Genossenschaft neu

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

January 23, 2023

Mit:
Thomas Hann
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AUSGABE:
Ausgabe 37 / 2023
|
January 2023
Re-Generation
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Miteinander die Welt gestalten

Unser Wirtschaftssystem lebt von fremden Ressourcen. Alles wird hier zu Geld. Die neu entstehenden regenerativen Genossenschaften leben ganz andere Werte. Und sie finden Wege, damit Wirtschaft zu gestalten. Thomas Hann spricht über die Neugeburt der Genossenschaft.


evolve: Du arbeitest schon lange Zeit mit regenerativen Genossenschaften. Wie kommst du dazu?

Thomas Hann: Schon seit 20 Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Genossenschaften. Dieses Interesse entstand aus einer persönlichen Existenzkrise. Ich studierte Betriebswirtschaftslehre, wurde aber immer unzufriedener. In der Idee der Genossenschaften fand ich etwas, das den moralischen, ökonomischen und menschlichen Aspekt verbinden kann. Der Sprung zur regenerativen Genossenschaft war für mich wie ein Durchbruch. Ich verstand, dass wir jenseits der jetzigen Wertschöpfung denken müssen, in der es nur darum geht, der Erde etwas zu nehmen. Die kapitalistische Logik dreht sich um die Ausbeutung von Ressourcen, die automatisch zu Konkurrenz führt. Die kooperative, genossenschaftliche Logik legt den Schwerpunkt auf das, was wir gestaltend in die Welt hineingeben, was zu Kooperation und Verbundenheit führt. Denn egal, wie viel Geld ich habe, es bringt mir nichts, wenn ich in einer lebensfeindlichen Umgebung lebe, wenn unsere Umwelt, unsere Stadt oder unser Dorf nicht mehr lebendig ist.

Ein konkretes Beispiel: Ich sitze hier im Hofgut Leo in Gresgen, das war ein Seminarhotel in den Räumen des alten Dorfgasthauses. Das Gasthaus des Dorfes war 30 Jahre für die Dorfbewohner nicht zugänglich, Menschen aus Berlin, München und ganz Deutschland haben hier ihre Seminare abgehalten. Die Leute aus dem Dorf konnten hier nicht mal einen Kaffee trinken, obwohl das Haus im Herzen des Dorfes steht. Bei ganz vielen Dörfern ist die Mitte als sozialer Raum verloren gegangen. Die Menschen sitzen in ihren privaten Gärten hinter hohen Hecken auf ihren Terrassen, aber haben keine sozialen Kontakte mehr. Und die Mitte des Dorfes, wo früher der Laden, das Wirtshaus und die Poststelle war, ist verwaist. Mit regenerativen Genossenschaften kann man die Dorfmitte wieder beleben, ohne dass die geschaffenen Betriebe finanzielle Gewinne erzielen müssen.

Neue Felder der Wertschöpfung

e: Die regenerative Genossenschaft scheint eine Erweiterung des Genossenschaftsgedankens über das Menschliche hinaus zu sein. Wir stehen in unserem Handeln mit dem Planeten Erde in Verbindung. Wir leben in einem Beziehungs- und Dialogverhältnis mit der Umwelt und Mitwelt, in der wir wirtschaften. Warum ist dabei das regenerative Element so wichtig?

TH: Nachhaltig ist nur eine schwarze Null. Ich habe eingesehen, dass ich nur eine gewisse Menge entnehmen darf, damit eine Landschaft nicht völlig abstirbt. Bio ist nur der Verzicht auf Giftstoffe und auf industrielle chemische Anbaumethoden. Das ist noch nicht gesünder, sondern macht nur weniger krank.

Gerade bricht uns die ganze Wertschöpfung im industriellen Sektor weg und wir brauchen dringend neue Felder der Wertschöpfung für die Gesellschaft. Das ist ein guter Zeitpunkt, um die Regeneration der Menschen, ihrer Lebensumgebung, der Umwelt zu einem Aspekt der Wertschöpfung zu ernennen und dort die neuen Jobs anzusiedeln.

Mitteleuropa und vor allem die Kolonialländer stehen heute in der Verantwortung, sich darüber klar zu werden, wie wir in Zukunft leben wollen. Wir können erkennen, dass ein regeneratives Lebensmodell eine Wertschöpfung ermöglicht, wodurch in Dörfern, in Vorstädten und überall da Arbeitsplätze entstehen, wo die Menschen sind. Das industrielle Lebensmodell hat zu Globalisierung und Zentralisierung geführt. Die Dezentralisierung ist eine riesige Möglichkeit der Wertschöpfung, weil nichts mehr über lange Wege transportiert werden muss.

¬ KONSUM ZIEHT IMMER KONKURRENZ UND VEREINZELUNG NACH SICH. ¬

e: Wenn du von der Wertschöpfung sprichst, können zwei sehr unterschiedliche Dinge damit gemeint sein. Das eine hat etwas mit unseren menschlichen Werten zu tun. Das andere ist das, was in einer Warenwirtschaft verrechenbar ist. Unsere kapitalistische Wirtschaft funktioniert so, dass eigentlich nur das geldmäßig Verrechenbare als Wertschöpfung gilt. Diese zwei Begriffe von Wertschöpfung stehen einander widersprechend gegenüber. Inwiefern haben regenerative Genossenschaften eine Antwort darauf?

TH: Indem sie noch den dritten Aspekt mit hineinnehmen, nämlich den Wert der Schöpfung. Und indem ein kollektiver Wirtschaftsraum entsteht, in dem man sich wieder darauf besinnt, was wirklich von Wert ist. Konsum zieht immer Konkurrenz und Vereinzelung nach sich. Der Mensch identifiziert sich mit Materie, die er aus dem Leben entnommen hat. Kollektive genossenschaftliche Räume der Wertschöpfung können hingegen dazu führen, dass Menschen sich wieder mit dem Lebendigen, das sie umgibt, identifizieren. Es gehört nicht mehr ihnen allein, sondern einem Kollektiv, mit dem sie ihre Werte und Emotionen teilen können.

Eine andere Form von Gewinn

e: Was ist in der Denkweise der Genossenschaften anders, dass es eine solche Transformation ermöglicht?

TH: Der wichtigste Unterschied ist, dass bei der regenerativen Genossenschaft auch der Gewinn maximiert wird, aber er wird anders beschrieben. In der Beschreibung des Gewinns zeigt sich die Identität der Gemeinschaft. Das ist ein sehr starkes, verbindendes Momentum. Was Menschen am meisten nährt, ist ihre Verbundenheit untereinander, die sozialen Kontakte, das Eingebettetsein in die natürliche Umgebung. Das sind die Gewinne, die regenerative Genossenschaften maximieren wollen, nicht allein die finanziellen Gewinne, die aber trotzdem fließen dürfen und müssen. Geld spielt eine Rolle, weil es die Passung und die Kompatibilität zum jetzigen System ermöglicht. Das ist auch wichtig, sonst ist man ein Traumtänzer und ist nicht mit der Wirklichkeit verbunden. Man akzeptiert das System, wie es gerade ist, auch mit der Art und Weise, wie das System die Werte beschreibt. Aber man setzt der Beschreibung weitere zusätzliche vergemeinschaftende Werte hinzu.

e: Es gibt im ökonomischen Diskurs die Unterscheidung zwischen Shareholder Values, also für die Aktionäre, und Stakeholder Values, also für alle beteiligten Akteure und Interessengruppen. Wenn wir uns genossenschaftlich organisieren, geht es nicht nur um die Shareholder und deren Profite. In Genossenschaften verbinden sich Menschen, um gemeinsam Werte zu maximieren. Wir als Menschen sind angefragt, uns darüber zu verständigen, was wir eigentlich miteinander in unserem Wirtschaften wollen.

TH: Ja, nehmen wir als Beispiel den Wert der Potenzialentfaltung. Wenn eine Ge­meinschaft versteht, dass ihr Wert dann steigt, wenn die Menschen in der Entfaltung ihrer Potenziale gefördert werden, dann ist das eine Wertschöpfung. Diese Wertschöpfung sieht man momentan nur deswegen nicht, weil sie nicht sichtbar gemacht wird. Unser momentanes industrielles System weist immer nur das aus, was ich privatisiere. Hier ist die Genossenschaft eine wunderbare Möglichkeit, um eine Alternative aufzuzeigen. Die Industrialisierung hat die Menschen bewusst in die Individualität getrieben, die im Grunde eine Pseudoindividualität ist, mit der wir gegeneinander im Wettbewerb stehen. Der isolierte Konsument ist der deutlich interessantere Konsument für die Industriegesellschaft als der verbundene, der zum Beispiel zu seinem Nachbarn rübergeht und sich den Akkuschrauber ausleihen kann, weil er funktionierende Sozialkontakte hat.

Sehnsucht nach der Wiederverbundenheit

e: Ist das, was du beschreibst, nicht einfach eine schöne Gutmenschen-Utopie? Gibt es handfeste Argumente, dass das genossenschaftliche Modell wirklichkeitsfähig ist?

TH: Wir reden hier nicht mehr über bestimmte Modelle, sondern praktische Handlungsoptionen in Gemeinschaften, die immer auch ihre eigenen Besonderheiten haben. Wir haben zum Beispiel eine Nahwärme-Versorgung für ein ganzes Dorf gebaut, das heißt, das Dorf besitzt gemeinsam eine zentrale Heizung. In einem anderen Dorf haben sich die Bewohner gemeinsam dazu entschlossen, ein Wirtshaus zu kaufen und zu erhalten, damit dieser Treffpunkt erhalten bleibt. Die Dividende, die sie bekommen, besteht darin, dass es den Ort gibt, wo sie ihr Bier trinken, ihre Spiele spielen, sich abends sehen können und wo ab und zu mal Konzerte stattfinden. Oder ich begleite gerade eine Gemeinschaft beim Kauf eines Klosters. Das sind Immobilien, die für keinen Investor interessant sind. Aber für Gemeinschaften, die in der Mitte einer Dorfgemeinschaft etwas entwickeln, sind es hochinteressante Immobilien, die sie jedoch mit keiner Bank finanziert bekommen. Es gibt mittlerweile mehr und mehr Menschen, die eine neue Qualität der Ökonomie aufbauen. Das können sie nicht auf Landes- oder Bundesebene oder auf internationalem Niveau, aber auf lokalem Niveau ist es möglich. Hier können sie lokale Handwerker, Landwirte oder den Bäcker involvieren.

¬ WAS MENSCHEN AM MEISTEN NÄHRT, IST IHRE VERBUNDENHEIT UNTEREINANDER. ¬

e: Es scheint gerade eine Renaissance von Genossenschaften zu geben. Würdest du dieser Einschätzung zustimmen? Wenn ja, was ist der Motor dafür?

TH: Ich glaube, es ist die Sehnsucht nach der Wiederverbundenheit, nach etwas, das wirklich dem Menschen dient. Wir haben in den letzten Jahrzehnten dabei zusehen müssen, wie uns ein Konzern nach dem anderen betrogen hat. Das betrifft auch etablierte Marken wie VW, die uns vorgemacht haben, wir würden im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen. Der VW-Skandal hat gezeigt, dass die Entscheidungen von reinen Konzerninteressen geleitet waren. Wir haben erkannt, dass wir in der industriellen Konsumgüterwelt nichts anderes sind als anonyme Faktoren.

Hier geht die Genossenschaft von Anfang an einen anderen Weg. Mit der Geburtsstunde der Genossenschaft in England wollte man ein Geschäftsmodell entwickeln, in dem die Moral genauso wichtig ist wie das Gewinnstreben. Jetzt ist es an der Zeit, neben der Moral und dem Gewinnstreben noch die Lebensdienlichkeit hinzuzunehmen. Ich glaube, dass die Genossenschaft als einzige Geschäftsform dazu in der Lage ist, die Ansprüche der neuen Zeit, die Ansprüche der Menschen aneinander, die Ansprüche an ihre Lebensumgebung und an die Qualität ihrer Beziehungen zu einem Raum der Wertschöpfung zu machen. In einer Genossenschaft haben alle Mitglieder ihren Vorteil auch dann, wenn kein Gewinn produziert wurde, weil er jenseits des Geldes liegt.

e: Du betonst immer wieder die Lebens­-dienlichkeit als verbindlichen Genossen­schaftswert. Das scheint mir die direkte Brücke zur regenerativen Orientierung der Genossenschaft zu sein. Was meinst du mit Lebensdienlichkeit?

TH: Die Genossenschaft ist ein sozialer Raum, in dem wir immer wieder herausfinden können, was wir gemeinsam in dieser ökonomischen Gemeinschaft als lebensdienlich ansehen. Das hält den Raum frisch. Wenn Projekte oder Genossenschaften gegründet werden, um ein konkretes Problem zu lösen, dann stirbt der Antrieb für die Genossenschaft in dem Moment, wo das Problem gelöst ist. Wenn ich aber ein Streben nach einem guten Leben oder nach einem lebenswerten Ort hineinnehme, dann kann ich mich immer weiter entfalten.

¬ IN EINER GENOSSENSCHAFT HABEN ALLE MITGLIEDER IHREN VORTEIL AUCH DANN, WENN KEIN GEWINN PRODUZIERT WURDE. ¬

Ich glaube nicht an die Grenzen des Wachstums. Mir konnte bis jetzt noch keiner nachvollziehbar erklären, warum es Grenzen des Wachstums geben soll. Erklär das mal dem Universum, das lacht mich ja aus. Es gibt vielleicht Grenzen für Wachstumsräume, die darauf ausgelegt sind, dass man anderen Lebensräumen die Lebendigkeit entzieht. Das kann ich verstehen. Wenn wir dem Planeten die Lebendigkeit entzogen haben, haben wir sie letztendlich auch uns selbst als Spezies entzogen. Wir Menschen haben die Möglichkeit, jetzt innezuhalten und zu verstehen, dass alles richtig war, was uns bis hierhin gebracht hat, aber dass wir jetzt einen neuen Weg gehen müssen.

Hier können wir als Gesellschaft den jungen Menschen neue und auch ganz materielle Werte zur Orientierung geben: Ihr sollt euch entfalten, ihr sollt glücklich leben können, und am besten lebt man glücklich in einer gesunden Lebensumgebung. Das ist Wert, alles andere ist nur eine Konstruktion.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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