Geschichtenerzähler verändern die Welt

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

October 26, 2015

Featuring:
Wade Davis
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Issue:
Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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Mit neuen Augen sehen lernen

Von Wade Davis stammen die meisten Fotografien in dieser Ausgabe. Als wir auf seine Arbeiten stießen, waren wir begeistert davon, wie er den Kulturen unserer Welt ein Gesicht gibt. In der Folge erfuhren wir etwas mehr über den Menschen, der diese Fotos auf seinen Reisen aufgenommen hat. Da wussten wir, dass wir ihn interviewen wollen. Wade Davis ist seit 15 Jahren »Explorer in Residence« beim »National Geographic« und wurde als eine »seltene Kombination aus einem Wissenschaftler, Forscher, Poeten und leidenschaftlichen Verteidiger der großen Vielfalt allen Lebens« bezeichnet. Seine Arbeit führte ihn unter anderem nach Ostafrika, Borneo, Nepal, Peru, Polynesien, Tibet, Mali, Benin, Togo, Neuguinea, Australien, Kolumbien, Vanuatu und Grönland. Wir sprachen mit Wade Davis über die Geschichte, die er der Welt mit seinen Fotos, Filmen und Texten erzählen will.

evolve: Sie sind Fotograf, Autor, Anthropologe und noch so einiges mehr. Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Wade Davis: Ich sehe mich in erster Linie als Geschichtenerzähler. Das meine ich jetzt nicht so leicht dahingesagt. Ich glaube, Politiker folgen und führen nur selten, und Polemiker können nicht überzeugen. Aber Geschichtenerzähler können die Welt verändern. Fotografieren, Filme machen und Schreiben sind für mich also eine Möglichkeit, Geschichten zu erzählen.

e: Wenn Sie sich auf eine Kultur einlassen und mit Ihren Fotos und Texten Geschichten erzählen, aus welcher inneren Haltung oder Einstellung kommen Sie dabei?

WD: Das Wunder einer anderen Kultur fasziniert mich jedes Mal. Um von anderen Kulturen willkommen geheißen zu werden, braucht man Empathie und Liebe. Die Dinge, die bewirken, dass ich in einer Stammesgesellschaft in Borneo willkommen bin, sind genau dieselben, die dazu führen, dass ich in Ihrem Haus in Frankfurt willkommen bin: gutes Benehmen, Selbstironie, Hilfsbereitschaft, essen, was auf den Tisch kommt, und schlafen, wo einem das Bett gemacht wird. Also ganz einfach ein anständiger Mensch sein. Und ich liebe die Menschen, daher habe ich eine naturgegebene Empfänglichkeit für das, was man tun und lassen sollte, um sich mit einer anderen Kultur zu verbinden.

Im Hinblick auf die Fotografie gibt es einige Fertigkeiten und technische Umstände, die man berücksichtigen muss. Robert ­Capa, der berühmte Fotograf, hat gesagt: »Wenn dir deine Fotos nicht gefallen, geh näher ran.« Die meisten Fotografen halten sich weit entfernt von ihrem Motiv. Und wenn sie versuchen, näher zu kommen, benutzen sie ihre Kamera wie eine Waffe, als ob sie eine aggressive Intervention durchführen würden. Ich habe von ein paar wunderbaren Freunden und Kollegen beim »National Geographic« gelernt: Halte die Kamera bereit, wisse Bescheid, kenne die Lichtverhältnisse, habe die Verschlusszeit im Kopf – und dann komm vorsichtig in eine Szene und sei wie ein Falke: Mach das Foto und verlasse die Situation wieder. Halte dich nie länger als nötig in einer Situation auf. Es ist wie beim Tanzen, wie bei einem Ritual, du stehst nicht still, du bewegst dich, du beobachtest. Auf diese Weise sieht man ständig neue Dinge zum Fotografieren, auf diese Weise wird man aber auch nicht zur bedrohlichen Figur. Ich berücksichtige auch immer genau die Toleranzgrenzen einer Kultur in Bezug auf Privatsphäre und körperliche Berührung.

Die vielen Stimmen hören

e: Welche Geschichte wollen Sie erzählen?

WD: An der Uni hatte ich das große Glück, in den Dunstkreis zweier bedeutender, wunderbarer Mentoren zu kommen, einer war Anthropologe und der andere Botaniker. Dadurch wurde mir zutiefst bewusst, dass dieselben Kräfte, die auf die biologische Vielfalt einwirken, auch die kulturelle Vielfalt beeinflussen. Und ich hatte den Eindruck, dass die Themen, die ich studierte und die ich auf meinen Reisen kennenlernte, zu wichtig sind, als dass sie nur an den Universitäten Gehör finden. Mir ist es sehr wichtig, die Erkenntnisse der Anthropologie in die Welt zu tragen.

Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Kurz nach dem 11. September 2001 war das Treffen der Amerikanischen Anthropologischen Gesellschaft in Washington. 4000 Anthropologen kamen in der Hauptstadt zusammen, unmittelbar nach einer der größten kulturellen Erschütterungen, die Amerika je erlebt hat. Erstaunlicherweise blieb es jedoch nahezu unbemerkt. Im Feuilleton der »Washington Post« gab es einen kurzen Text, der in etwa sagte: »Die Spinner sind wieder da.« Man fragt sich: Wer ist kurzsichtiger – die Regierung, weil sie nicht auf die eine Berufsgruppe hört, die eine kluge Antwort auf die Frage geben konnte, die damals vielen Amerikanern auf der Zunge lag: Warum hassen sie uns? Oder dieser Berufsstand, weil er nicht die Fähigkeit hat, sich außerhalb der eigenen akademischen Grenzen an die gesamte Bevölkerung zu wenden? Das ist ein Beispiel für das Dilemma der Anthropologie, denn sämtliche Weltprobleme entstehen aus dem Zusammenstoß unterschiedlicher Kulturen. Das ist also meine Mission, die speziell in meiner Arbeit für den »National Geographic« zum Ausdruck kommt.

Wade Davis bei einem Treffen des Dalai Lama mit südamerikanischen Ureinwohnern.

Es ist eine allgemein akzeptierte Tatsache, dass von den 7000 Sprachen, die zur Zeit unserer Geburt gesprochen wurden, die Hälfte keinem Kind mehr beigebracht wird. Das heißt, sie sind zum Aussterben verurteilt. Das wiederum bedeutet, die Hälfte ökologischen, philosophischen und spirituellen Wissens der Menschheit verschwindet im Laufe einer Generation. So traurig das ist, führt doch zur selben Zeit die Genetik den Beweis, dass die Hoffnung des Gründervaters der amerikanischen Anthropologie, Franz Boas, zutrifft: Wir sind tatsächlich alle Schwestern und Brüder – das meine ich nicht irgendwie hippiemäßig. Untersuchungen des menschlichen Genoms lassen keinen Zweifel daran, dass die genetische Ausstattung der Menschheit ein Kontinuum darstellt – Rasse ist reine Fiktion. Wenn wir alle über ein und dieselbe genetische Ausstattung verfügen, haben wir alle Anteil an demselben Genius; ob sich dieser Genius nun in technischen Wunderwerken ausdrückt – der großen Leistung des Westens – oder darin, die Erinnerung in einem Mythos zu vergegenwärtigen. Die Genetik zeigt uns zusammen mit der Anthropologie eine erstaunliche Bestätigung des wunderbaren menschlichen Geistes: Jede Kultur hat eine wichtige Stimme, die es verdient, gehört zu werden. Jede Kultur ist eine einzigartige Antwort auf die Frage: Was heißt es, Mensch zu sein? Die Völker der Erde beantworten diese Frage mit 7000 verschiedenen menschlichen Stimmen. Diese Stimmen zusammengenommen sind das Repertoire der Menschheit, um mit den Schwierigkeiten zurechtzukommen, die auf uns als Spezies in den kommenden Jahrhunderten zukommen.

Pluralismus und Integration

e: Wie sehen Sie die Bedeutung der Kultur in einer Zeit, in der wir durch die Globalisierung Zugang zu allen Kulturen der Welt haben und diese sich immer mehr annähern und verbinden?

WD: Man hört oft die Meinung, dass Anthropologen versuchen, Kulturen in ihrem jetzigen Zustand zu erhalten. Nichts liegt der Wahrheit ferner. Anthropologen interessieren sich immer für die Dynamik der Kulturen, und das schließt den beständigen Wandel von Kulturen ein. Es geht also nicht um den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne, es geht um das Recht freier, unabhängiger Menschen, ihr Leben zu gestalten. Das Ziel ist nicht, Menschen in einer bestimmten Zeit einzufrieren wie ein zoologisches Ausstellungsstück. Die Frage ist: Wie können wir allen Völkern der Welt einen Zugang zum Besten der Moderne ermöglichen – dem Besten von Wissenschaft und Medizin – aber, und das ist entscheidend, ohne ihnen ihre Besonderheit als Volk abzusprechen?

Die wichtigste Erkenntnis der Anthropologie besagt, dass Kultur nichts Banales ist, nicht nur Dekoration. Es geht nicht nur um die Gebete, die Lieder, die Trachten. Im Tiefsten ist eine Kultur ein Korpus von moralischen und ethischen Werten, mit denen die jeweilige Gesellschaft die Menschen umgibt, um uns vor unseren barbarischen Impulsen zu schützen, die tief in jedem Menschen verborgen liegen. Schauen wir uns die Erfahrung der Deutschen an: Das zivilisierteste Volk Europas wurde das barbarischste. Es war ein Zusammenbruch all der kulturellen Hemmungen, der sich aufgrund bestimmter historischer Umstände und aufgrund der Tragik des Ersten Weltkriegs ereignete. Aber die Deutschen sind nicht einzigartig, was die Fähigkeit zur Barbarei angeht. Wir sind alle dazu fähig. Menschen sind zu den schrecklichsten Handlungen genauso fähig wie zu Handlungen aus Güte und Würde. Die Kultur ermöglicht es uns, unseren Erfahrungen Sinn zu geben, eine Ordnung im Universum zu finden und die Güte, die auch Teil unseres Wesens ist, zum Ausdruck zu bringen. Um zu sehen, was passiert, wenn die Grenzen der Tradition und Kultur wegfallen, müssen wir nur auf die Orte schauen, wo heute politisches Chaos und Leid das Leben vieler Menschen bedrohen. Kultur ist nichts Nostalgisches, es geht um geopolitische Stabilität, ums Überleben. Heute stellt sich für uns alle die Frage: Wie können wir uns mehr und mehr in Richtung einer wechselseitig verbundenen, pluralistischen Welt bewegen?

¬ EIN FLUCH DER MENSCHHEIT IST SEIT JEHER DIE KULTURELLE KURZSICHTIGKEIT, DAS ETHNOZENTRISCHE DENKEN. ¬

e: Ja, wie schaffen wir das? Wie entwickeln wir diese pluralistische Welt?

WD: Kulturen verändern sich ständig. Kulturen tanzen immer mit den neuen Möglichkeiten des Lebens, das macht die Sache so spannend. Manchmal wirft man den Anthropologen übergroßen Relativismus vor. Als ob jede kulturelle Praxis zu verteidigen wäre, nur weil es sie gibt. Dann könnte man beispielsweise die eigenartige »Religion« der Nazis als legitime Kultur betrachten. Natürlich nicht. Die Anthropologie fordert keineswegs, das Urteilen abzuschaffen – sie will es bewusster tun, damit die Urteile, die zu treffen wir als Menschen ethisch und moralisch verpflichtet sind, fundiert sind. Kein Anthropologe würde zögern, die Nazis zu verurteilen. Auf der anderen Seite erweist sich die anthropologische Perspektive als hilfreich, wenn wir beispielsweise Voodoo betrachten, die legitime Religion Westafrikas. Aus rassistischen Gründen wurde Voodoo als schwarzmagischer Kult abgelehnt und vom Westen entsetzlich ausgebeutet.

Der größte Fluch der Menschheit ist seit jeher die kulturelle Kurzsichtigkeit, das ethnozentrische Denken: die Vorstellung, dass meine Welt die eigentliche Welt ist und all die anderen jenseits der Berge nur »Wilde« sind. Das Wort »Barbar« kommt vom griechischen Wort barbaros; wer nicht Griechisch sprach, war kein vollwertiger Mensch. Die Azteken hatten exakt dasselbe Konzept in ihrer Sprache. Ja, die meisten Namen, mit denen die amerikanischen Ureinwohner ihr eigenes Volk bezeichnen, lassen sich mit »Menschen« übersetzen, das heißt, die vom anderen Stamm jenseits der Berge sind Wilde, keine vollwertigen Menschen. Eine solche Haltung können wir uns in einer integrierten multikulturellen, pluralistischen Welt nicht mehr leisten.

Was wir uns aber auch nicht mehr leisten können, ist unser moderner Lebensstil. Schauen wir uns beispielsweise die moderne amerikanische Vorstellung des Exzeptionalismus an, die Vorstellung, nach der die USA eine Sonderstellung innerhalb der entwickelten Industrienationen einnehmen. Wenn ein Anthropologe vom Mars in die USA käme, würde er sicher wunderbare, technisch geniale Sachen sehen, aber wenn er die sozialen Strukturen untersuchte, würde er sicher ein paar kritische Fragen stellen zu Themen wie Scheidungsrate, Polizeigewalt, epidemisches Übergewicht oder die Art, wie Kinder und Alte behandelt werden. Fügen wir dem noch ein Wirtschaftssystem hinzu, das wirtschaftliches Wohlergehen gleichsetzt mit unbegrenztem Wachstum auf einem endlichen Planeten, dann sehen wir die Logik des Irrtums.

Das heißt nicht, dass die USA nicht ein wunderbares Land sind, aber sie stellen nicht unbedingt die höchste Entfaltung des menschlichen Potenzials dar – was auch auf Deutschland oder die Yanomami oder Haitianer zutrifft. Es geht also nicht um den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne. Wir müssen eine neue, inte­grierte Art des Zusammenlebens auf diesem Planeten finden. Die indigenen Völker dieser Erde lehren uns durch die Existenz ihrer dramatisch anderen Denk- und Lebensweisen, kulturellen Realitäten und Sinngebungen, dass diejenigen in unserer Gesellschaft Unrecht haben, die glauben, unsere Lebensweise sei die einzig mögliche. Wir alle wissen, dass wir den Umgang mit unserem Planeten grundlegend verändern müssen.

Entdecker werden

e: Eine tiefere Verbindung mit dem Leben, mit der Menschheit und mit der Welt ist auch das Ziel vieler spiritueller Traditionen. Folgen Sie einem bestimmten spirituellen Weg?

WD: Ich wurde als frommer Christ erzogen. Ich bin in Kanada aufgewachsen und als ich verstand, was die Missionare den Ureinwohnern angetan haben, wurde ich ziemlich desillusioniert. Als Kind der 60er zog mich die Anthropologie an, weil ich einer Welt entfliehen wollte, in der es in meinen Augen so viele Probleme gab: Umweltverschmutzung, soziale Ungerechtigkeit, Rassenunterdrückung und die Benachteiligung von Frauen, Schwulen und Lesben. Aber es ging mir auch um die Suche nach Antworten auf die großen Fragen, wie zum Beispiel: Was bedeutet es, Mensch zu sein? An entfernten Orten hoffte ich, den Zauber des Menschseins wieder beleben zu können. Mein Weg als Anthropologe bestand immer darin, das Wunder des anderen zu umarmen und wertzuschätzen, um unser gemeinsames Menschsein tiefer zu verstehen.

e: Wie sehen Sie die Zukunft unserer Erde, unserer Kultur?

WD: Während meiner Lebenszeit sind so viele positive Dinge geschehen. Noch in 5000 Jahren werden die Menschen über diesen Moment am Heiligabend 1968 sprechen, als Apollo den Mond umrundete und die Menschheit die Erde am Horizont aufgehen sah – als blauer Planet, der in der samtenen Leere des Alls schwebt. Und vor Kurzem hat die Wissenschaft eine noch größere Offenbarung enthüllt, die ich vorhin schon erwähnt habe: der Beweis, dass Rasse eine Illusion ist. Wir alle bestehen aus demselben genetischen Material, wir sind alle Brüder und Schwestern. Wie eine Welle der Erleuchtung haben diese Ereignisse unser Bewusstsein transformiert und unsere Kultur verändert.

In meiner Lebensspanne haben es Frauen aus der Küche in die Vorstandsetage geschafft, Schwarze aus der Holzhütte ins Weiße Haus, Schwule und Lesben von der Bar zum Altar. Wie könnte man eine Welt nicht lieben, in der solche wissenschaftlichen Durchbrüche möglich sind und die sich so wandeln und erneuern kann?

Oder schauen Sie sich Deutschland an: Vergleichen Sie das, was die Deutschen in den 40er Jahren gemacht haben, mit dem, was ihr heute tut, mit eurem herzlichen Empfang für die syrischen Flüchtlinge.

Pessimismus ist Passivität, orthodoxe Ideen verhindern die Erneuerung, Verzweiflung verletzt unsere Gabe der Imagination. Kreativität ist eine Folge des Handelns, nicht deren Motivation. Tu, was getan werden muss, und frage dann erst, ob es möglich war. Die Natur liebt Mut. Jim Whittaker, der als erster Amerikaner den Mount Everest bestieg, sagte mir einmal: »Wenn du nicht an der äußersten Kante deiner Möglichkeiten lebst, dann nimmst du zu viel Raum ein.« Träume das Unmögliche und die Welt wird dich nicht hinabziehen, sondern dich emportragen. Das ist die große Überraschung, die Botschaft der Heiligen. Du wirfst dich in den Abgrund und merkst, dass du weich landest, wie in einem Federbett.

¬ KULTUR IST NICHTS BANALES, SIE IST NICHT NUR DEKORATION. ¬

Author:
evolve
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