenerativen ist vielleicht, dass die eigene innere Entwicklung stärker im Kontext der kulturellen Entwicklung verstanden und praktiziert wird. Das Ziel ist also nicht die Selbstoptimierung, sondern die Selbstevolution und Co-Evolution zu einer Lebensweise, die schöpferisch dem Ganzen dient und dabei auch Wege findet, die Lebendigkeit im eigenen Wesen immer wieder zu erneuern und zu intensivieren – nicht nur ein nachhaltiges Bewahren, sondern die ständige Entfaltung innerer Potenziale als eine Antwort auf die Krisen der gegenwärtigen Kultur.

Konflikte als Möglichkeit

Auch im menschlichen Miteinander erproben regenerative Gemeinschaften neue Formen. In Tempelhof gibt es Treffen der ganzen Gemeinschaft, in denen jeder eine Stimme hat und gehört wird. Entscheidungen werden in mehrstufigen Konsensprozessen getroffen. Gleichzeitig gibt es auch Kom­petenzhierarchien, in denen Menschen, die in einem Thema stärker eingearbeitet sind, mehr Verantwortung tragen.

Es scheint ein Merkmal regenerativer Gemeinschaften zu sein, die Bedeutung von Hierarchien neu anzuerkennen. Also nicht mehr nur die Erkenntnis, dass wir alle gleich sind und deshalb bei allem Mitsprache erhalten, sondern die Einsicht, dass es eben auch Unterschiede in unseren Fähigkeiten und Kompetenzen gibt, die neu wertgeschätzt werden können. »Der gesamte Kosmos organisiert sich in Komplexitätshierarchien«, erklärt Lennart, »das müssen wir abbilden, so dass es lebensbejahend ist und dem Projekt nützt, und wir müssen aufpassen, wo es missbraucht wird, um persönliche Präferenzen durchsetzen zu können und Macht auszuüben.«

Ein weiteres Merkmal regenerativer Projekte scheint ein schöpferischer Umgang mit Konflikten zu sein. Für Theresa, die in ihrer internationalen Arbeit mit XR Auseinandersetzungen um gleichberechtigte Teilnahme erlebte, sind Konflikte immer auch Wachstumschancen. Deshalb hat sie sich mit transformativer Konfliktlösung, aktivem Zuhören und gewaltfreier Kommunikation beschäftigt, die sie in Workshops weitergibt. Auch Bart sieht diese transformative Kraft von Konflikten: »Überall wo Spannung, Konflikt oder Schmerz ist, sehen wir ein Entwicklungspotenzial«, erklärt er.

Im Team von Gaianet gibt es verschie­dene Meeting-Formate, die dem Ansatz der Holakratie entsprechen, einer Organi­sationsstruktur, die durch verschiedene Kreise Selbstführung in Unternehmen ermöglicht. Viele regenerative Projekte nehmen hier Impulse aus der Selbstorganisation, wie sie Frédéric Laloux in »Reinventing Organi­sations« beschrieben hat, auf und entwickeln sie weiter. Viele der Akteure kommen auch aus neuen Arbeitsformen, die sich in Digital Nomads, dezentralen Organisationen oder der Start-up-Kultur zeigen.

¬ EINE GEMEINSAME WERTEBASIS IST DIE GRUNDLAGE JEDER GEMEINSCHAFT ¬

Für Bart ist eines der wichtigsten Treffen das Resonanz-Meeting, in dem alle miteinander teilen können, was gerade auf emotionaler oder seelischer Ebene in ihnen vorgeht. So wird eine gemeinsame Ausrichtung aus dem Herzen möglich. Diese ständig erneuerte gemeinsame Ausrichtung, die sich auch auf den größeren Sinn des Projekts bezieht, ist der lebendige Kern der Gemeinschaft.

Für seine neu entstehende regenerative Gemeinschaft setzt auch Lennart auf eine gelebte Beziehungserfahrung. »Wir wollen nicht in der Kultur der Verdrängung weitermachen, wo unsere Fassaden miteinander interagieren, sondern wir wollen uns in unserer Ganzheit begegnen und unsere Themen miteinander offen bearbeiten.« Dazu wird es Kreisarbeit geben, Community Circles und Dialogarbeit. Regenerative Gemeinschaften nehmen hier Kommunikationsformen auf, wie sie sich in neuen Wir-Praktiken wie Circling, Counceling oder Emergent Dialogues entwickelt haben.

So kann sich eine »kollektive Weisheit« zeigen, die Stefanie immer wieder erlebt. Diese braucht aber wache Individuen, »denn auch ein mit Vielen entstehender Gleich­-klang kann fehlgeleitet sein«. Die Wertschätz­ung individueller Einzigartigkeit bei gleichzeitigem Einlassen auf synergetische Wir-Prozesse scheint ein weiteres Merkmal regenerativer Projekte zu sein.

Dabei wird gleichzeitig sowohl mit der Qualität der bewussten Kommunikation experimentiert als auch mit neuen Strukturen der Führung und Kommunikation. Auch darin zeigt sich ein Bewusstsein für die Integration inneren Erlebens und systemischer Prozesse bis hin zu einem anderen Umgang mit Geld und Eigentum.

In Lennarts Projekt gibt es einen Steward Circle, in dem die Gründer organisiert sind und die Ausrichtung an der Vision sichern. Es gibt darin aber auch offene Plätze, in die Mitglieder der Gemeinschaft gewählt werden können. Die Stewards sind auch diejenigen, die ihre finanziellen Ressourcen völlig in das Projekt geben, das sich ohne äußere Investitionen oder Bankkredite allein aus den Mitteln der beteiligten Menschen finanzieren will. Dem extraktiven, nicht regenerativen Umgang mit Geld und Eigentum soll eine Alternative aufgezeigt werden: Menschen können Tickets für das Projekt erwerben, die es in verschiedenen Preislagen geben wird, um vielen Menschen den Zugang zu ermöglichen. Egal, wie viel man investiert, alle haben die gleichen Rechte und Pflichten – und das gleiche Risiko. Denn wenn man das Projekt wieder verlässt, erhält man nichts zurück, alle Investitionen bleiben im Dorf.

Eine gemeinschaftliche Zivilisation

Die regenerativen Gemeinschaften sehen sich als Labore einer neuen lebensdienlichen Kultur. Bart bezeichnet es als »gemeinschaftliche Zivilisation«. Es gibt bereits ein weltweites Netzwerk solcher neuen kulturellen Impulse, die neue Potenziale menschlicher Entwicklung erforschen. Dabei schöpfen sie aus vielen Entwicklungen in Selbstorganisation, Trauma-Arbeit, Tiefenökologie, integralem und metamodernem Denken, Stressregulation, Körpererfahrung, Achtsamkeit, Meditation, Kreis- und Dialogarbeit, gewaltfreier Kommunikation, neu entdecktem indigenen Wissen, Permakultur und Agrokultur und vielem mehr. Man könnte sagen, die Bewusstseinsarbeit der letzten Jahrzehnte findet in regenerativen Gemeinschaften eine Art Kulmination, eine neue Synthese, die sich auch ganz praktisch manifestiert und in Zeiten des Internets auch weltweit verbunden ist. Die Nutzung dezentraler Netzwerke auch mit den Möglichkeiten des Web3 wie Kryptowährungen verbindet viele regenerative Projekte. Zudem experimentieren sie auch auf systemischer und struktureller Ebene mit neuen Umgangsformen mit Macht, Entscheidungsfindung, Geld, Wirtschaftsprozessen und Eigentum.

¬ DIE BEWUSSTSEINSARBEIT DER LETZTEN JAHRZEHNTE FINDET IN REGENERATIVEN GEMEINSCHAFTEN EINE NEUE SYNTHESE. ¬

Und so verschieden die Gemeinschaften und die Beteiligten sind, es wird eine regenerative Signatur sichtbar, die gerade im Entstehen ist. Darin findet der Mensch zum Bewusstsein seines Eingebettetseins in die lebendige Erde als schöpferischen Prozess, erfährt sich selbst als sich entwickelndes Wesen, in dem sich neue Potenziale und Fähigkeiten entfalten. Und das geschieht in einem Bewusstsein, dass wir nur zusammen, in Kooperation und Co-Kreation auf die gegenwärtigen Krisen antworten und so eine Kultur schaffen können, die dem Leben dient.

Author:
Mike Kauschke
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